Vor 31 Jahren starb Sabine B. in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart). Seitdem hat die Redaktion immer wieder recherchiert und über den Fall berichtet. Als nun wieder Bewegung in die Ermittlungen kam, haben wir unsere Archive in Karlstadt und Würzburg durchforstet. Auf Grundlage alter Zeitungsartikel hat die Redaktion den Ablauf der Ereignisse rekonstruiert. Das Protokoll:
Mittwoch, 15. Dezember 1993: Die 13-jährige Sabine B. wird zuletzt lebend in Wiesenfeld (Lkr. Main-Spessart) gesehen: am Nachmittag in der Nähe eines Reiterhofs, gegen 18 Uhr soll sie sich in der Ortsmitte mit einem Bekannten unterhalten haben.
Freitag, 17. Dezember 1993: In der Main-Post erscheint eine Vermisstenmeldung. Die Polizei bittet darin um Hinweise und geht davon aus, "dass die Hauptschülerin per Anhalter unterwegs ist". Anhaltspunkte für ein Verbrechen lägen nicht vor. Dennoch wird mit einem Großaufgebot nach Sabine gesucht, auch ein Hubschrauber und ein Spürhund sind im Einsatz. In einem Kanalgulli findet ein Nachbar Sabines Schlüssel für den Reiterhof. Der Fund führt die Ermittler zum Tatort: Am Abend wird das Mädchen tot in einer Jauchegrube auf dem Hof gefunden. Da die Grube mit einem schweren Betondeckel verschlossen ist, liegt ein Fremdverschulden auf der Hand.
Wochenende, 18./19. Dezember 1993: Die Polizei bildet eine 30-köpfige Sonderkommission, verhört rund 50 Zeugen, hält sich ansonsten aber bedeckt. Dennoch gibt es Meldungen über den Verdacht gegen einen 15-jährigen Schüler. Die Leiche wird noch am Wochenende obduziert.
Dienstag, 21. Dezember 1993: Gegen den 15-jährigen Wiesenfelder Marco F. wird Haftbefehl erlassen. Er ist dringend tatverdächtig, Sabine getötet zu haben. Die beiden sollen sich gekannt haben. Gleichzeitig schließt die Polizei nicht aus, dass das Verbrechen von mehreren Tätern begangen wurde. Das LKA setzt für Hinweise eine Belohnung von 5000 D-Mark aus.
Mittwoch, 22. Dezember 1993: Eine weinrote Regenjacke, die am Tatort gefunden wurde und bislang nicht zugeordnet werden konnte, gibt den Ermittlern Rätsel auf. Beamte der Bereitschaftspolizei suchen erneut den Reiterhof nach Beweismitteln ab.
Donnerstag, 23. Dezember 1993: Der 15-jährige F. wird wieder freigelassen. Die Indizien seien nicht ausreichend, um den Haftbefehl aufrechtzuerhalten, so die Staatsanwaltschaft Würzburg. Die Anwälte des Schülers haben Haftbeschwerde eingelegt. F. bestreitet, etwas mit Sabines Tod zu tun zu haben.
Donnerstag, 30. Dezember 1993: Sabine B. wird auf dem Wiesenfelder Friedhof beigesetzt – "unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und ohne Zwischenfälle", wie die Redaktion berichtet. Die Polizei beendet ihren Einsatz vor Ort: Die Spurensicherung sei abgeschlossen.
Anfang Januar 1994: Die Soko wird von 30 auf 15 Ermittler verkleinert. Gleichzeitig sagt die Polizei, es stehe noch die Befragung von "sehr vielen" Personen aus. Auch der Besitzer der weinroten Regenjacke ist noch nicht gefunden. Außerdem sucht die Polizei Sabines Geldbeutel.
Mittwoch, 12. Januar 1994: Ein 27-Jähriger gerät in den Fokus der Öffentlichkeit: In Wiesenfeld kursieren Gerüchte, dass der Mann festgenommen worden sei. Die Polizei dementiert.
Dienstag, 25. Januar 1994: Erstmals machen die Ermittler Angaben zur möglichen Todesursache: Von Gewalteinwirkungen auf den Hals ist die Rede. "Eine von mehreren Möglichkeiten ist der Erstickungstod", so die Staatsanwaltschaft. Ein Sexualverbrechen liege nicht vor. Auch Drogen sollen keine Rolle gespielt haben. Unterdessen kursieren in Wiesenfeld verstärkt Gerüchte, dass drei männliche Jugendliche unter Tatverdacht stehen. Sie sollen regelmäßig auf dem Reiterhof gewesen sein.
Mittwoch, 9. Februar 1994: Der 15-jährige F. wird wieder festgenommen. Schon einen Tag später wird der Haftbefehl wieder aufgehoben.
Freitag, 11. Februar 1994: Zum dritten Mal wird der 15-jährige Schüler festgenommen. Die Ergebnisse mehrerer Gutachten hätten den Verdacht gegen den Jugendlichen erhärtet, so die Staatsanwaltschaft. Demnach wurde Sabine B. schon am Tag ihres Verschwindens gegen 18.30 Uhr getötet. Für die Zeit hat der 15-jährige F. kein Alibi.
Donnerstag, 14. April 1994: Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen F. Anklage wegen Totschlags. Die Ermittler gehen von einem Einzeltäter aus.
Donnerstag, 21. April 1994: Die Staatsanwaltschaft gibt neue Details zum Tod Sabines bekannt. Demnach starb sie, indem ihr Stroh in den Mund gestopft und der Hals zugedrückt wurde, bis sie erstickt war.
Montag, 2. Mai 1994: Zum dritten Mal wird der inzwischen 16-jährige F. freigelassen. Das Landgericht Würzburg sieht weder Verdunkelungs- noch Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. F. kehrt zurück nach Wiesenfeld.
Freitag, 6. Mai 1994: Die Anwälte F.s wenden sich an die Öffentlichkeit und kritisieren die Staatsanwaltschaft, sprechen von "Hypothesen" und "Unterstellungen". "Es gibt kein Motiv", heißt es aus der Kanzlei. F. und Sabine "kannten sich zwar. Aber es gab keine nähere Beziehung". Zudem bezweifeln die Verteidiger, "ob man an einer Leiche, die zwei Tage in einer Jauchegrube lag, noch die genaue Todeszeit feststellen kann". Dies sei aber wichtig, um zu prüfen, ob ihr Mandant "als Täter in Frage kommen könnte". Das Landgericht räumt ein, dass das Ermittlungsergebnis "keine große Wahrscheinlichkeit dafür ergibt", dass F. der Täter ist.
Mittwoch, 22. Juni 1994: Vor dem Würzburger Landgericht beginnt der Prozess gegen F. wegen Totschlags. Sechs Verhandlungstage sind angesetzt. Verhandelt wird nicht öffentlich, auch Sabines Eltern sind als Nebenkläger nicht zugelassen. Die Staatsanwaltschaft rekonstruiert die Tat so: Gegen 17.40 Uhr soll F. Sabine B. am Pferdestall des Reiterhofs in Wiesenfeld getroffen haben. Dann sollen beide über eine Leiter auf den Tennenboden gestiegen sein, wo der damals 15-Jährige dem Mädchen mehrere Faustschläge gegen den Hinterkopf versetzte, ihr Stroh in den Mund stopfte und den Hals zudrückte. Vergewaltigt worden sei die 13-Jährige nicht, so die Staatsanwaltschaft.
Mittwoch, 20. Juli 1994: F. wird aus Mangel an Beweisen und aufgrund eines fehlenden Motivs freigesprochen. Das Gericht geht davon aus, dass eine ihr körperlich weit überlegene Person Sabine B. getötet hat. F. ist eher schmächtig. Bei der Urteilsverkündung nennt der Richter zwei Männer, die sich besonders verdächtig gemacht hätten: einen 28-jährigen Mann und einen 17-jährigen Jugendlichen. Beide wurden mit Sabine am Tattag gesehen. Rechtsmediziner sprechen laut Main-Post davon, an der Leiche Spuren eines Sexualdelikts gefunden zu haben.
Sommer 1994: Die seit Monaten schwelende Kritik an den Ermittlern wird lauter. Der freigesprochene F. sei ein "Bauernopfer" gewesen, heißt es selbst aus Polizeikreisen. Auch die Herangehensweise der Ermittler erscheint fragwürdig: So sei ein Zellengenosse auf den zum Tatzeitpunkt 15-Jährigen angesetzt worden, um ihn auszuhorchen. Im Zuge der Ermittlungen sei der Jugendliche auch mit der nackten obduzierten Leiche der 13-Jährigen konfrontiert worden. Für andere mögliche Täter, so die Kritik, seien die Ermittler blind gewesen.
Herbst 1994: Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen Revision gegen den Freispruch angekündigt. Nach neuen Tatverdächtigen ermittelt sie nicht. "Wenn es keine neuen Ansatzpunkte gibt, hat ein neues Ermittlungsverfahren keinen Sinn", argumentiert die Oberstaatsanwältin.
Februar 1995: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe verwirft den Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft. Der Freispruch ist damit rechtskräftig. Gegen die zur Tatzeit 28- und 17-Jährigen, die der Richter als mögliche Täter ins Spiel brachte, gibt es indes laut Staatsanwaltschaft keinen hinreichenden Verdacht.
Montag, 15. Dezember 1997: Am vierten Todestag von Sabine B. fordert der Rektor ihrer Schule eine Aufklärung des Falles. "Der Täter lebt nach wie vor in wahrscheinlich unmittelbarer Nachbarschaft", schreibt er in einem Brief an die Presse. Der Fall dürfe nicht totgeschwiegen werden. Unterdessen bekommt die Polizei immer wieder neue Hinweise – konkrete Spuren fehlen jedoch. Auch sei es schwierig, heißt es, zwischen Fakten und Gerüchten zu trennen.
Anfang 1998: Die Polizei bestätigt, dass weiter in dem Fall ermittelt wird. Man prüfe alte Spuren und profitiere von verbesserten kriminaltechnischen Möglichkeiten, insbesondere der DNA-Analyse. Neue Erkenntnisse gibt es zwar nicht, ein anonymer Anrufer macht aber Hoffnung: In einem Telefonat mit Sabines Schulrektor habe der Mann aus Lohr auf Parallelen zu einem ähnlichen Fall aufmerksam gemacht, der sich in den 1960er Jahren im Raum Aschaffenburg ereignet hat und ungesühnt ist. Aus dem Karlstadter Stadtrat wird erneut Kritik an den Ermittlern laut. Eine Wiesenfelder Stadträtin bittet sogar Innenminister Günther Beckstein um Unterstützung.
Februar 1998: Der anonyme Anrufer meldet sich bei der Staatsanwaltschaft. Die Spur verläuft aber im Sand – auch die telefonischen Hinweise von mehr als 60 weiteren Personen bringen keinen Erfolg. Innenminister Beckstein nimmt die Polizei indes in Schutz: Es sei sorgfältig ermittelt worden.
Donnerstag, 27. Mai 1999: Der inzwischen 21-jährige Marco F. stirbt bei einem Verkehrsunfall bei Wiesenfeld.
Samstag, 15. Dezember 2018: An Sabines 25. Todestag erinnert die Redaktion an die ungesühnte Tat. Auf Anfrage erklärt das Polizeipräsidium: Der Fall werde "nie zu den Akten gelegt" und "immer wieder überprüft".
Mittwoch, 20. Januar 2021: Die Polizei nimmt einen 44-Jährigen fest, den zum Tatzeitpunkt 17-Jährigen. Neu ausgewertete DNA-Spuren bringen ihn mit Sabines Tod in Verbindung.
Mittwoch, 27. Januar 2021: Die Staatsanwaltschaft bestätigt der Redaktion, dass auch ein 55-Jähriger beschuldigt wird. Bei den beiden Verdächtigen handelt es sich um die Männer, die 1994 im Rahmen des Prozesses vom Landgericht als mögliche Täter ins Spiel gebracht wurden. Einen Tag später gründet die Polizei erneut eine Ermittlungskommission und schaltet ein Hinweis-Telefon.
Mittwoch, 10. Februar 2021: Zu einer erneuten Befragung geht die Polizei in Wiesenfeld von Haus zu Haus – in der Hoffnung auf neue Zeugenaussagen.
Sonntag, 28. Februar 2021: Die Staatsanwaltschaft bestätigt; Sie hat nun DNA an der Kleidung des Opfers sichern können, "von Qualität und Beweiswert deutlich besser als das, was wir bisher hatten". Die Spuren stammen von dem zur Tatzeit 17-Jährigen, der seit Mitte Januar in Untersuchungshaft sitzt.
Dienstag, 2. März 2021: Zwei Zeugen belasten den Festgenommenen massiv, darunter seine eigene Schwester. Sie sagt, er habe seiner Mutter gegenüber auf die drängende Frage, ob er mit Sabines Tod etwas zu tun habe, gesagt: "Ich habe das so nicht gewollt." Ähnliches hatte er auch schon zuvor einem Bekannten bei einer Autofahrt gesagt, war dann aber wieder zurückgerudert: "War nur Spaß." Die Schwester sagte der Polizei auch, der Verdächtige habe sie als junges Mädchen über Monate hinweg wiederholt missbraucht.
Donnerstag, 1. April 2021: Der Verdächtige wird aus Untersuchungshaft freigelassen. Das Landgericht sieht keinen hinreichenden Tatverdacht dafür und erklärt auch die Durchsuchung beim Hofbesitzer für rechtswidrig
Donnerstag, 20. Mai 2021: Spezialisten des Landeskriminalamtes vermessen mit neuen Methoden den Tatort
Mittwoch, 22. Dezember 2021: Oberstaatsanwalt Thorsten Seebach erhebt nach 28 Jahren Anklage wegen Mordes im Fall Sabine B. gegen den heute 44-jährigen Bekannten von Sabine
Mittwoch, 5. Januar 2022: Der Hofbesitzer, der ebenfalls unter Verdacht geraten war, wird in seinem Haus tot aufgefunden. Von einer natürlichen Todesursache spricht die Staatsanwaltschaft und sein Anwalt, der ihm gerade erst mitteilen wollte, dass ihn das Gericht nicht länger als Verdächtigen sieht.
Mittwoch, 4. Mai 2022: Nach über fünfmonatiger Prüfung lehnt das Landgericht die Eröffnung eines Prozesses auf der Basis der Anklage ab: Den Richtern ist die Beweisdecke zu dünn.
Donnerstag, 5. Mai 2022: Oberstaatsanwaltschaft Seebach besteht auf einem Prozess und legt Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts ein. Nun muss das Oberlandesgericht in Bamberg entscheiden.
Dienstag, 20. September 2022: Bei einem Großbrand brennt die Scheune ab, in der Sabine getötet wurde. Die Brandursache ist zunächst unklar, die Staatsanwaltschaft betont aber, dass man längst alle Beweismittel am Tatort gesichert habe.
Freitag, 22. Dezember 2023: Nach 19 Monaten dauernder Prüfung entscheidet das Oberlandesgericht Bamberg fast am Jahrestag des Mordes an Sabine: Der Fall wird doch vor dem Landgericht Würzburg verhandelt. Wegen Besorgnis der Befangenheit landet der Fall nicht bei der Jugendkammer, die ihn zuvor abgelehnt hatte, sondern vor der Ersten Strafkammer.
Mittwoch, 28. August 2024: Das Gericht verkündet in einer Presseerklärung: Das Verfahren ist grundsätzlich nichtöffentlich. Aber akkreditierte Journalisten dürfen unter engen Spielregeln daran teilnehmen. Prozessbeginn ist am 9. September, es sind 60 Verhandlungstage bis zum Juli 2025 angesetzt.
Hinweis der Redaktion: In der Vergangenheit hat unsere Redaktion bei der Berichterstattung zum Mordfall Wiesenfeld den vollen Namen des Opfers verwendet. Auch die Polizei hatte den vollen Namen zur Fahndung benutzt. Auf Bitten der Angehörigen kürzen wir den Nachnamen künftig in der Berichterstattung über den Mordprozess ab.