Es ist, als freue sich selbst der Himmel über diese Begegnung: Unerwartet weicht der Regen, die Sonne zaubert ein mattes Gold auf die wuchtige Fassade der Würzburger Residenz. Emma aus Kiew mustert die mächtigen Mauern. Dann lächelt sie dem Mann zu, von dessen Florett vor 37 Jahren ihr Wladimir getötet wurde. Und Matthias Behr – den dieser Tod so lange gequält hatte – kriegt plötzlich dieses Lausbubenlächeln ins Gesicht, das er sich auch mit 64 Jahren bewahrt hat.
Sie wissen beide um diesen magischen Moment: Die Mauern, die sie für diese Begegnung im Frühsommer 2019 überwinden mussten, waren viel höher als die der Würzburger Residenz – aber nun stehen sie beide hier, die Ukrainerin und der Deutsche, angekommen nach einer langen Reise zu sich selbst.
Während Emma und ihre Familie der russischen Fremdenführerin lauschen, wird Behr gefragt, wie er sich fühle. Der schließt die Augen, hört in sich hinein, sagt: "Es ist die Erfüllung eines weiteren Traums." So friedlich wirkt sein Gesicht – im Gegensatz zu dem anderen, das auf ewig mit dem Namen des Ausnahmefechters verbunden ist: Wie der junge Topathlet mit ungläubig aufgerissenen Augen ins Leere starrt, vor 37 Jahren in der Fechthalle in Rom. Hin und her läuft, das Gesicht in den Händen verbirgt. Dann wieder entsetzt und hilflos zu den Helfern schaut, die neben der Fechtbahn knien. Weltmeister Wladimir Smirnow, Emmas Mann, liegt blutend dort am Boden.
Tragische Begegnung in Rom
Behr wird später den Moment verfluchen, als sich die beiden Meister im Florett gegenüberstanden, im Viertelfinale der WM an jenem unseligen 19. Juli 1982. Zwei Top-Athleten kreuzen die Klingen, stürzten aufeinander los. Behrs Klinge zerbricht an Smirnows Brust, bohrt sich durch die poröse Maske in Smirnows Kopf.
Die Fechtwettbewerbe werden fortgesetzt. Ohne Smirnow. Ohne Behr, der sich quält, obwohl ihm viele versichern, dass ihn keine Schuld trifft. Die Deutschen verlieren. Die Sowjets werden Weltmeister. Neun Tage später stirbt Wladimir Smirnow im Spital in Rom.
Außer Ayrton Sennas Formel-1-Crash gibt es wohl keinen Sportunfall, der so häufig gezeigt worden ist. Und wie der eine vehemente Forderungen nach mehr Sicherheit im Rennsport hervorruft, sorgt der andere dafür, dass Unfälle wie dieser beim Fechten nicht mehr vorkommen. Das tröstete Behr zumindest ein wenig. "So war mein Unfall doch noch zu etwas nütze." Aber der Sportler, in dessen bärenhaftem Körper eine sensible Seele schlummert, wird die Szene nie mehr aus dem Kopf bekommen. Sie verfolgt ihn wie ein Dämon.
Behr will zur Beerdigung nach Kiew reisen. Aber er hat Angst, dass manche mit dem Finger auf ihn zeigen. Was ihn besonders quält: Der Gedanke, dass die Kinder von Smirnow – wie er selber – ohne Vater aufwachsen müssen. Das hat den jungen Matthias Behr geprägt und zu Beck getrieben, diesem autoritären Ersatzvater, für den es nichts gibt außer Fechten.
Emma ist damals 27 Jahre alt und schwanger. Behr schreibt der Witwe einen Brief nach Kiew – und erhält keine Antwort. Im Lauf der Jahre schreibt er viele weitere – und ahnt nicht, dass sie von Funktionären zurückgehalten werden, denen eine versöhnliche Geste nicht in den Kram passt. Der Ausnahme-Sportler will mit dem Fechten aufhören. Doch Beck, sein Übervater im Guten wie im Bösen, überzeugt ihn vom Gegenteil. Also greift er wieder zur Klinge, um eine Aufgabe zu haben, die ihm beim Vergessen hilft. Ein Jahr später wird Behr in Wien mit dem Team Weltmeister.
"Es muss etwas passieren"
Das Konzentrieren auf das Fechten hilft. 16 Medaillen erkämpft er sich, wird Weltmeister und Olympiasieger. Behr und andere machen Tauberbischofsheim zum Mekka der Musketiere. Doch der Unfall geht ihm nicht aus dem Kopf. Das Leben zwingt ihm andere Gefechte auf, zuoberst die gnadenlose Erwartungshaltung Becks, der von seinen Zöglingen erwartet, alles andere dem Fechten unterordnen.
Und doch lässt ihn die Frage nicht los: "Wie geht es Smirnows Familie damit?"
Eh schon angekratzt, hadert er mit sich, mit der Scheidung von seiner ersten Frau, dem plötzlichen Tod der Mutter, am Zerwürfnis mit Beck, der enttäuscht ist, dass Behr auch andere Dinge wichtig nimmt. Und Emma? Die ahnt irgendwie, dass sich dieser lange Deutsche Vorwürfe macht wegen Wladimirs Tod – grundlos, denkt Emma.
Was lange keiner weiß, Behr treibt auf die innere Verzweiflung zu. Viele Jahre später schreibt er ehrlich in ein Buch: Er will sein Leben beenden. Auf einer Autobahnbrücke will er schon springen, als ihn ein Gedanke durchzuckt: "Was, wenn ich durch meinen Sprung jemanden mit in den Tod reiße? Jemanden töte, obwohl ich das nicht will?" Er klettert zurück, sucht sich Hilfe – und findet sie. Und wieder versucht er, Smirnows Witwe Emma zu finden.
Vergebliche Versuche, Kontakt aufzunehmen
Als er schon nicht mehr an den Erfolg glaubt, kommt 2017 der Anruf des Journalisten Michael Dittrich. Der recherchiert gerade für einen Dokumentarfilm über Behr. "Sitzt Du? Ich habe die Telefonnummer von Emma Smirnowa. Sie will mit dir sprechen." Behr ist sprachlos, nur kurz. Wenige Tage später ruft er mit Hilfe einer Dolmetscherin Emma Smirnowa an. Er redet, sie redet – wichtige Worte: "Ich möchte Ihnen sagen, dass wir nie der Ansicht waren, dass Sie eine Schuld trifft." Er weint, sie weint. Sie lädt ihn nach Kiew ein.
"Matthias, Du trägst keine Schuld!"
Am 8. Juni 2017 steigt er in Frankfurt ins Flugzeug – ganz allein wie beim Fechten. Das muss er allein austragen, mit seinem Dämon und mit Emma. Auf was er hofft? Zumindest erklären zu dürfen, wie das alles kam. Dann steht der 1,95-Schrank vor der einen Kopf kleineren Frau mit dem wissenden Lächeln im Gesicht. Sie redet nicht viel, kommt schnell auf den Punkt. Matthias Behr erntet viel mehr, als er erhofft hatte. Er lernt Smirnows Kinder kennen, Emmas neuen Mann und ein erstes Wort auf ukrainisch: Sim'ya heißt Familie, ein wichtiges Wort in Emmas wie in Behrs Leben. An Wladimir Smirnows Grab sagt sie ihm noch einmal: "Matthias, du trägst keine Schuld!"
Dieser Satz "kam mir wie eine Erlösung vor", sagt Behr nach seiner Rückkehr. Vier Tage verbrachte er bei Emmas Familie, kein böses Wort fällt gegen ihn. Auch das haben sie gemeinsam: Emma litt auch an Depressionen nach dem Tod ihres Mannes.
Behr wirkt wie umgewandelt, fröhlich statt verbissen mit sich und seiner Umwelt hadernd, wie man ihn zuletzt als Leiter des Olympiastützpunktes Fechten erlebt hatte. Er genießt die wiederkehrende Wertschätzung, als die Medien die Geschichte dieser Odyssee zwischen Ost und West aufgreifen. Plötzlich sind Emma und er ein Beispiel dafür, wie Gräben überwunden werden können.
Emma im Fechtzentrum
Es tut dem zuletzt Geschmähten gut am Ende seiner Karriere, mit solchen Schlagzeilen die Tür zu dem Teil seines Lebens hinter sich schließen zu können – nicht mit der kleinlichen Intrige, in die ihn manche 2017 noch hineinziehen wollten.
Emmas Gegenbesuch nun macht die Geschichte perfekt. Sie will das Fechtzentrum sehen, um das sich so lange Behrs Leben gedreht hat. Er führt sie entlang der "Wall of Fame", die Ruhmeswand, die an die großen Erfolge erinnert. Hier hat er im vorigen Jahr ganz still seinen Schreibtisch geräumt. Auf eine große Abschiedsgala hat er verzichtet, verlogene Komplimente wollte er sich sparen. Nun ist er nur noch Besucher – mit Emma, ihrem Mann und ihrem 13-jährigen Enkel Artimje.
"Am Anfang war das alles etwas schwierig", erzählt Emma von den ersten Telefongesprächen mit Dolmetscher. Aber sie ahnte: "Irgendwo auf der Welt lebt da ein Mensch, der sich wegen Wladimirs Tod bittere Vorwürfe macht." Als nach über drei Jahrzehnten plötzlich der Kontakt zustande kam, sei sie sehr erleichtert gewesen, sagt Emma – die inzwischen eine kleine Berühmtheit ist: Die "Welt" hat über das Duo geschrieben, und die "Bunte", die "Stuttgarter Zeitung" und die "Fränkischen Nachrichten". Markus Lanz hat sie eigens nach Hamburg zu seiner Sendung einfliegen lassen. Das war nett, aber wirklich gespannt ist Emma auf Behrs Familie.
Ein Gegenbesuch in Tauberfranken
Fast zwei Jahre nach der ersten Begegnung in Kiew ist es nun soweit: Behr liegt erkennbar daran, Emma die Tür zu seinem Leben zu öffnen, zu seiner Familie und seiner Heimat – so, wie sie, die Witwe des toten Fechters, es mit ihm in Kiew gemacht hatte. Dass der Besuch auf Emmas 65. Geburtstag fällt, macht es noch schöner. Er zeigt voller Stolz Würzburg und seine Heimatstadt Tauberbischofsheim. Es gibt Bierkrüge für Emmas zweiten Mann in einer Brauerei, einen Händedruck vom Bürgermeister und ein paar schöne Bilder im Fernsehen. Emma schaut sich das alles an, hellwach, interessiert – und leise amüsiert, als die Stadtführerin im Ornat eines Nachwächters erscheint.
Es gibt aber auch diesen einen, sehr privaten Moment – ohne Zeugen und Kameras: Beim Abendessen mit Behrs Frau Zita Funkenhauser und den Zwillingstöchtern Leandra und Greta hält Emma eine kurze Rede. Der Kernsatz lautet: "Du hast hier eine wundervolle Familie, aber du bist jetzt auch ein Teil unserer Familie." Das erzählt er später mit leuchtenden Augen.
"Das ist nicht das Ende"
Noch zwei Tage später ist er ergriffen davon. Er steht auf dem Schlossplatz seiner Heimatstadt und ringt mit Erklärungen, die irgendwie die Magie dieses Momentes wiedergeben, ohne hohl und pathetisch zu klingen. Vielleicht so: Dieser ewige Strafprozess, den er in seinem Innern als sein eigener Angeklagter seit Smirnows tragischem Tod vor 37 Jahren mit sich selbst führte, ist zu Ende –mit einem Freispruch. Gott sei Dank, sagt Behr, der – wie Emma – gläubiger Katholik ist.
Am nächsten Tag kommt vom Flughafen noch eine SMS: "Lieber Matthias, ich bin unendlich dankbar für einen so herzlichen Empfang, für Deine und Zitas Aufmerksamkeit." Dann fliegen Emma und ihre Familie heim, in ihr Leben in Kiew. "Das ist nicht das Ende", sagt Behr mit einem Lächeln, es gibt ja Internet, Whatsapp, Skype. "Das ist erst der Anfang von etwas, das ich weiter pflegen möchte."
Ein wichtiges Wort in ukrainischer Sprache kennt er ja nun schon: Sim'ya.