
Fast 670.000 Männer und Frauen in Deutschland haben 2024 der evangelischen oder katholischen Kirche den Rücken gekehrt: Wegen der Missbrauchsskandale, um sich die Kirchensteuer zu sparen, weil sie die Glaubensinhalte nicht teilen. Die allerwenigsten unter ihnen dürften von jenem Mann wissen, der religionskritischen Kreisen zufolge in den letzten 60 Jahren maßgeblich zu dieser Befreiung aus kirchlichen Fesseln beigetragen hat: Karlheinz Deschner aus Haßfurt, für viele seiner Bewunderer der größte Religions- und Kirchenkritiker aller Zeiten.
Bei einer etwas verspäteten Gedenkveranstaltung zu seinem 100. Geburtstag und 10. Todestag (Deschner kam 1924 zur Welt und starb 2014), erinnerten Stadt und Kulturforum Haßfurt vergangene Woche an den "Schriftsteller, Aufklärer, Provokateur". Mit dabei der Autor und Philosoph Michael Schmidt-Salomon (57), Wegbegleiter Deschners in dessen letztem Lebensdrittel und Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, sowie Verleger Gunnar Schedel (60), in dessen Alibri-Verlag (Aschaffenburg) viele Bücher Deschners neu erschienen sind.
Jahrzehntelang hatte sich Deschner an den christlichen Kirchen abgearbeitet. Fasst man es kurz, war er dabei zu folgendem Urteil gekommen: Das Christentum, das aus Liebe töte, foltere, raube, erpresse, entehre, verteufele und verdamme, sei selbst zum Antichristen geworden. "Jener Teufel, den es an die Wand malte, er war es selber", sagte Deschner einst. Dass es in Deutschland inzwischen mehr Konfessionslose als Mitglieder der beiden großen Kirchen zusammen gibt, werteten die Deschner-Fans am vergangenen Donnerstag in Haßfurt gerade als Erfolg seiner Aufklärungsarbeit.
In religionskritischen Kreisen ein Superstar
Von den einen geliebt, von den anderen gehasst. Mit Deschner in Berührung kommen vor allem jene, die beruflich oder aus freien Stücken mit Philosophie, Theologie oder Geschichte zu tun haben und dabei auf die dunklen Seiten von Kirche und Christentum stoßen. In religionskritischen Kreisen, für viele Atheisten, Agnostikerinnen, Freidenker oder Kirchengegnerinnen, ist Deschner ein Superstar. Er selbst hatte einst mit Augenzwinkern festgestellt: "Berühmte sind Leute, die man etwas später vergisst."

Die breite Öffentlichkeit allerdings hatte nie groß von ihm Notiz genommen. Was daran lag, dass der Schriftsteller menschenscheu war, zurückgezogen lebte. Zudem hätten Medien und Gesellschaft auf die Kompromisslosigkeit seiner Aufklärungsarbeit langezeit lieber mit Ignoranz reagiert, sagte Michael Schmidt-Salomon in Haßfurt. Tatsächlich kamen zu Deschners Gedenkveranstaltung keine 70 Leute in die Stadthalle, viele ohne rechte Vorstellung davon, wer der Mann denn war. Was also hat Karlheinz Deschner bewirkt, was bleibt der Nachwelt von ihm, sieht man von seinem hohen Stellenwert in intellektuellen Kreisen ab?
Die Antwort findet man vielleicht ausgerechnet in seiner Heimatstadt, im beschaulichen Haßfurt. Zwei viereinhalb Jahrzehnte auseinanderliegende Ereignisse zeigen, wie stark sich die Welt in dieser Zeit verändert hat, wie stark Deschner selbst auf diesen Wandel eingewirkt hat.
1960: Skandal um eine "Mischehe" in Haßfurt
Im Jahr 1960 bläst Haßfurts Stadtpfarrer Wilhelm Zirkelbach die Fronleichnamsprozession und alle kirchlichen Umzüge für ein Jahr ab. Der Dekan will es nicht hinnehmen, dass der SPD-Stadtrat Alfons Schwanzar zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt hat. Denn der Katholik Schwanzar hat eine Protestantin geehelicht. Zirkelbachs Aufstand lässt erahnen, wie viel von der einstigen Machtfülle der Kirche in den 1960-er Jahren noch vorhanden ist, wie groß gerade auf dem Lande noch ihr Selbstverständnis ist, auf alle Bereiche, ob Politik (der Pfarrer sitzt als CSU-Mitglied im Kreistag), Gesellschaft oder Privatshäre des einzelnen beeinflussen zu dürfen. Und wie eng die Fesseln des Individuums damit noch sein können.
Nur zwei Jahre später, 1962, schlägt Deschners erstes kirchenkritisches Werk, das 1000 Seiten starke "Abermals krähte der Hahn", ein wie eine Bombe. Der Autor hält dem Christentum darin den Spiegel vor und beschreibt die "Verwandlung einer pazifistischen Weltuntergangssekte in eine militante Herrschaftsreligion, deren Blutspur sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht". So fasst Schmidt-Salomon das Werk im 2024 erschienenen Film "Karlheinz Deschner: Der Streitschriftsteller" von Ricarda Hinz zusammen, den das Publikum in der Haßfurter Stadthalle zu sehen bekommt.
Schon vor 50 Jahren auf die "Tradition des Missbrauchs" hingewiesen
Von nun an wird der Haßfurter als der führende Religions- und Kirchenkritiker im deutschsprachigen Raum wahrgenommen. Er liefert Buch um Buch, ein jedes eine Abrechnung mit der Kirche und ihren Repräsentanten. 1974 etwa erscheint "Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentums". Darin legt der Autor nicht nur dar, wie Sexualität seit Entstehnung des Christentums immer mehr zur Sünde wird – und wie gerne die Geistlichkeit selbst anders handelt als sie predigt. Das Werk beschreibe auch die lange Tradition des Missbrauchs und das System seiner Duldung und Verheimlichung, erklärt Schmidt-Salomon dem Publikum in Haßfurt: "Und das vor über 50 Jahren. Wie viel Leid wäre den Menschen seither erspart geblieben, wenn sich Kirche, Justiz und Gesellschaft ernsthaft mit dem Buch befasst hätten."

In den 1970-er Jahren nimmt Deschner schließlich sein größtes und bekanntestes Projekt in Angriff: Die zehnbändige Kriminalgeschichte des Christentums. Eine Abhandlung auf 6000 Seiten von den biblischen Ursprüngen bis ins 18. Jahrhundert, mit 350.000 verbreiteten Exemplaren wohl eines der bedeutendsten kirchen- und religionskritischen Werke der Weltliteratur. Band 1 kommt 1982 auf den Markt, den letzten Band veröffentlicht Deschner 2013, ein Jahr vor seinem Tod.
Stadt und Landkreis haben 2004 keine Berührungsängste mehr
Wie sehr sich seit "Abermals krähte der Hahn" die Haltung der Gesellschaft zu Kirche und Kirchenkritik gewandelt hat, zeigt wiederum Haßfurt: Im Jahr 2004 bereitet die Kreisstadt, zusammen mit der Giordano-Bruno-Stiftung und dem Rowohlt-Verlag, Karlheinz Deschner anlässlich dessen 80. Geburtstages einen großen Empfang. Für den damaligen Bürgermeister Rudi Eck, einen bekennenden Christen und zu dieser Zeit noch CSU-Mitglied, eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie für seinen Parteifreund, den damaligen Landrat Rudolf Handwerker. Er sei damals nicht blind gewesen für die Kritik an der Institution Kirche und sei es auch heute nicht, sagte Altbürgermeister Eck vergangene Woche in der Stadthalle. Und auch: Proteste gegen die Ehrung Deschners habe es so gut wie keine gegeben, nur die Kirchenglocken hätten während des Empfangs geläutet.

Wenn sich Menschen im vergangenen halben Jahrhundert also von kirchlichen und religiösen Fesseln frei machen konnten oder dererlei Zwänge heute gar nicht mehr spüren, dann ist das zu einem guten Teil auch das Verdienst von Karlheinz Deschner. Davon ist seine Anhängerschar überzeugt. Nach und nach habe Deschner immer mehr Journalistinnen, Intelektuelle, Wissenschaftler erreicht, sagte Michael Schmidt-Salomon im Gespräch mit der Redaktion. Diese seien dann Multiplikatoren seiner Botschaften geworden.
Seine Perspektive ist heute "weithin akzeptiert"
Vieles, was Deschner aufgedeckt habe, sei heute weithin anerkannt. Die Deschnersche Perspektive, die im 20. Jahrhundert noch so große Empörung ausgelöst habe, sei inzwischen weithin akzeptiert und werde in vielen religionskritischen und religionsgeschichtlichen Dokumentationen weitergetragen. Für Schmidt-Salomon hat Karlheinz Deschner maßgeblich zum Niedergang der kirchlichen Macht in Westeuropa und zur starken Säkularisierung der letzten Jahrzehnte beigetragen – völlig losgelöst davon, ob der einzelne aus den Fesseln Befreite den Aufklärer aus Haßfurt kennt oder nicht.