
Vor genau 60 Jahren trat das Haßfurter Stadtratsgremium Anfang Mai zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Sie sollte Schlagzeilen machen, weit über die Grenzen der Stadt und des damaligen Landkreises Haßfurt hinaus. Bei der Wahl zum zweiten Bürgermeister setzte sich der SPD-Stadtrat Alfons Schwanzar mit neun zu acht Stimmen durch. Das sollte eigentlich nichts Außergewöhnliches sein, aber genau an diesem Umstand entzündete sich hernach der Unmut des katholischen Stadtpfarrers und Dekans Wilhelm Zirkelbach.

Und zwar so, dass Zirkelbach außer der Fronleichnams- und Bittprozessionen alle traditionellen kirchlichen Umzüge in der Stadt für das Jahr 1960 absagte und auch das Glockengeläut für eine gewisse Zeit verstummen ließ.
Wer nun denkt, die Wahl eines Sozialdemokraten habe den Zorn des konservativen Priesters, der selbst für die CSU im Kreistag Haßfurt saß, hervorgerufen, der befindet sich auf dem Holzweg. Der Grund war weitaus schlimmer - wenigstens für Pfarrer Zirkelbach. Denn nachdem der 39-jährige Justizangestellte Schwanzar wegen seiner Eheschließung mit einer Protestantin vom katholischen Sakramenteempfang ausgeschlossen worden war, trat er zur Konfession seiner Frau über und ließ auch seine Kinder evangelisch taufen.
War ein solcher "Verrat" in den Augen des katholischen Dekans schon schlimm genug, so wertete er die Wahl eines solchen Konvertiten durch katholische Stadträte zum zweiten Bürgermeister als absolutes Fehlverhalten, das bestraft werden musste: mit Prozessions- und Kirchengeläut-Abstinenz.

Der streitbare Haßfurter Geistliche verfasste ein Schreiben an jene katholischen Stadträte, die er - trotz geheimer Abstimmung - im Verdacht hatte, die Wahl des Konvertiten unterstützt zu haben. "Damit haben Sie der aufrechten katholischen Bevölkerung, die ihre Kirche liebt, einen Schlag ins Gesicht versetzt", schrieb Zirkelbach, "über den viele Gläubige tief bestürzt und in echte Trauer versetzt worden sind." Auch ihm selbst, "Ihrem Pfarrer und katholischen Seelsorger dieser Gemeinde - von Ihnen zusammen mit dem letzten Stadtrat noch vor wenigen Tagen zum Jubiläum (silbernes Priesterjubiläum, die Red.) geehrt -" habe dieses Verhalten "einen großen Schmerz bereitet".
Nur zwei Wochen nach dem Brief legte der Geistliche in einer Predigt am Sonntag noch einmal nach. Diese abtrünnigen Ratsmitglieder müssten die Wahl eines Mannes mitverantworten, der öffentlich aus der katholischen Kirche ausgetreten sei. Zirkelbach bekannte sich ausdrücklich noch einmal zu seinem Brief und skizzierte das "Schreckensszenario", dass künftig katholische Brautleute vielleicht vor dem Konvertiten Schwanzar als stellvertretendem Standesbeamten stehen müssten. Oder Schwanzar könne gar als Bürgermeister einen Bischof in der Stadt empfangen wollen. Deshalb, so der Geistliche in der Sonntagspredigt, habe er den Brief "privat und rein aus seelsorglicher Verantwortung für die Kirche und für die Gläubigen geschrieben, weil Pfarrer und Kirchenverwaltung nicht schlafende Wächter sein wollten".
Zwar hatten im Jahre 1960 alle drei in der Region vertretenen Tageszeitungen zunächst nicht über diesen Skandal berichtet. Doch Heiner Schneier, damals Redakteur beim Haßfurter Tagblatt, hatte trotz des lokalen Maulkorbs, der ihm verpasst worden war, die Deutsche Presseagentur dpa informiert. Das Hamburger Magazin "Der Spiegel" berichtete ausführlich, der Schlagzeile ging durch den gesamten deutschen Blätterwald, mit Verspätung berichteten schließlich auch die heimischen Zeitungen über den Vorfall.
"Giftstreuer" Schneier brachte den Pfarrer dadurch indes so auf die Palme, dass Zirkelbach gleich in drei Messen an einem Tag - selbst im Kindergottesdienst - erneut die Wahl Schwanzars geißelte - und zudem den "Missbrauch" seines Briefes "durch Weitergabe an Zeitungen und Agenturen".
Erich Heß, der 1960 als SPD-Kreisvorsitzender zum ersten Mal in den Haßfurter Stadtrat gewählt worden war, erinnert sich. "Die Situation war schon ein bisschen dramatisch", sagt Heß, sozialdemokratisches Urgestein und vor kurzem 90 Jahre alt geworden. Viele Geistliche seien damals noch deutlich stärker am politischen Leben beteiligt gewesen, vor allem Dekan Zirkelbach habe sich parteipolitisch stark engagiert. "Es war schon eine aufgeregte Zeit", so Erich Heß.
"Strafversetzt" in eine größere Pfarrei
Die für Haßfurt peinliche Angelegenheit wurde nach einigen Wochen heftiger Diskussionen "im Interesse eines friedvollen Zusammenlebens der Bevölkerung" beigelegt. Der Stadtpfarrer wurde - wohl als Ergebnis dieses Skandals - versetzt und war von 1961 bis 1982 Stadtpfarrer und Dekan in der Herz-Jesu-Pfarrei in Bad Kissingen, einer der größten Pfarreien der Diözese Würzburg.
"Eine Strafversetzung hätte ich mir anders vorgestellt", kommentierte dies der langjährige SPD-Unterbezirksgeschäftsführer Ludwig Leisentritt im Rückblick. Alfons Schwanzar indes übte sein Amt als Zweiter Bürgermeister zwölf Jahre lang aus und wurde 1972 von den Haßfurtern dann zum Ersten Bürgermeister der Kreisstadt gewählt. Als er 1996 starb, fand der Trauergottesdienst - ganz friedlich ohne Blitz und Donner - in der katholischen "Ritterkapelle" statt.
