Die Geste hat etwas zutiefst Symbolträchtiges: Einst führte die Hand des Meisterfechters Matthias Behr das Florett. Nun liegt sie beruhigend auf der Schulter des sechsjährigen Evgenii, der mit Vater und Bruder aus der Ukraine floh – ausgerechnet zum 67-jährigen Behr nach Tauberbischofsheim.
Dessen Hand hat Evgeniis Großvater, Wladimir Smirnow, 1982 unverschuldet den Tod gebracht - bei einem tragischen Unfall im Duell zweier Weltklasse-Fechter. Vier Jahrzehnte später hält der hünenhafte Behr nun schützend seine Hand über die Enkel seines toten Gegners. Für sie ist es nach der Flucht vor den russischen Granaten ein Hoffnungsschimmer - für Matthias Behr, in dessen Athleten-Körper nach dem Unfall jahrelang eine wunde Seele litt, ist es ein Stück Erlösung.
Ihn habe lange die Erinnerung an den Unfall vom 19. Juli 1982 in Rom gequält, sagt Behr. Wie er und Wladimir Smirnow, der damalige Weltmeister aus der Ukraine, beim Viertelfinale der WM im Gefecht aufeinander zustürzen, wie Behrs Klinge an Smirnows Brust bricht und durch die poröse Maske ins Auge des Gegners dringt. Smirnow bricht zusammen und Behr irrt zunächst entsetzt durch die Halle.
Behr ist in Gedanken bei der Familie seines toten Gegners Wladimir Smirnow
Behr gibt danach sich die Schuld, obwohl er nichts für den Unfall kann. Neun Tage später stirbt Wladimir Smirnow im Spital in Rom. Matthias Behr wird die Szene nie mehr aus dem Kopf bekommen. Sie verfolge ihn wie ein Dämon.
Was den heutigen Rentner lange Zeit besonders quält: Der Gedanke, dass die Kinder von Smirnow – wie er selber – ohne Vater aufwachsen müssen. Das hat den jungen Matthias Behr geprägt und in die Arme von Fechttrainer Emil Beck getrieben, dem fanatischen "Goldschmied von der Tauber", der die kleine Stadt Tauberbischofsheim mit seinen Erfolgen als Cheftrainer zu einer Hochburg des Fechtsports machte.
Auch nach dem tragischen Unfall ist für Beck vor allem Behrs Erfolg wichtig - für Befindlichkeiten ist keine Zeit. Der Trainer müht sich, seinen gequälten Meisterschüler zurück in die Erfolgsspur zu bringen. Behr gehorcht, schreibt aber auch Smirnows Witwe zahlreiche Briefe nach Kiew. Eine Antwort erhält er nie.
Matthias Behr tritt in die Fußstapfen von Emil Beck in Tauberbischofsheim
In den folgenden Jahren hilft Behr zumindest ein wenig das Bewusstsein, dass Smirnows Unglück den Fechtsport sicherer gemacht hat. Seither werden die Klingen aus einer nahezu kohlenstofffreien und hochfesten Stahllegierung hergestellt, die Masken und Schutzwesten wurden verstärkt.
Matthias Behr beißt die Zähne zusammen, lässt sich überzeugen, weiter zu fechten. Insgesamt 16 Medaillen erkämpft sich der heute 67-Jährige, wird Weltmeister und Olympiasieger. Er gehört zu jenen Sportlerinnen und Sportlern, die Tauberbischofsheim zum Zentrum des Fechtsports machen und Trainer Emil Becks Ruf zementieren.
Am Ende wird er Becks Nachfolger - jedoch ohne dessen kompromisslose Fixierung auf das Fechten. Denn für Matthias Behr gibt es längst Wichtigeres: Seine Familie, die Liebe zur Weltklassefechterin Zita Funkenhauser und zu den zwei gemeinsamen Töchtern, seinen Kindern aus erster Ehe, Freunde und das Leben jenseits des Fechtzentrums. Da ist aber auch der Kampf gegen die Schatten der Depression.
Matthias Behr hat zu kauen an den hochgesteckten Erwartungen an ihn, auch die Erinnerung an den Unfall will nicht weichen. In einem Buch bekennt er zwei Jahrzehnte späterganz offen, was zuvor nur wenige wussten: Er habe sich das Leben nehmen wollen, sei schon zum Sprung bereit auf einer Autobahnbrücke gestanden. Im letzten Moment scheut er davor zurück, sucht sich Hilfe – und findet sie.
Emma Smirnova bittet in herzzerreißendem Brief um Hilfe
Und plötzlich gibt ihm das Leben das, was die Wiener ein "Zuckerl" nennen: Behr bekommt 2017 von einem Journalisten die Adresse von Emma Smirnova - der Witwe seines toten Gegners - in der Ukraine. Sie telefonieren - und Emmas Worte sind wie ein Freispruch für ihn: "Wir waren nie der Ansicht, dass Sie eine Schuld trifft."
Behr fliegt in die Ukraine, steht an Smirnows Grab und wird von dessen Familie aufgenommen - als gehöre er dazu. 2019 zeigt er Emma dann beim Gegenbesuch Würzburg und das Taubertal. Die Geschichte, die nach Happy End klingt, sorgt deutschlandweit für Aufsehen.
Doch sie ist noch nicht zu Ende: Im Frühjahr 2022 werden die Nachrichten aus der Ukraine immer besorgniserregender. Emma Smirnova schreibt an Matthias Behr: "Gott sei Dank haben sie uns noch nicht erreicht, aber wir hören Explosionen in der Nähe, es ist sehr beängstigend."
Anfang März hält Matthias Behr dann eine weitere Nachricht von Smirnows Witwe in Händen, die ihn mitten ins Herz trifft: "Matthias, kannst du meine Enkel aufnehmen? Ich habe niemanden, dem ich das Kostbarste lieber anvertrauen würde als Dir – meine Kinder", bittet sie den Mann, den sie fünf Jahre zuvor erstmals getroffen hatte. "Das war keinen Moment lang die Frage", sagt Behrs Frau Zita Funkenhauser. Sie kennt die Situation aus eigener Erfahrung: "Wir sind doch selbst 1979 aus Rumänien gekommen - mit nichts als einem einzigen Koffer in der Hand."
Emma Smirnovas Schwiegersohn und die zwei Enkel fliehen vor dem Krieg in der Ukraine
Und so machen sich Emma Smirnovas Schwiegersohn Andrii Berendson (43) und die beiden Enkel Artemii (16) und Evgenii (6) Mitte März auf die beschwerliche Reise durch die Ukraine und Polen bis nach Tauberbischofsheim. Fünf Tage sind sie unterwegs, bis sie Matthias Behr endlich empfangen kann. Smirnova kann nicht mit nach Deutschland kommen - sie muss sich in der Ukraine um einen schwerkranken Verwandten kümmern.
Tag und Nacht ist der 67-Jährige für die drei Geflüchteten unterwegs: Denn von der behördlichen Anmeldung über die Krankenversicherung bis zum Deutschkurs sind zig Sachen zu erledigen – und immer kümmert sich Matthias Behr, der viele Menschen kennt - was die Organisation erleichtert.
Inzwischen haben die drei Ukrainer sogar eine eigene kleine Wohnung, die Behr besorgt hat. Sie würden regelmäßig nach Hause telefonieren oder schreiben, erzählt Andrii Berendson. Nachts würden ihre Verwandten in der Ukraine sicherheitshalber ihre Häuser verlassen und in den unterirdischen Bahnhöfen der U-Bahn Schutz vor Bomben und Raketen suchen.
Andrii Berendson will so schnell wie möglich Arbeit finden und Deutsch lernen
In Tauberbischofsheim können sich Andrii, Artemii und Evgenii unbesorgt und frei bewegen, auch wenn ihnen noch Vieles fremd ist. Zwei Dinge sind für den 43-jährigen Vater am wichtigsten: "Sprache lernen" und "Arbeit finden", sagt er dieser Redaktion bei einem von Behr arrangierten Treffen. Doch zwischen Schule und Umzug ist das gar nicht so einfach. Aber dann sitzen die drei doch am Mittagstisch, ganz entspannt und endlich ohne Angst vor dem Krieg, der weit weg scheint.
Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen Behr und Andriis Söhnen. Doch alle vier eint eine große Leidenschaft: Das Fechten war dem kleinen Matthias nämlich nicht in die Wiege gelegt worden. Er spielte – als er so alt war wie der sechsjährige Evgenii – leidenschaftlich gerne Fußball.
Der 16-jährige Artemii trainiert jetzt mit den Würzburger Kickers
Über dieses Thema können sie sich problemlos verständigen, obwohl die Unterhaltung mit einem Gemisch aus Ukrainisch, Englisch und immer mehr Brocken Deutsch munter vor sich hin stolpert. Vater Andrii war nach eigenen Angaben als Trainer und Talentscout für einen Verein der Ersten Liga in der Ukraine tätig.
Und sein 16-jähriger Sohn Artemii, inzwischen fast schon so groß wie der 1,94 Meter große Behr, spielt auf hohem Niveau Fußball - in der U-17-Auswahl der Ukraine und beim FC Dinaz als Verteidiger, erklärt er auf Nachfrage. Behr lobt die Stärken des 16-Jährigen, "sein Kopfballspiel, seine Übersicht, wenn er die Bälle verteilt". Artemii hofft, bei einem Verein in der Region Fuß fassen zu können.
Gerade hat er hier den Fitnesstest bestanden, viermal pro Woche fährt er zum Training zu den Würzburger Kickers. Aber sein Ehrgeiz geht weiter, in Richtung Bundesliga: "Voraussichtlich im Juni will er sich bei der TSG Hoffenheim präsentieren", sagt Behr stolz und Artemii nickt bestätigend.
Der frühere Fußballtrainer Andrii weiß, wie wichtig es jetzt für ihn ist, Deutsch zu lernen. Sein Unterricht findet per Video statt, der Lehrer ist ein alter Bekannter: Der ehemalige BVB-Fußballprofi Vladimir Bogdanov. Auch er ist aus Kiew geflohen und lebt jetzt in Dresden.
Ums "Organisatorische" für die drei Ukrainer kümmert sich Matthias Behr liebevoll bis ins Detail. Mit dem sechsjährigen Evgenii war er sogar kürzlich bei dessen erstem Elterngespräch. "Das hast du bei keinem deiner eigenen Kinder geschafft", spottet Ehefrau Zita Funkenhauser lachend.
Wie der Enkel beim Fechten an den Großvater erinnert
Mit dem Sechsjährigen besuchte Behr auch das Fechtzentrum in Tauberbischofsheim – dort hatte Evgenii zum ersten Mal im Leben ein Florett in der Hand. Da stiegen bei Matthias Behr Erinnerungen hoch: "Ich musste daran denken, was für ein großartiger Fechter sein Opa war – ein Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister."
"Das Herz muss Hände haben, die Hände ein Herz", zitiert der 67-Jährige eine tibetische Weisheit. Es bedeute ihm viel, gerade dieser Familie helfende Hände reichen zu können. Er mache das nicht für die Schulterklopfer. Er habe – auch dank der versöhnenden Begegnung mit Smirnows Witwe Emma - längst seinen Frieden gemacht mit der Vergangenheit.
Aber natürlich tue ihm die öffentliche Anerkennung gut, die ihm daheim in Tauberbischofsheim entgegenschlägt, wenn er mit "seinen" drei Ukrainern unterwegs ist. Zwar wurde dem umtriebigen Behr auch zuvor nicht langweilig - mit der "Beschaulichkeit des Rentner-Daseins" ist aber spätestens seit seinem Einsatz für geflüchtete Menschen Schluss.
Plötzlich ist Matthias Behr wieder ein gefragter Interview-Gast
Behr und Funkenhauser sind aufgrund ihres Engagements und der berührenden Familiengeschichte aktuell gefragt wie in den goldenen Tagen des Fechtsports: "Behr versöhnt sich mit seiner tragischen Geschichte", berichtet etwa der TV-Sender RTL. "Behr durch Aufnahme ukrainischer Flüchtender mit dem Schicksal versöhnt", titelt die Tageszeitung "Die Welt".
Matthias Behr genießt die Situation lächelnd, bedeuten würde ihm die Aufmerksamkeit aber nichts - anders als die Briefe von Emma Smirnova aus Kiew, die versucht, regelmäßig in Kontakt zu bleiben: "Die Kinder sind froh, dass sie bei Dir sind", schreibt sie in einer ihrer letzten Nachrichten. "Sie schätzen deine väterliche Haltung ihnen gegenüber sehr." Und dann schreibt sie: "Gott segne dich."