Vor bald einem Jahr hat sich eine Nachricht wie eine Schockwelle in Lohr verbreitet: Auf dem Gelände des Nägelsee-Schulzentrums hat ein Schüler einen anderen getötet. Schnell identifiziert die Polizei einen Verdächtigen. Trotzdem machen Gerüchte die Runde. Für Familie, Freunde und Mitschüler des Toten ging damals eine Welt unter.
Am vergangenen Montag hat das Landgericht Würzburg sein Urteil gesprochen. Der Prozess hat einiges ans Licht gebracht, viele Aspekte der Tat aber bleiben ungeklärt. Der inzwischen 15-jährige Schüler muss wegen Mordes für acht Jahre und sechs Monate ins Gefängnis.
Bürgermeister Paul: Urteil ist ein "vorläufiger Schlusspunkt"
"Es ist wichtig, dass jetzt Recht gesprochen wurde", findet Lohrs Bürgermeister Mario Paul, als ihn die Redaktion nach seiner Einschätzung fragt. Eine Bewertung des Urteils mag er nicht vornehmen. Als Prozessbeobachter aus der Ferne über die Medien habe er den Eindruck gewonnen, "dass sorgsam mit dem Thema umgegangen worden ist, alle Seiten gehört wurden und alle Aspekte berücksichtigt worden sind", resümiert Paul. Angesichts der schlimmen Tat sei es wichtig, dass hier ein zumindest "vorläufiger Schlusspunkt" gefunden worden sei. Ob die Verteidigung in Revision geht, gelte es abzuwarten.
"Seitens der Stadt gibt es keinerlei Pläne für eine Gedenkveranstaltung am Jahrestag der schrecklichen Tat", sagt Paul. Wie man Gewalt und Mobbing an der Schule begegnen könne, da hat der Bürgermeister kein Rezept. Das überlasse er den Experten an oder im Umfeld der Schule, die auch einschätzen könnten, wie dramatisch die Situation wirklich sei.
Zur immer wieder geäußerten Kritik, die Stadt tue zu wenig für die Jugend, betonte der Bürgermeister, "dass wir ganz viele Betätigungs-, Beteiligungs- und Freizeitmöglichkeiten in unserer Stadt haben". Das Angebot solle auch stetig und zielgerichtet verbessert werden. Wichtig sei, dass diese Angebote dann auch angenommen würden.
Lohr möchte Jugendliche durch einen Streetworker besser erreichen
Es gebe einerseits Familien, Jugendliche und Kinder, die in Vereinen integriert und sehr gut im sozialen Netz aufgefangen seien. "Und dann hat uns dieser schreckliche Vorfall im September letzten Jahres schmerzhaft vor Augen geführt, dass wir auch Kinder und Jugendliche haben, die wir trotz aller Angebote nicht erreichen", so der Bürgermeister.
Deshalb habe die Stadt auch versucht, mit dem Streetworking eine Antwort zu finden. Leider sei es bis jetzt nicht gelungen, die Stelle zu besetzen. Er könne aber mitteilen, dass die Vakanz nach dem Weggang des Jugendreferenten Marcel Brunner zum 31. März dieses Jahres bald beendet sein wird. Zum 1. Oktober werde die Stadtjugendpflege wieder besetzt, kündigte der Bürgermeister an, Brunners Nachfolger werde sich zu gegebener Zeit der Öffentlichkeit vorstellen.
Hoher Redebedarf im Lohrer Jugendzentrum
Bei den Jugendlichen gebe es nach dem Urteil wieder einen großen Gesprächsbedarf, hat Kerstin Heine, Sozialpädagogin im Lohrer Jugendzentrum festgestellt. Sie und ihre Kollegin Elena Häfner haben im vergangenen Jahr viele Jugendliche unterstützt und begleitet. Mit einigen hat sie seit der Urteilsverkündung bereits telefoniert. "Sie diskutieren, ob an das Opfer genug gedacht wird und fragen sich, wie man weitermacht, wenn einer aus der Gruppe nicht mehr da ist", berichtet die Pädagogin.
"Es wäre jetzt wichtig, dass ein Ort da ist, wo sie darüber reden können." Voraussetzung sei allerdings, dass ein Vertrauensverhältnis vorhanden ist. "Einige, die angerufen haben, reden mit anderen Erwachsenen wahrscheinlich nicht so wie mit uns." Allerdings seien die Schulen in den Ferien, das Juze wegen der Kinderferienbetreuung für Jugendliche momentan geschlossen und anschließend in der Sommerpause, voraussichtlich auch noch am 8. September, dem Jahrestag des Mords. "Eine doofe Situation", meint Heine.
Sie appelliert an die Eltern, auf die Jugendlichen zu achten, was sie gerade brauchen. "Ich hoffe, dass sie Freundschaften haben und in den Gruppen offen darüber reden können." Der Schulbeginn am 10. September sei nach dem Jahrestag ein Zeitpunkt, an dem das Geschehen gut aufgearbeitet, die Jugendlichen gut aufgefangen werden müssten.
Pfarrer Johannsen: Gewalt werde durch "Wegsperren" nicht gelöst
Sven Johannsen war bis vor Kurzem noch Pfarrer in Lohr. Er hat den Trauergottesdienst für den erschossenen Jungen gehalten. Er sagt im Telefongespräch mit der Redaktion, dass das Urteil der öffentliche Schlusspunkt des juristischen Prozesses sei und für alle Beteiligten wichtig. "Juristisch ist es sauber, soweit ich das nachvollziehen kann." Beide Familien müssten mit diesem Ergebnis arbeiten.
Ob sechs oder acht Jahre die sinnvollere Strafe sei, könne er nicht beurteilen. Das Problem der Gewalt werde mit Wegsperren nicht gelöst, weist Johannsen auf einen weiteren Gesichtspunkt hin. Offen seien auch nach dem Prozess die Fragen zur Persönlichkeit des 15-Jährigen, der auf den damals Gleichaltrigen geschossen hat.
Ob die Schuld von dem Verurteilten angenommen worden ist, gehöre für ihn zu den offenen Fragen. Ob die Opfer-Familie die Entschuldigung wahrgenommen hat, nennt der Seelsorger eine weitere Frage. Wahrgenommen heiße nicht automatisch angenommen, betont er dabei. "Bereut der Täter, was nicht rückgängig zu machen ist? Ist es glaubwürdig und authentisch?" Sich damit auseinanderzusetzen sei ein Prozess, der ein Leben lang dauere. Auch ihn beschäftige der Fall immer noch.
Ein Stückchen Normalität durchs Fußballspielen
Ralf Stolle, Vorsitzender des TSV Sackenbach und von Beruf Polizist, hatte sich nach der Tat für die Unterstützung der Familie des Getöteten eingesetzt und mit dem Verein eine Benefizaktion organisiert. Außerdem setzte er sich mit den Hintergründen von Gewalt und den Konsequenzen auseinander, wie in einem Interview mit ihm im September deutlich wurde. Er hoffe, dass das Urteil hilft, abschließen zu können, vergessen könne man das Geschehene ohnehin nicht. Ob es eine gerechte Strafe ist, sei schwer zu beantworten.
"Die genauen Beweggründe wird man nie herausfinden", ist Stolles Einschätzung. Der Prozess habe die Familie des Opfers extrem mitgenommen. Er hofft, dass sie sich nun wieder ihrer Trauer widmen können und zumindest der Vater und Bruder beim Fußballspielen ab und zu ein Stückchen Normalität erleben. "Die Gedanken kann man nicht verdrängen. Die Familie weiß, dass wir da sind."
Rapper Seba wünscht sich eine weitere Aufarbeitung der Tag nach den Ferien
Sebastian Czyszczon, besser bekannt als Rapper Seba, hat sich nach dem Mord intensiv mit der Situation der Jugendlichen auseinandergesetzt. Gemeinsam mit Box-Trainer Sven Amend hat er im Frühjahr in der Mittelschule ein Präventionsprojekt angeboten. "Die Eltern erfahren durch das Urteil ein bisschen Gerechtigkeit", kommentiert er die Entscheidung des Gerichts. Sie könnten so vielleicht irgendwann Frieden finden. Auch bei den Jugendlichen in der Stadt sieht er viele Emotionen mitspielen. "Einige werden einen Abschluss finden, anderen wird es immer bleiben." Viele hätten nach der Tat einfach weiter gemacht. "Aber bei denen, die das Opfer persönlich kannten, liegt ein Hauch immer noch in der Luft."
In den vergangenen Monaten vermisst der Rapper und Jugendarbeiter weitere Aufarbeitung der Tat. "Alle haben nur noch auf den Prozess geschaut und nicht mehr darauf, was passiert ist", kritisiert er. Nach den Ferien wünscht er sich eine stärkere Aufarbeitung, die Gewalt und Mobbing an der Schule thematisiert. Mit Blick auf das Urteil und den Jahrestag der Tat, der in den Ferien liegt, empfiehlt er den Eltern, offen mit ihren Kindern zu sprechen und auf sie einzugehen, sie nach ihren Interessen und denen ihrer Freunde zu fragen. Dass bei dem Mord auf dem Schulgelände letztlich offenbar auch ein geplatzter Waffendeal eine Rolle gespielt hat, überrascht Czyszczon nicht. "Das kennt man, besonders aus größeren Städten."
"Wir haben das Urteil auch gelesen, uns steht es jedoch als Schule nicht zu, dies zu kommentieren" so Susanne Rinno, die Schulleiterin der Lohrer Gustav-Woehrnitz-Mittelschule. Weiter wollte sie sich zum Abschluss des Gerichtsprozesses nicht äußern.