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Landkreis Kitzingen
1700 Jahre Juden in Deutschland: Schicksale im Landkreis Kitzingen
Im Jubiläumsjahr startet die Redaktion eine Serie über Juden im Landkreis Kitzingen. Gastautor Wolf-Dieter Gutsch hat dafür Geschichte und Geschichten zusammengetragen.
Die Türme der Alten Synagoge in Kitzingen. Heute ist das ehemalige jüdische Gebetshaus ein Kulturzentrum.
Foto: Hans Will | Die Türme der Alten Synagoge in Kitzingen. Heute ist das ehemalige jüdische Gebetshaus ein Kulturzentrum.
Wolf-Dieter Gutsch
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:15 Uhr

Das Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ist für die Redaktion Anlass, Spuren ehemaliger jüdischer Mitbürger im Landkreis Kitzingen vorzustellen. Gastautor Wolf-Dieter Gutsch hat sich mit ihrer Geschichte beschäftigt und stellt in loser Folge Familienschicksale vor.

Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Anführer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Mit diesem ersten Schritt der "nationalsozialistischen Machtergreifung" begannen die dunkelsten Jahre der Geschichte Deutschlands.

Zwar dauerte diese Ära nur etwas mehr als zwölf Jahre, aber sie kostete Abermillionen von Menschen das Leben. Darüber hinaus hatten die Nationalsozialisten die Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen beschlossen. Hierzu zählten nicht nur die politischen Gegner, sondern beispielsweise Geistliche, Homosexuelle, Sinti und Roma, körperlich und geistig behinderte sowie psychisch kranke Menschen – und in erster Linie die Juden.

1700 Jahre Juden in Deutschland: Schicksale im Landkreis Kitzingen

Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, gab es unter etwa 66 Millionen Einwohnern fast genau 500 000 Deutsche, etwa 0,8 Prozent, die sich zur jüdischen Religion bekannten. Es ist jedoch bemerkenswert, dass damals von den deutschen Tierärzten etwa 1,3 Prozent jüdisch waren, unter ihnen der aus Altenschönbach stammende Dr. Ludwig Rosenthal, von den Zahn- und Humanmedizern etwa 10,5 Prozent, so auch der Sanitätsrat Dr. Siegfried Öttinger aus Kitzingen, und von den deutschen Nobelpreisträgern sogar ungefähr 30 Prozent.

Die meisten Juden Bayerns lebten in Unterfranken

Unterfranken war von den Regierungsbezirken derjenige mit der größten jüdischen Bevölkerungsdichte. 1933 wurden 8520 jüdische Bürger in 115 Kommunen mit 107 Kultusgemeinden gezählt, was einem Bevölkerungstanteil von knapp einem Prozent entspricht. Jüdische Bürger haben auch im Landkreis Kitzingen zum wirtschaftlichen Leben und allgemeinen Wohlstand wesentlich beigetragen; sie waren oft die größten Steuerzahler. Von den um 1900 in Kitzingen ansässigen etwa 100 Weinhändlern war mehr als die Hälfte jüdischen Glaubens. 

Während wir seit dem Jahre 321 aus einer Urkunde des römischen Kaisers Konstantin von der Existenz jüdischer Einwohner in den damaligen römischen Zentren am Rhein wissen, scheint es erst viel später zur Entstehung jüdischer Gemeinden in Franken gekommen zu sein. In Nürnberg werden Juden erst 1146 erwähnt, in Würzburg 1147, in Kitzingen 1243 und in Iphofen 1293.

Kaufleute und Kreditgeber

Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Juden vor den Pogromen anlässlich der 1096 beginnenden Kreuzzüge aus den Städten Worms, Trier, Speyer, Mainz und Köln in die östlichen Gebiete des Reiches geflohen sind und sich dort als Kaufleute und Kreditgeber niederließen. Sie standen unter dem Schutz von Territorialherren, denen sie sowohl als lukrative Quelle für Abgaben wie auch für die Abwicklung der Geldgeschäfte dienten.

Zunächst scheint es für einige Jahrzehnte eine friedliche Phase des Zusammenlebens von Christen und Juden in Franken gegeben zu haben. Doch ab dem Ende des 13. Jahrhunderts kam es in großer Zahl zu Vertreibungen und Pogromen. 1298 fand in Franken die "Rintfleisch-Verfolgung" gegen Juden statt, die von einem Ritter namens Rintfleisch angeführt wurde und auf einem angeblichen Hostienfrevel beruhte. 1336/37 folgten die "Armleder-Pogrome" – ausgehend von einer ähnlichen Beschuldigung in Röttingen – und 1348/49 die Pogrome wegen angeblicher "Brunnenvergiftung" in der Pestzeit.

Jüdische Gemeinden waren stets gefährdet

In den Folge war die Existenz der jüdischen Gemeinden in Unterfranken stets gefährdet; es kam immer wieder zu Vertreibungen – so im Jahr 1575, als Fürstbischof Julius Echter die Juden aus dem Hochstift Würzburg ausweisen ließ.

Da sich die Reichsritterschaft aber 1548 von Kaiser Karl V. das "Judenregal" erwirkt hatte, fanden die Ausgewiesenen Zuflucht in vielen kleineren Orten und so entstanden neue jüdische Gemeinden. Allerdings hatten sie oft nur wenige Mitglieder und waren meist nicht finanzkräftig, denn die Juden mussten überwiegend vom Klein- bzw. Hausierhandel leben und und hatten den Dorfherren meist hohe Zahlungen zu leisten.

Auswanderungswelle aus Franken

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Unterfranken dem neuen Königreich Bayern einverleibt wurde, kam es mit dem "Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern" 1813 (1817 in Unterfranken) zu einschneidenden Regelungen für das jüdische Leben. Die Juden mussten jetzt "bürgerliche" Familiennamen annehmen und konnten Grundbesitz erwerben; den Kindern wurde der Besuch der öffentlichen Schulen erlaubt. Allerdings war die Anzahl der jüdischen Familien in den Wohnorten festgeschrieben.

Ab etwa 1840 kam es deshalb zu einer Auswanderungswelle aus Franken. Hauptsächlich die Söhne der jüdischen Familien suchten angesichts der mangelnden Aussicht auf Gründung einer Familie und einer auskömmlichen Existenz ihr Glück im Ausland, vorwiegend in Nordamerika. Deshalb gingen viele hoffnungsvolle junge Menschen ins Ausland und trugen dort erheblich zur Entwicklung ihrer neuen Heimat bei.

Kurze Phase der Verbesserungen

Ab 1861 konnten jüdische Bürger ihren Wohnsitz in Bayern und ihren Beruf frei wählen. Aus diesem Grunde siedelten viele Familien in der Folge von den Dörfern in die kleinen, mittleren und größeren Städte über, während sich viele dörfliche jüdische Gemeinden auflösten.

So entstand 1865 in Kitzingen, von wo 1763 die jüdischen Einwohner wegen einer religiösen Auseinandersetzung von den Stadtoberen vertrieben worden waren, wieder eine Israelitische Kultusgemeinde. Die Mitgliederzahl wuchs rasch an; 1883 konnte eine neue, repräsentative Synagoge erbaut werden. Im Gegenzug verschwanden jüdischen Gemeinden wie in Rimbach, Öttershausen und Hohenfeld.

Vorfahren Adornos waren aus Dettelbach

Die staatsbürgerliche Gleichstellung der jüdischen mit den christlichen Nachbarn erfolgte erst bei der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871. Nun hatten Juden das aktive und passive Wahlrecht, sie konnten Staatsbeamte werden und akademische Karrieren einschlagen. Das gelang im Justizwesen unter anderem dem aus Prichsenstadt gebürtigen Justizrat Dr. Martin Fleischmann in Nürnberg oder dem jüdischen Zahnarzt Dr. Hermann Schur, der um 1933 in Kitzingen praktizierte. Der bekannte Sozialphilosoph Theodor W. Adorno hat ebenfalls Wurzeln im Landkreis. Das W. steht für Wiesengrund, den Familiennamen seiner Vorfahren in Dettelbach.

Auf der örtlichen Ebene engagierten sich jüdische Mitbürger in zahlreichen Ehrenämtern, so zum Beispiel Veist Hennochstein als Führer eines Löschzuges in Altenschönbach, Bernhard Frank als langjähriger Vorsitzender des Turnvereins Prichsenstadt oder die Stadträte Salomon Weinberg in Marktbreit sowie Max Fromm und Isidor Ullmann in Kitzingen.

Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs in Rödelsee.
Foto: Werner Kappelmann | Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs in Rödelsee.

Im Ersten Weltkrieg war es für die überwiegend national und konservativ eingestellten jüdischen Männer in Deutschland keine Frage, "für Kaiser, Volk und Vaterland" als Soldaten zu kämpfen. Hiervon zeugen die zahlreichen Namen jüdischer Gefallener auf den Gedenktafeln der Gemeinden und Friedhöfe.

Als jedoch 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, zählte all dies nicht mehr. Jüdische Mitbürger wurden durch den Staat ausgegrenzt, entrechtet und ausgeplündert. Von staatlicher Seite wurden viele judenfeindliche Aktionen organisiert, beispielsweise der Novemberpogrom 1938. Hinzu kamen zahlreiche unorganisierte Demütigungen und Übergriffe durch fanatische Anhänger des Nationalsozialismus.

Wer von den jüdischen Bürgern in der Zeit des "Dritten Reiches" nicht das Glück hatte, rechtzeitig sein Leben durch Emigration retten zu können, wurde ab 1941 Opfer der "Endlösung der Judenfrage", der systematischen Ermordung. Aus Unterfranken wurden insgesamt 2069 jüdische Kinder, Frauen und Männer in die Ghettos und Vernichtungslager in den eroberten Gebieten im Osten sowie in das "Altersghetto" Theresienstadt deportiert. Nur wenige überlebten; der Rest wurde durch Hunger, Krankheit oder in Gaskammern ermordet.

Nur eine Jüdin kehrte nach dem Krieg zurück

Von den Überlebenden aus dem Landkreis Kitzingen, die an den Fingern einer Hand abzuzählen sind, kehrte kaum einer an seinen ehemaligen Heimatort zurück. Und wenn, dann nur vorübergehend auf dem Wege zur Emigration. Es ist nur ein Fall einer Überlebenden bekannt, die dauerhaft zurückkehrte: Klara Reiß aus Marktbreit.

Von den ehemals vorhandenen 107 jüdischen Kultusgemeinden in Unterfranken ist nur eine einzige geblieben. In Würzburg gründeten noch im Jahre 1945 etwa 30 Überlebende, die hauptsächlich aus Theresienstadt zurückgekehrt waren, wieder eine eigene Gemeinde.

Vier Stolpersteine erinnern in der Rosenstraße Nr. 17 in Kitzingen an die Weinhändlerfamilie Oppenheimer.
Foto: ArchivWerner Karl | Vier Stolpersteine erinnern in der Rosenstraße Nr. 17 in Kitzingen an die Weinhändlerfamilie Oppenheimer.

Ansonsten ist im Landkreis Kitzingen in der Nazizeit das jüdische Leben vollständig ausgelöscht worden. In manchen Orten erinnern Gedenktafeln oder kleine Denkmäler, manchmal "Stolpersteine", an die oft jahrhundertelange Existenz jüdischer Menschen, aber längst nicht in allen Gemeinden. 

Dass 2020 am Hauptbahnhof in Würzburg der "Denkort Deportationen" eingeweiht wurde, ist jedoch ein bemerkenswertes Zeichen für das offene und ehrliche Bekenntnis unserer Gesellschaft zu unserer Geschichte. Es drückt Achtung vor dem menschlichen Leben und Respekt für die Menschenwürde aus. "Wer heilen will, muss sich erinnern!" (Joseph R. Biden, 46. Präsident der USA)

Wolf -Dieter Gutsch

Wolf-Dieter Gutsch, Wiesentheid
Foto: Archiv Wolf-Dieter Gutsch | Wolf-Dieter Gutsch, Wiesentheid
Gastautor Wolf-Dieter Gutsch (71) aus Wiesentheid ist Mitbegründer und Sprecher des Arbeitskreises "Stolpersteine – Erinnern und Gedenken" im Verein Alt Prichsenstadt e. V.
Seit er 15 Jahre alt ist, beschäftigt sich Gutsch mit der Historie der Juden, intensiv seit seinem Ruhestand. Gutsch war früher Lehrer am Gymnasium in Wiesentheid.
Die Geschichte der Juden in Unterfranken und im Landkreis Kitzingen hat der Autor recherchiert und beispielhafte Familienschicksale für diese Kurzserie im Jubiläumsjahr zusammengetragen.
abra

Lesen Sie auch unsere Serie zum Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland":

 
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