
Seine Partituren sehen aus wie Grafik-Kunstwerke, die Töne seiner Kompositionen würfelte er gerne aus. John Cage (1912 bis 1992) gilt als revolutionärer Erneuerer der Musik im 20. Jahrhundert. So revolutionär ging der US-Komponist zu Werke, dass er in Deutschland jahrzehntelang von Kollegen als Scharlatan geächtet wurde. Heute ist die Leistung des Mannes, der den Klang kostbarer Konzertflügel mit Schrauben und Radiergummis manipulierte und den Zufall zum Kompositionsprinzip erhob, unangefochten. Am 5. September 1912, also heute vor 100 Jahren, wurde er geboren. In Würzburg widmet sich die Reihe „Open Cage“ dem Werk des musikalischen Querdenkers (siehe Kasten).
„Es steckt auch Misstrauen gegen den eingefahrenen Kulturbetrieb dahinter“, sagt Hermann Schneider über die Arbeitsweise von John Cage. Der Intendant des Würzburger Mainfranken Theaters hat schon mehrfach Bühnenwerke des Amerikaners inszeniert, zuletzt „Europera 5“ im Theater der Würzburger Musikhochschule. Wobei „inszeniert“ Schneiders Tätigkeit im Fall des Cage'schen Werkes nicht wirklich trifft: Nicht der Regisseur, sondern Zufall und Uhr entschieden darüber, welcher Sänger, welche Sängerin wann wo auf der Bühne zu stehen hat. Die Wahl der Arien hat Cage ebenso den Darstellern überlassen wie die Wahl der Kostüme. Schneider sieht da auch Ironie am Werk: Cage habe „eine befreiende humoristische Art“, hatte er bei den Proben zu „Europera 5“ gesagt.
Fernöstliche Philosophie
Hinter dem Spiel mit dem Zufall steckt mehr als augenzwinkernde Kritik. Es geht immer auch um das Ausloten von Grenzen, um Freiheiten, darum, den Hörer durch völlig Unerwartetes zum Nachdenken zu bringen, ihn aus seinem Alltagstrott zu reißen – und vielleicht offenzumachen für all das Ungewöhnliche, das ihn umgibt. Cage interessierte sich schon früh für fernöstliche Philosophien. Unter dem Eindruck einer Lebenskrise – der Trennung von seiner Frau – befasste sich der in Los Angeles geborene Sohn eines Erfinders intensiv mit dem Zen-Buddhismus. Das taten viele, aber John Cage setzte die Zen-Philosophie radikal in die Musik um: Um aus dem Ich, dem Subjektiven, herauszutreten, machte er den Zufall zum Kompositeur. Die Tonhöhe und Dauer bestimmte er mit Würfeln, dem Werfen von Stäbchen, oder er nahm den Sternenhimmel als Vorbild für die Partitur.
Und er setzte Meditation in Musik um. Wer die Burchardi-Kirche in Halberstadt besucht, kann das erfahren. Er lernt den Wert jedes einzelnen Tones kennen. Dort läuft Cages Orgelkomposition „Organ²/ASLSP“. Zu spielen sei das Werk „as slow as possible“ – so langsam wie möglich, bestimmte Cage. In Halberstadt nimmt man das ernst. Das Stück läuft dort seit 2001. Die Klänge folgen einander unendlich langsam. Der jüngste Klangwechsel – der zwölfte – erfolgte am 5. Juli, der nächste wird am 5. Oktober 2013 sein. Insgesamt soll die Aufführung 639 Jahre dauern. Wer die Orgel hört, darf darüber grübeln, in welchem Zustand die Welt in über sechs Jahrhunderten sein wird. Wird das Instrument noch spielen? Wird es noch Menschen geben, die den Schlusston hören können?
Cage hatte als Vierjähriger Klavierspielen gelernt. Als er 1928 mit dem Studium begann, waren seine Interessen breit gefächert: Musik, Poesie, Bildende Kunst, Architektur. Er war auch Schachspieler, Pilzforscher und Koch. Als „stillen, bedächtigen Menschen“ hat ihn der Dirigent Ingo Metzmacher erlebt. In Filmdokumenten sieht man Cage oft lachen – ein fröhlicher Mensch, der das Leben liebt. Ab 1934 studierte er zwei Jahre Komposition bei Arnold Schönberg in Los Angeles. Dabei wurde ihm klar: Harmonien interessieren ihn nicht. Seine frühen Klavierstücke befreien sich allmählich von allen Regeln des Komponierens: Keine Tonarten, aber auch keine Zwölftontechnik a la Schönberg. Stattdessen: Ein Spiel mit der Stille, dem Geräusch und eben dem Zufall. Nach dem Studium lehrte der Komponist, der auch mal Priester werden wollte, an verschiedenen Instituten und schrieb Musik für die Tanztruppe des Avantgarde-Choreografen Merce Cunningham, seines späteren Lebenspartners.
Das präparierte Klavier
Cage liebte Experimente. Als er 1940 eine rhythmische Begleitmusik für das Tanzstück „Bacchanale“ komponieren wollte, im Theater aber kein Platz für Schlaginstrumente war, präparierte er kurzerhand den kleinen Flügel vor der Bühne mit Alltagsgegenständen auf den Saiten im Inneren. Schrauben, Plastikstücke und Radiergummis ließen das Klavier bollern, scheppern und zirpen, die Töne traten zurück – fast wie bei einem Schlagzeug. In einem Präparationsplan am Anfang der Partitur legte Cage genau fest, welches Material auf welche Saite zu legen war. Ein völlig neuer Klavierton war geboren.
Die Notation in freien Systemen mit Linien und Punkten zwingt den Musiker stärker zum Mit-Schöpfen. Auch so krempelt Cage den Konzert- und Opernbetrieb um. Er entmachtet Dirigenten und Regisseure, nimmt Musiker und Sänger in die Verantwortung. Die dürfen ihre Kreativität ausleben.
Cages bekanntestes Werk ist „4' 33''“. Da setzt sich der Pianist an den Flügel, öffnet ihn, spielt aber nicht. Nach vier Minuten und 33 Sekunden schließt er den Flügel und verbeugt sich vor dem amüsierten oder konsternierten Publikum. Das hat wieder mit Ironie zu tun und damit, den Konzertbesucher aus seiner Erwartungshaltung zu werfen. Aber auch hier steckt mehr dahinter: Das Lachen der Zuhörer, ihr Protest, das Geräusch scharrender Füße, das Hüsteln und Atmen aus dem Saal werden zu Musik. Cage ist auch ein Meister der Stille – und der Geräusche, die irgendwann jedwede Stille durchbrechen. Text:epd/dpa/hele
Cage in Würzburg
Die Reihe „Open Cage“ bietet noch folgende Veranstaltungen:
7. Oktober, 11 Uhr, Toscanasaal der Residenz: Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Würzburg spielen Cage.
17. Oktober, 20.30 Uhr, Kino Central: „John Cage: One11 and 103“.
24. Oktober, 20 Uhr, Toscanasaal: Armin Fuchs am präparierten Klavier.
10. November, 11 und 14 Uhr, Kammermusiksaal der Musikhochschule: Cage für Kinder.
11. November, 11.11 Uhr, BBK-Galerie: Musik für Pflanzenmaterial von Cage und anderes.
17 Uhr, Musikhochschule: Wintermusik; 20 Pianisten an 20 Klavieren stimmen auf die kalte Jahreszeit ein.
1. Dezember, 20 Uhr, Plastisches Theater Hobbit: Performance zu Cages Gedankengut.