
Die Einwohnerinnen und Einwohner des idyllisch gelegenen Gemündener Ortsteils Schaippach durften sich in den letzten Monaten an einer neuen Attraktion erfreuen. An der vorbeifließenden Sinn, genauer gesagt an der historischen Sinnbrücke, wurde seit August ein Wassererlebnis geschaffen, bei dem nicht einmal die Münchener Eisbachwelle mithalten kann: zwei künstlich angelegte Gezeitenbecken!
Wäre das im Binnenstaat Bayern nicht schon Alleinstellungsmerkmal genug, beinhaltet die Kunstinstallation darüber hinaus eine raffinierte kulturhistorische Dimension. In einer Verneigung an John Cages musikalisches Langzeitexperiment ORGAN²/ASLSP wechselten sich Ebbe und Flut in den beiden "temporäre Arbeitsebene" genannten Becken rechts und links der Sinnbrücke nämlich nicht innerhalb weniger Stunden ab, sondern über den Zeitraum mehrerer Monate.
Begonnen hat das Spektakel im August, indem mithilfe großer, mit Schotter gefüllter Plastiksäcke die beiden Gezeitenbecken provisorisch trockengelegt und damit die erste Ebbe simuliert worden war. Nachdem sich die Stauvorrichtung im Laufe der folgenden Monate planmäßig aufgelöst hatte, wurde zum Jahreswechsel das Flutstadium erreicht und die Arbeitsebenen standen wieder komplett unter Wasser.
Gemündener Bürgermeister trotzt den Kunstbanausen
Von den Kunstbanausen, die ihr Unverständnis über den Ablauf dieses zweiten Aktes geäußert hatten, ließ sich Jürgen Lippert, Gemündens Bürgermeister und damit Produzent des Projekts, nicht beirren. Die zweite Ebbe – der geplante Höhepunkt des Dramas in drei Akten – initiierte er pünktlich für Anfang März. Dieses Mal wurden die Gezeitenbecken mithilfe einer 95.000 Euro teuren Stahlkonstruktion trockengelegt.
Und das Ergebnis kann sich sehen lassen: Wie bei Christos "Floating Piers" könnte man über die Arbeitsebenen nun theoretisch inmitten der Sinn gelangen – würde für das fragile Kunstwerk, mit Ausnahmen für Bagger und Planierraupen, nicht ein striktes Betretungsverbot gelten. Bewundert werden kann die zweite Ebbe voraussichtlich bis zum 1. Juli. Dann sollen die Stahlwände spätestens ab- und am gegenüberliegenden Ufer wieder aufgebaut werden.
Flussabwärts lockt eine weitere neue Tourismusattraktion

Wem diese Kumulation der Hochkultur noch nicht genug ist, muss sich im Anschluss an seinen Besuch in Schaippach nur auf sein Eisbachwellensurfbrett legen und von der Sinn vier Kilometer bis zu ihrem Zufluss in den Main treiben lassen. Von dort ist es nur ein Katzensprung zu einer anderen neuen Gemündener Tourismusattraktion: dem janusköpfigen Auto-Wrack.
Der dunkelblaue Audi ist in seinen hinteren zwei Dritteln kaum von einem herkömmlichen Fahrzeug zu unterscheiden. Den Motorraum hat ein unbekannter Performancekünstler jedoch bis hinunter auf sein Innenleben dekonstruiert. Ein atemberaubendes Beispiel kathartischer Kunstauslebung – oder handelt es sich dabei vielleicht nur um das Gesellenstück eines der Arbeiter, die in der nahegelegenen Ladestraße den ehemaligen Getränkemarkt Weimann zerlegen? Kunst oder nicht, wer den Janus-Audi noch auf dem Mainlände-Parkplatz besichtigen möchte, sollte sich sputen. Das Ordnungsamt hat bereits Interesse angemeldet, wird das Wrack aber aller Voraussicht nach nicht ins örtliche Museum transportieren.