Rapper, Jugendarbeiter, Pädagoge an einer Montessorischule: Sebastian Czyszczon ist einer, der ganz nah dran ist an der Lebenswirklichkeit der Jugend in Lohr. Engagiert für junge Menschen und gleichzeitig respektiert und ins Vertrauen gezogen von den Jugendlichen selbst, auch solchen, die in prekären Verhältnissen leben: Diese Mischung gibt es nicht so oft. In seinen Songtexten verarbeitet der 32-jährige Rapper, mit Künstlernamen Seba, was Jugendliche bewegt. Durch seine Jugendarbeit an der Basis hat er Einblicke in die Szene wie kaum ein anderer in Lohr. Wir sprachen mit ihm über die schreckliche Gewalttat auf dem Gelände des Schulzentrums und wie er die Jugend in Lohr wahrnimmt.
Sebastian Czyszczon: Ich bin schockiert von der Tat wie jeder andere auch. Aber ich denke auch, wenn es nicht jetzt passiert wäre, dann zu einem anderen Zeitpunkt. Vielleicht nicht in der extremsten Form, dass jemand einen anderen erschießt. Aber das Gewaltpotenzial ist da, deutschlandweit. Die Strukturen für so etwas sind da. Damit meine ich, dass unser System nicht kinderfreundlich ist. Kinder und Jugendliche haben heute mit viel mehr Problemen zu kämpfen als in den 2000ern. Aber Geld und Personal fehlen, um hier genug zu tun. Die Politik, auch die Behörden und Jugendämter schauen weg und schüren die Missstände damit weiter. Und inzwischen schwappen die Probleme der Großstädte auch in den ländlichen Bereich über.
Czyszczon: Nicht erst seit Corona beobachte ich es, in den letzten drei Jahren ist es jedoch extrem auffällig geworden, dass Jugendliche vermehrt mit mangelndem Selbstbewusstsein und fehlenden Perspektiven kämpfen. Inflation und Arbeitslosigkeit betrifft Jugendliche genauso, auch wenn man das nicht denkt. Auch wenn es in Main-Spessart wenig Arbeitslosigkeit gibt, so sehen die Jugendlichen doch, was passiert. Läden schließen, gefühlt gibt es viel weniger Perspektiven. Bei vielen fehlt tatsächlich auch die Erziehung zu Hause, sie werden einfach vernachlässigt oder es wird weniger darauf geachtet, Werte zu vermitteln. Sie zocken bis 4 Uhr morgens und um 6 klingelt der Wecker für die Schule. Internet- und Streaming-Konsum ist unkontrolliert. Viele haben Zugang zu Dingen, die sie nicht sehen sollten. Das alles führt zu weiteren Problemen, wie steigende Gewaltbereitschaft und Mobbing an Schulen. Das ist ein Riesenthema.
Czyszczon: Ich kenne die Jugendszene vor allem aus dem Blick der Jugendarbeit im Juze. Und hier wird hervorragende Arbeit geleistet. Es gibt ein super breites Spektrum an Angeboten. Aber natürlich kann man auch im Juze immer nur im Rahmen der Möglichkeiten agieren, die von Behörden bestimmt werden. Was ich dort wahrnehme, ist eine lockere, motivierte und engagierte Jugend. Man spürt schon noch, dass man in einem ländlichen Gebiet ist, dass Kinder und Jugendliche hilfsbereit und höflich sind. Da herrscht zum Beispiel in Essen oder im Ruhrgebiet allgemein, wo ich auch schon Sozialarbeit gemacht habe, ein ganz anderes Klima. Natürlich kann man nicht alle Kinder und Jugendlichen über einen Kamm scheren, aber ich beschreibe hier Tendenzen. Gleichzeitig fällt in Lohr auf, dass Drogenkonsum stattfindet und dass die Hemmschwelle bei Gewalt sinkt. Da reicht manchmal ein Blick, um auf einen anderen loszugehen. Das hat wiederum mit dem Gemütszustand der Jugendlichen zu tun, wie ich eben beschrieben habe. Da gibt es vielleicht Probleme zu Hause oder in der Schule, oder man hat kaum geschlafen und dann ist die Zündschnur an einem solchen Tag viel kürzer.
Czyszczon: Natürlich kann man Lohr nicht mit Frankfurt vergleichen. Das ist ein anderes Größenmaß. Aber es ist auch kein neues Phänomen, dass die Jugend Gewaltbereitschaft zeigt. Ob in Gemünden, Marktheidenfeld, Karbach, Karlstadt oder Lohr, es gab auch hier immer schon Gegenden, in denen die Kriminalität unter Jugendlichen zugenommen hat. Eher neu ist aber, dass Jugendliche auch bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen. Da wird mal geprügelt, auch das gab es immer schon. Aber jetzt wird auch schneller weitergeprügelt, wenn jemand schon am Boden liegt. Man ist sich der Konsequenzen nicht bewusst. Der Hass und die Frustration nehmen zu. Ich weiß von vielen Jugendlichen, dass sie kleinere Waffen bei sich tragen, einfach um sich im Notfall zu wehren. Nur vier Tage nach der Tat schrieb eine Mutter auf Facebook, dass ihre Kind in Lohr von einem Jugendlichen mit einem Messer bedroht wurde. Ich weiß von Erwachsenen, die sich nicht mehr trauen, am Skaterpark entlang zu gehen. Also ja, das Gewaltproblem unter Jugendlichen nimmt zu. Aber das betrifft nicht Lohr explizit, sondern gilt deutschlandweit und kommt jetzt auch in vielen Kleinstädten an.
Czyszczon: Ich weiß, dass viele kiffen, auch täglich. Und sie fangen immer früher an, teilweise schon mit zwölf Jahren. Also ja, es gibt Drogenkonsum in Lohr. Ob Cannabis nun schlimm ist oder nicht, darüber gehen die Meinungen ja weit auseinander. Ich bin gegen jede Form von Drogen, auch Alkohol, besonders in diesem sensiblen Alter. Gleichzeitig denke ich auch, dass das derzeit von vielen Medien aufgebauscht wird. Der Rahmen der Drogenproblematik in Lohr unterscheidet sich nicht von anderen Kleinstädten. Sie ist definitiv vorhanden. Aber man kann meiner Meinung nach nicht alles darauf schieben. Die zunehmende Gewaltbereitschaft hat auch viele andere Ursachen, wie ich schon beschrieben habe.
Czyszczon: Das kann ich so nicht bestätigen. Das Juze ist das beste Beispiel, dass einiges in Lohr für Kinder und Jugendliche getan wird. Und hier gibt es viele engagierte junge Leute, die gemeinsam etwas gestalten. Aber, wie gesagt, es fehlt überall an Geld und Personal. Ich wäre auch dafür, mehr Sportplätze zu bauen, mehr Fitness- und andere Angebote zu machen. Man kann immer mehr tun. Und auch in Lohr gibt es da Potenzial nach oben.
Czyszczon: Ich wünsche mir, auch ganz persönlich, dass die Missstände, die in Lohr, ebenso wie Main-Spessart, in vielen Kleinstädten und in ganz Deutschland herrschen, erst einmal anerkannt werden. Damit würde man mal ein Zeichen setzen. Jeder fragt gerade nach dem Motiv des Täters. Aber die wahren Hintergründe, warum es überhaupt zu so etwas kommen kann, liegen meiner Meinung nach in diesen Strukturen und Missständen, die wir im ganzen Land haben. In Lohr wäre auch eine bessere Vernetzung zwischen Stadt, Behörden und Pädagogen wünschenswert. Oft scheitert das Engagement von denen, die eng mit der Jugend zusammenarbeiten, an der Bürokratie. In den Schulen findet ja jetzt die psychologische Aufarbeitung mit Hilfe von Experten statt. Es wird in Zukunft aber auch wichtig, mehr mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, ihre Lebenswirklichkeit erst einmal wahrzunehmen und dort anzusetzen. Ich weiß zum Beispiel aus Schulen aus der ganzen Region, dass Mobbing akut ist. Es passiert in den Schulen, täglich, und man darf da nicht mehr wegschauen.