
In dem Moment, in dem das Urteil zu einer Haftstrafe von acht Jahren und sechs Monaten wegen Mordes verkündet wird, wirkt der 15-Jährige auf Prozessbeteiligte, als sei er geistig weit weg. Nicht vor Gericht in Würzburg, nicht auf der Anklagebank. Der Jugendliche, so schildern es Anwesende, verzieht keine Miene, als der Vorsitzende Richter ihn in seiner Urteilsbegründung einen "Mörder" nennt.
Hier Reglosigkeit, dort Tränen
Viele Augen sind in dem nichtöffentlichen Prozess an diesem Montagvormittag am Landgericht Würzburg erwartungsvoll auf den Schüler aus Lohr gerichtet. Aber weder seine Verteidiger noch die Nebenklage-Anwälte bemerken, wie sie später sagen, irgendeine Regung in seinem Gesicht. Im Gegensatz dazu die Eltern des Opfers, mehrere Stuhlreihen hinter der Anklagebank: Mit Tränen in den Augen verfolgen sie das Urteil zu der Tat, die ihren Sohn das Leben gekostet hat.
So seltsam unbeteiligt soll der 15-Jährige fast über die ganzen 15 Wochen dieses Prozesses gewirkt haben. Nur ganz zum Schluss der Verhandlung schien er für einen Moment aufzutauchen aus seinem eigenen Kosmos. Selbst seine Verteidiger wirkten überrascht, als der Schüler nach den Plädoyers in der vergangenen Woche plötzlich die Chance wahrnahm: "Es tut mir leid, dass ich Gott gespielt habe", sagte er im letzten Wort des Angeklagten unerwartet offen.
Der Jugendliche schweigt: Weiter Rätselraten über das Motiv
Dann tauchte der Angeklagte wieder ab in seine schweigende Unnahbarkeit. Weder dem Gericht, noch einem psychiatrischen Sachverständigen hatte er sich geöffnet. So bleibt Rätselraten. Und die Frage, was ihn im September 2023 dazu bewegte, sich mit seinem Mitschüler im Gebüsch neben dem Lohrer Schulzentrum zu treffen – und ihm in den Hinterkopf zu schießen.
Die beiden Verteidiger Roj Khalaf und Hanjo Schrepfer glauben zu wissen, was an jenem Septembernachmittag kurz vor Ende der Schulferien passiert war: Sie schließen aus Zeugenaussagen und der Darstellung ihres Mandanten, dass er Mitschülern die großkalibrige Pistole zeigte. Dem früheren Freund seiner Oma hatte er sie gestohlen, weil er wusste, wo der Schlüssel zum Waffenschrank lag.
Aus Angst oder Absicht? Tödlicher Schuss bei einem heimlichen Treffen
Das 14-jährige Opfer soll sich mit ihm zu einem heimlichen Treffen verabredet haben - offenbar, um die 9-Millimeter-Pistole zu bekommen. Gegen 400 Euro oder umsonst? Im Streit darüber soll es zum Gerangel gekommen sein. Aus Panik, nicht aus böser Absicht, soll der Angeklagte geschossen und dabei den Mitschüler aus kurzer Entfernung in den Hinterkopf getroffen haben.
Irritierend wirkt, dass offenbar selbst seine Mutter dem 15-Jährigen kurz nach diesem doch eigentlich aufwühlenden Erlebnis keinerlei Erregung anmerkte. Als er nach Hause kam, habe er gelassen gewirkt, als sei alles wie immer, sagte sie gegenüber einem Reporter. Ihr Sohn habe sie beruhigt, als sie ihn nach sechs Wochen erstmals in Untersuchungshaft habe besuchen dürfen: "Das schaffen wir schon, Mama!"
Anders als in der ursprünglichen Anklage: Heimtücke statt Mordlust
Das Gericht um den erfahrenen Vorsitzenden Michael Schaller tat sich schwer mit der Tatversion der Verteidiger. Aber ebenso mit der Version der Staatsanwaltschaft, die dem Jugendlichen in ihrer Anklage Mordlust unterstellt hatte. Zu schwammig waren die Hinweise darauf, dass der 15-Jährige, der den Schuss auf seinen Mitschüler kurz und ohne weitere Erklärung gestanden hatte, sich in der Tradition von Serienkillern in TV-Serien gesehen haben soll.

Die Jugendkammer hatte sich seit Prozessbeginn Anfang Mai viel Mühe gegeben, dem Schüler und seiner Tat gerecht zu werden. Aber er blieb den drei Berufsrichtern und zwei Schöffen im Grunde ein Rätsel. Das Gericht äußerte seine Irritation darüber, dass der Schütze in Panik abgedrückt haben will. Ein Schuss in den Hinterkopf aus kurzer Entfernung lasse daran ebenso zweifeln wie die Behauptung, er habe eigentlich auf den Rücken des vor ihm Kauernden gezielt.
Richter gehen von Absicht aus: Opfer war arg- und wehrlos
Der Angeklagte habe sein Opfer bewusst an jenem Septembertag in die Anlage neben der Schule gelockt, um ihn zu erschießen – nicht umgekehrt, urteilte das Gericht. Denkbar sei auch ein vorgeschobener Drogendeal. "Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Getötete zu diesem Zeitpunkt arg- und wehrlos war", sagt Martina Pfister-Luz, die Sprecherin des Landgerichts. Das Opfer habe nicht mit dem Schuss gerechnet. Und es habe keine Möglichkeit gehabt, sich zu wehren.
Die Verteidiger Hanjo Schrepfer und Roj Khalaf bleiben auch nach dem Urteil bei ihrer Überzeugung, dass ein Totschlag vorliegt. Sie hielten sechs Jahre Jugendstrafe für angemessen. "Wir wollen jetzt erst einmal die Urteilsgründe schriftlich vorliegen haben", sagten sie am Montag. "Dann werden wir mit unserem Mandanten prüfen, ob wir das Rechtsmittelverfahren durchführen."
Vor dem Würzburger Landgericht: Interviews mit Anwälten und der Opferfamilie
15 Journalisten hatten am Vormittag vor dem Saal am Landgericht auf die Entscheidung in dem nichtöffentlich geführten Prozess gewartet. Drei Fernsehsender und zwölf Reporter, darunter auch der "Spiegel" aus Hamburg, richteten dann ihre Mikrofone und Kameras auf die Anwälte. Und schonungslos auch auf die Eltern des Getöteten, als diese mit geröteten Augen aus dem Gerichtssaal kamen.

Sogar die Großeltern des Opfers waren für den Tag der Urteilsverkündung aus Italien nach Würzburg gekommen. Der Erschossene sei "ihr Sonnenschein gewesen", sagte die Oma weinend den Reportern.
Bittere Worte des Vaters nach dem Urteil
Die Anwälte der Familie, Vater und Sohn Norman Jacob, hatten sie zu ihrem Schutz an den Prozesstagen zuvor vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. An diesem Montag aber wollen die Angehörigen reden, es bricht voller Anspannung förmlich aus ihnen heraus: Die Eltern waren einst aus Italien nach Unterfranken gekommen, um in Lohr ihre Kinder geschützt und friedlich aufwachsen zu sehen. Nun wurde hier ihr Sohn erschossen.
Sie fühlten sich seit der Tat, als seien sie selbst gestorben, sagen Mutter und Vater trauernd. Ihr sechsjähriger jüngerer Sohn frage immer, wo sein Bruder sei. Grollend sagt der Vater zum Schluss in eine Kamera: Er sei sich sicher, der 15-jährige Verurteilte werde es immer wieder tun.
dieses Eindruckes kann ich mich auch nicht erwehren.
Und diesen Menschen, der ganz offenbar in seiner eigenen Welt lebt und offenbar seine eigenen Vorstellungen von "geht" und "geht nicht" hat, will man nach achteinhalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen, zurück in seine eigene Welt, in der "die üblichen Konventionen" nicht zählen? Keine verpflichtende Behandlung, keine Betreuung, sehe ich das richtig? Das entzöge sich dann "ein wenig" meinem Verständnis.
Kann man (seit 18.30 Uhr) auf der selben Seite lesen auf der auch dieser Artikel steht...
Mit freundlichen Grüßen
Ralf Zimmermann, Main-Post Digitales Management