Man stelle sich vor, man wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer, zum Beispiel ein Totholz liebender Eremit. Fortan ist man nicht mehr die vermeintliche Krone der Schöpfung, sondern gilt in den Augen einstiger Artgenossen als "Ungeziefer". Dieses Schicksal widerfährt Gregor Samsa in Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung". Und wer die Erzählung kennt, der weiß, dass sie nicht gut ausgeht. Zumindest nicht für den Käfer.
Ein Käferparadies im Sailershäuser Uni-Wald
Im Universitätswald in Sailershausen hat man als Käfer eher wenig zu befürchten. Das dort von der Uni Würzburg seit drei Jahren umgesetzte und von der Europäischen Union mitfinanzierte Projekt "Life SPAN" fördert und schafft auf 18 über den Uni-Wald verteilten Versuchsflächen Totholz-Lebensräume. Rund 30 Prozent aller Waldbewohner – vor allem Käfer, Pilze und Flechten, aber auch andere Lebewesen wie Vögel, Fledermäuse oder Schmetterlinge – brauchen totes oder sterbendes Holz zum Leben und Überleben.
"Wir entwickeln hier Managementlösungen, die uns allen helfen, die biologische Vielfalt in Wirtschaftswäldern zu erhalten, und zwar möglichst ohne wirtschaftliche Nachteile", erklärt die Projektverantwortliche, Ruth Pickert, bei einem Workshop, zu dem vor kurzem an zwei Tagen gut 30 Menschen in die Haßberge gekommen waren. Menschen, die in und mit den Wäldern arbeiten, aber auch interessierte Laien.
"Managementlösung" ist ein großes Wort und der Weg dorthin mühsam, muss der Mensch doch erst einmal einsehen, dass auch ein Käfer seinen berechtigten Platz im Ökosystem Erde hat und dass das eine ohne den anderen auf längere Sicht nicht überleben kann. Das weiß auch Hans Stark.
Er ist seit 2003 Leiter des Universitätsforstamts in Sailershausen. Er sagt: "Zu vermitteln, was wir hier machen und warum, ist schwer – vor allem übers Telefon." Er habe schon von einigen Spaziergängerinnen und Spaziergängern böse Anrufe bekommen. "Sie fragen: Warum lasst Ihr dort alles verkommen? Warum räumt Ihr das tote Holz im Wald nicht auf, ich komm' da mit meinem Dackel nicht mehr durch. Und warum beschädigt Ihr auch noch gesunde Bäume?" Manche sprächen gar von "Waldverwüstung", erklärt er.
Der Lehrpfad zum Thema Totholzlebensräume, den die Uni in Sailershausen kürzlich eingerichtet hat, gibt Antworten auf solche Fragen. In geführten Gruppentouren vermitteln die Wissenschaftler ab sofort interessierten Schülerinnen, Schülern, Studierenden oder auch Senioren, warum Artenvielfalt in unseren Wäldern so wichtig ist und was wir für ihren Erhalt konkret tun können.
Auch Marcel Waffler, Förster bei der Forstbetriebsgemeinschaft Haßberge, wirbt in seinem Beratungsalltag immer wieder für Totholz und dessen ökologischen Wert. So erklärt er zum Beispiel Privatwaldbesitzern, warum Bäume erhaltenswert sind, wenn sie anderen Arten Lebensraum bieten. Sei es eine Baumhöhle, klebriger Ausfluss oder ein schleimiger Pilzfruchtkörper. Oder er schlägt vor, mehr Lücken im Wald zu schaffen, damit wieder Licht, Wärme und Wasser hineinkommen, junge Bäume emporwachsen können und der Wald sich so natürlich verjüngt. Kurzum: Waffler versucht für Artenvielfalt im Wald zu begeistern.
Ordnung ist hier fehl am Platz
Sein Kollege Till Zimmermann, ebenfalls Förster, hat für die mangelnde Begeisterung seiner Gegenüber mehrere Erklärungen: "Viele Privatwaldbesitzer betrachten den Wald immer noch in erster Linie als Brennholzlieferant. Manche nehmen zu wenig Holz raus, beispielsweise aus ökonomischen Gründen, weil das Holz später ja mehr wert sein könnte." Andere hätten es gerne "ordentlich" und würden alles entfernen, was "rumliegt", inklusive "schwacher" Bäume, selbst wenn diese anderen Arten wertvolle Mikrolebensräume bieten.
Aber auch emotionale Beweggründe spielen laut Zimmermann eine wichtige Rolle. Er höre immer noch Sätze wie "Die Bäume hat der Opa noch gepflanzt, die können wir nicht rausnehmen." Dass der Wert und die Widerstandsfähigkeit des Waldes in Zeiten von Klimakrise, Arten- und Waldsterben dann aber ab- und nicht zunehmen, sei mit Worten kaum zu vermitteln.
Eine Schulungssoftware soll Waldpraktiker aufklären
Eine Schulungssoftware, die im Rahmen des Workshops in Sailershausen ebenfalls vorgestellt wurde, soll diese Vermittlungsarbeit nun leichter machen. Und tatsächlich ließen die beiden Haßfurter Förster nach dem Test der Software die zarte Hoffnung durchschimmern, mit ihr künftig vielleicht mehr Menschen zum Umdenken zu bewegen.
Entwickelt wurde die Schulungssoftware vom "European Forest Institute" mit Hauptsitz in Finnland. Das Programm kommt bereits auf 225 Flächen in ganz Europa zum Einsatz. Ab sofort auch im Uni-Wald in Sailershausen. Dafür haben dort mehrere Förster ein Areal von einem Hektar inventarisiert, haben Bäume vermessen, kartiert, sie nach ihrem ökonomischen und ökologischen Wert eingestuft und mit Nummern versehen.
Mithilfe einer Software einmal "Förster spielen"
Sämtliche Bäume werden nun in der Software abgebildet und bei Schulungsteilnehmern für viele Aha-Erlebnisse sorgen. Davon ist Daniel Kraus überzeugt. Er ist aktuell Leiter eines Forstbetriebs der Bayerischen Staatsforsten im Frankenwald, übernimmt in Kürze die Leitung des Forstsamts in Sailershausen und ist bereits mit der Software vertraut.
"Mit dieser Anwendung kann man für einige Stunden 'Förster spielen'." Wer die Software nutzt, könne auf dem Tablet virtuell Bäume entnehmen oder schützen – und sehen, welche konkreten ökonomischen und ökologischen Auswirkungen seine Handlungen auf den Wald haben.
"Außerdem bekommt er auch eine Ahnung davon, welche komplexen Entscheidungen Förster und Försterinnen tagtäglich zu treffen haben, weil der Wald von uns Menschen mit unterschiedlichsten Wünschen überfrachtet wird", sagt Kraus. Denn die Wunschliste ist lang. Grün soll er sein, gute Luft soll er produzieren, CO₂ binden, Nährstoffe anreichern, Wasser speichern und abgeben, die Umgebung kühlen, Profit abwerfen und hochwertiges Holz liefern. Daneben am besten noch Achtsamkeit lehren, zur Erholung dienen. Und Totholz soll er auch noch produzieren.
Nimmt man es ganz genau, ist selbst dieser Text, zumindest für die Printausgabe, auf totem Holz gedruckt. Und vermutlich ist es dem käfergewordenen Gregor Samsa aus Kafkas Erzählung auch nur deshalb gelungen, sich bis hier, bis an den Schluss des Textes durchzufressen. Erst durch die Verwandlung zum Käfer kommt Gregor Samsa zu völlig neuen Erkenntnissen. Neue Erkenntnisse ermöglicht indes auch ein Besuch im Sailershäuser Wald. Sich für die Dauer des Besuchs zumindest mental einmal in die Haut beziehungsweise in den Panzer eines Käfers hineinzuversetzen, könnte hilfreich sein, ist aber kein Muss.
Wer sich für eine Gruppenführung auf dem Lehrpfad zum Thema Totholzlebensräume oder für eine Übung mit der Schulungssoftware für Waldpraktiker interessiert, kann sich an die Ökostation in Fabrikschleichach wenden, am besten per E-Mail: ruth.pickert@uni-wuerzburg.de.