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Wiesenfeld
Mord in Wiesenfeld vor über 30 Jahren: Wie glaubhaft sind die Zeugenaussagen vor Gericht nach so langer Zeit?
Psychologin Aileen Oeberst kennt die Grenzen des menschlichen Gedächtnisses. Blickt der Mensch auf Vergangenes zurück, macht er oft den gleichen Fehler, sagt die Forscherin.
Das menschliche Gedächtnis funktioniert sehr selektiv. Im Prozess um den Mordfall in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart) im Jahr 1993  erinnern sich manche Zeuginnen und Zeugen noch an Details. Andere Erinnerungen verblassen hingegen.
Foto: Getty Images | Das menschliche Gedächtnis funktioniert sehr selektiv. Im Prozess um den Mordfall in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart) im Jahr 1993  erinnern sich manche Zeuginnen und Zeugen noch an Details.
Jonas Keck
 |  aktualisiert: 06.12.2024 02:35 Uhr

Über 80 Zeuginnen und Zeugen waren im Prozess um den Mordfall Sabine B. geladen. Sie sollen sich vor dem Landgericht Würzburg an ein Ereignis erinnern, das mehr als 30 Jahre zurückliegt: In Wiesenfeld bei Karlstadt im Landkreis Main-Spessart war im Dezember 1993 das 13-jährige Mädchen getötet worden. Seine Leiche wurde in der Güllegrube eines Reiterhofs gefunden.

Doch wie glaubhaft sind Zeugenaussagen nach so langer Zeit? Welche Fehler unterlaufen Menschen, wenn sie auf Ereignisse in der Vergangenheit zurückschauen? Wie verzerren sich Erinnerungen? Die Psychologin Aileen Oeberst,  Professorin an der Universität Potsdam, forscht darüber. Im Interview erklärt sie, was unser Gedächtnis leisten kann – und wann es an seine Grenzen stößt.

Frage: Frau Oeberst, wenn ich überlege, was ich vorgestern zu Mittag gegessen habe, muss ich mich sehr anstrengen. Im Prozess um den Mordfall in Wiesenfeld erinnern sich Zeuginnen und Zeugen an Ereignisse, die zum Teil über 30 Jahre her sind. Wie kann denn das menschliche Gehirn so etwas leisten?

Prof. Aileen Oeberst: Unser Gedächtnis funktioniert sehr selektiv. Wir vergessen wahnsinnig viel und vor allem genau solche Dinge, die für uns nicht wichtig sind, wie zum Beispiel die ganzen Mittagessen unseres Lebens. Aber das sieht anders aus bei Ereignissen, die für uns von Bedeutung sind, die emotional sind und oder auf andere Weise herausstechen. Das gilt für den ersten Kuss, aber auch für einen Mordfall.

Wie glaubhaft sind Zeugenaussagen, die so lange zurückliegen?

Oeberst: Ein Mordfall ist nichts Alltägliches. Und da ist es schon so, dass wir aus der Forschung wissen, dass sich Personen zum Teil noch nach über 20 Jahren an besondere Ereignisse erinnern können. Die Glaubhaftigkeit einer Aussage lässt sich nicht pauschal beurteilen. Aber nach so langer Zeit beschränkt sich die Erinnerung meistens auf das Kerngeschehen. Kleine Details rundherum sind dann vielleicht nicht mehr so klar.

Manche Zeuginnen und Zeugen sagen zu Beginn ihrer Befragung, dass sie sich an kaum etwas erinnern können. Wie können Richterinnen und Richter dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen?

Oeberst: Unser Gedächtnis ist ein assoziatives Netzwerk. Wenn wir beginnen, über eine Sache nachzudenken, dann fallen uns auch andere Sachen wieder ein, die damit zu tun hatten. Das kann sich das Gericht bewusst zunutze machen. Man kann Zeuginnen und Zeugen bitten, sich in den Kontext des entscheidenden Tages hineinzuversetzen. Richterinnen und Richter sollten trotzdem immer versuchen, sehr offen zu bleiben. Am besten gibt man Zeuginnen und Zeugen eine offene Erzählaufforderung – "Erzählen Sie doch mal." Aus der Forschung wissen wir: Je spezifischer - oder natürlich im schlechtesten Fall, je suggestiver - die Fragen werden, desto mehr Fehler kommen zustande.

Wie kann das Gericht zwischen einer falschen Erinnerung und einer Lüge unterscheiden?

Oeberst: Schwierig. Wenn sich falsche Erinnerungen entwickelt haben, dann haben die eine sehr ähnliche Qualität wie wahre Erinnerungen. Und die Personen sind ja auch überzeugt davon. Man kann versuchen, zu rekonstruieren, wie diese Erinnerung entstanden ist. Dafür braucht es Expertenwissen, wie zum Beispiel aussagepsychologische Sachverständige.

Prof. Aileen Oeberst ist Sozialpsychologin an der Universität Potsdam.
Foto: Volker Wiciok | Prof. Aileen Oeberst ist Sozialpsychologin an der Universität Potsdam.
Wie gut sind wir Menschen darin, Lügen zu erkennen?

Oeberst: Die meisten Menschen sind ziemlich davon überzeugt, dass sie erkennen würden, wenn man sie anlügt. Aber die Forschung dazu zeigt uns, dass Menschen eher schlecht darin sind. Das gilt auch für Polizistinnen und Polizisten oder Richterinnen und Richter, auch wenn es zu ihren täglichen Aufgaben gehört, die Unterscheidung treffen zu müssen. Und tatsächlich wissen wir in der wirklichen Welt nicht, wie oft sie daneben liegen.

Das öffentliche Interesse an dem Mordfall von Wiesenfeld vor 31 Jahren war von Anfang an groß. Jetzt wird über den laufenden Prozess berichtet. Welchen Einfluss kann das auf Erinnerungen von Zeugen haben?

Oeberst: Wir sind nicht besonders gut darin, die Quellen unserer Erinnerungen auseinanderzuhalten. Habe ich etwas selbst erlebt? Hat es mir jemand erzählt oder habe ich es gelesen? Das ist natürlich ein gewisses Problem. Zeuginnen und Zeugen könnten etwas lesen, die Information in ihr Gedächtnis integrieren und später davon überzeugt sein, dass sie etwas selbst gesehen haben, obwohl sie es eigentlich nur gelesen haben. Sowas gibt es. Aber das kann man auch schwerlich vermeiden. Zumal Medien nicht die einzigen Quellen für Informationen sind.

Wiesenfeld ist ein Dorf.

Oeberst: Das kann zusätzlich eine Rolle spielen. Die Quellen-Verwechslung kann auch mit Personen passieren. In einem Dorf gibt es vielleicht mehr Austausch als in einer Großstadt, wo man sich gar nicht kennen würde. Oft vergessen wir irgendwann, wer uns etwas erzählt hat. Je mehr Quellen es gibt, desto mehr Verwechslung kann stattfinden.

In der Verhandlung haben manche Zeuginnen und Zeugen den Ermittlern vorgeworfen, zu lange zu einseitig ermittelt zu haben. Ein zunächst Verdächtiger war 1994 freigesprochen worden. Dem Vorsitzenden Richter zufolge könnten den Zeugen "Rückschaufehler" unterlaufen sein. Was meint er damit?

Oeberst: Wenn man im Nachhinein glaubt, man hätte etwas vorher schon längst gewusst, obwohl man es auch eigentlich noch nicht gewusst haben kann – dann ist das ein Rückschaufehler. Auf den Fall bezogen: Eine Person wird verdächtig, angeklagt und freigesprochen. Wenn ich am Ende des Prozesses das Gefühl habe, dass der Freispruch offensichtlich war, dann ist das der Rückschaufehler. Das hätte wahrscheinlich anders ausgesehen, wenn die Person schuldig gesprochen worden wäre, dann hätte es den Vorwurf einseitiger Ermittlungen später vermutlich nicht gegeben. Im Nachhinein ist es immer leichter, die Dinge so zu sehen, weil man einfach viel mehr weiß als vorher. Natürlich ist es trotzdem möglich, dass an den Vorwürfen etwas dran ist und die Ermittlungen zu einseitig waren. Das kann ich aber nicht beurteilen.

Jura besteht nicht nur aus Paragrafen. Das wird in diesem Fall besonders deutlich. Welchen Stellenwert hat die Psychologie in der Ausbildung von Juristinnen und Juristen?

Oeberst: Aussagepsychologie spielt im grundständigen Jurastudium meines Wissens kaum eine Rolle. Außer man hat vielleicht Glück, weil sich mal ein Dozent oder eine Dozentin näher damit befasst hat. Aber die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage oder Effekte wie der Rückschaufehler gehören leider nicht zum Standard. Das müsste sich auch mal was ändern. Aber das sehen meiner Erfahrung nach auch viele Juristen so.

 
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Kommentare
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  • Johannes Metzger
    Vielen Dank an die Mainpost, dass sie dieses wichtige Thema aufgegriffen hat und eine renommierte Wissenschaftlerin zu Wort kommen lässt.
    Im Zusammenhang mit dem Mord?/Totschlag ? Sehe ich nicht, dass das Gericht auf wirklich verwertbare Zeugenaussagen zurückgreifen kann.
    Ich bin gespannt auf das Urteil.
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