"Dass der Mord an Sabine bisher ungeklärt war, lag wie ein Schatten über Wiesenfeld und hat alle bedrückt, die es miterlebt haben", sagt Theo Dittmaier. Der Mord an der 13-Jährigen, die am 15. Dezember 1993 verschwunden und zwei Tage später tot und misshandelt in der Jauchegrube eines Aussiedlerhofs gefunden worden war, sei "eines der schlimmsten Ereignisse, das jemals in unserem Dorf stattgefunden hat", sagt der Wiesenfelder, der heute Stadtrat in Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) ist. Nach 27 Jahren kam an diesem Mittwoch wieder Bewegung in den Fall, als die Polizei den Hof in Wiesenfeld erneut durchsuchte und einen Mann als dringend tatverdächtig festnahm.
Keine "sichere Gegend"?
Sabines Tod beschäftigt die Einwohner das Karlstadter Stadtteils bis heute. In Wiesenfeld weiß jeder etwas zu dem Mordfall zu sagen, das wird bei den Recherchen klar. Jeder kennt jemanden, der irgendwo dabei war, der irgendwann irgendetwas gehört hat, irgendjemanden beobachtet haben will.
Karlstadts Bürgermeister Michael Hombach erinnert sich, wie sehr ihn die Nachricht von der Tat als damals 15-Jährigen erschüttert hat: "Wir dachten, wir leben in einer sicheren Gegend, und das änderte sich von einem Tag zum anderen."
Ingo Röder, Wiesenfelder und ebenfalls Stadtrat in Karlstadt, ist nur ein Jahr älter als es Sabine heute wäre. Wie Sabine hatte er die Hauptschule in Karlstadt besucht, als Schülersprecher sprach er damals bei der Beerdigung an ihrem Grab. "Natürlich hat man die Geschichte nach so vielen Jahren ein wenig verdrängt", sagt er heute. Und: "An denen, die sie kannten, hat die Ungewissheit sicher immer genagt." Die Menschen im Ort wühlten der Polizeieinsatz und die Berichterstattung in den Medien auf, ist Röders Eindruck. Auch wenn er coronabedingt aktuell wenig persönliche Gespräche im Ort führt, sagt der Stadtrat: "Wenn der Fall nun abgeschlossen wird, kann das nur gut sein für Wiesenfeld."
Sein Stadtratskollege Dittmaier teilt die Einschätzung: "Am Mittwoch gab es laufend WhatsApp-Nachrichten über den Polizeieinsatz vor Ort. Nun herrscht im Dorf eine große Erleichterung und die Hoffnung, dass der Täter gefunden ist."
Wiesenfelder warten auf ein Urteil
Franz-Josef Scheeb, damals Stadtrat und zweiter Feuerwehrkommandant, erinnert sich noch gut an die Suche nach Sabine, daran, wie er mit gut 50 Leuten ein Waldstück durchkämmte. Auch 27 Jahre später wird Scheeb noch auf die Geschichte angesprochen. "Was ist denn eigentlich mit dem Mörder?" – diese Frage höre er seit Jahren. "Jeder in Wiesenfeld will, dass dieser Fall nun endlich aufgeklärt wird und Ruhe einkehrt", so Scheeb. Erleichterung könne sich aber erst einstellen, wenn ein Urteil gesprochen ist.
An Wiesenfeld führt für Karlstadter und Lohrer kein Weg vorbei, wenn sie sich gegenseitig besuchen wollen. Seit 1978 ist der Ort, der auf halber Strecke zwischen den beiden Städten liegt, ein Stadtteil von Karlstadt. Rund 1100 Menschen leben hier. Man spielt zusammen Tennis, engagiert sich im Fasching, trifft sich im neuen Dorfmittelpunkt, dem Dorfladen mit Café. Für Kabarettabende oder Kunsthandwerkermärkte kommen die Wiesenfelder – in Nicht- Corona-Zeiten – in der restaurierten ehemaligen Synagoge zusammen. Die Waldsassenhalle ist gern genutzter Veranstaltungsort, für den Kreisparteitag der CSU zum Beispiel. Einen Gasthof gibt es heute im Ort. Die Sparkasse hat ihre Filiale hier zum Jahresende gerade geschlossen.
Wiesenfelder wandten sich 1997 an den Innenminister
Dass einer von ihnen etwas mit dem Mord an Sabine zu tun habe, davon waren die Wiesenfelder in den ersten Jahren nach der Tat überzeugt. Auch wenn es einige nicht wahrhaben wollten. Verärgert waren sie von der Arbeit der Polizei, die in ihren Augen nicht gründlich genug ermittelt hatte. Schülerinnen aus Wiesenfeld hätten Angst gehabt, sich im Dorf frei zu bewegen, berichtete der Rektor von Sabines Schule damals.
Die damalige Stadträtin Paula Werthmann, die von ihrem Haus aus über Wiesen hinweg den Aussiedlerhof sehen kann, verlieh dem Unmut der Wiesenfelder 1997 in einem Brief an Innenminister Günter Beckstein (CSU) Ausdruck. Scharf kritisierte sie die "stümperhafte" Ermittlungstaktik der Polizei. Der Eindruck der Wiesenfelder sei, dass die Justiz die Akte Sabine nach dem Freispruch des zunächst verdächtigen 15-jährigen Schülers 1994 geschlossen habe, teilte sie dem Innenminister mit. Dass der Fall jetzt mit besseren Ermittlungsmethoden wieder aufgerollt wird, freut Werthmann: "So etwas kann man nicht einfach unter den Tisch kehren und auf sich beruhen lassen."
Mordfall blieb immer Thema im Ort und im Landkreis
Werthmann kannte Sabine und ihre Eltern, und sie engagierte sich sehr für den Fall. Hin und wieder hat sie Kontakt mit dem "Rächer von Wiesenfeld", einem Mann, dem der Mordfall einfach keine Ruhe gelassen hatte. Weil er gegenüber Angehörigen von Verdächtigen übergriffig geworden war, stand er selbst schon vor Gericht. Dieses Verhalten sei manchen im Ort schon zu viel geworden, sagt die Wiesenfelderin. Doch auch sie sieht in einer Aufklärung des Falls die einzige Chance, dass Ruhe im Dorf einkehrt. Wie Franz-Josef Scheeb hat auch sie in den vergangenen 27 Jahren immer wieder Nachfragen nach Sabine ertragen müssen. "Bei Euch war doch dieser Mord..."
"Die Polizei hätte mehr Leute befragen müssen, bei manchen mehr nachbohren müssen", sagt Paula Werthmann rückblickend. Jetzt könnte der Fall doch noch aufgeklärt werden: Seit Donnerstagabend sitzt ein 44-Jähriger, der als 17-Jähriger schon damals ins Visier der Ermittler geraten war, in Untersuchungshaft.
Er enthält keinerlei weitere Informationen zu Sache.