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Zeil
"Das war eine absolute Katastrophe": Welche Spuren die Zeiler Jahrhundertflut bis heute hinterlässt
Karin und Lorenz Ortegel leben am Rande der Altach. Vor genau zwei Jahren schoben sich hier zerstörerische Wassermassen durch die Stadt. Ein Besuch vor Ort.
Angst vor einer erneuten Katastrophe hat Karin Ortegel keine mehr. Sandsäcke bewahrt die Familie dennoch auf, zur Sicherheit.
Foto: Lukas Reinhardt | Angst vor einer erneuten Katastrophe hat Karin Ortegel keine mehr. Sandsäcke bewahrt die Familie dennoch auf, zur Sicherheit.
Lukas Reinhardt
 |  aktualisiert: 15.07.2023 05:40 Uhr

Der Himmel über Zeil ist wolkenlos. Gemütlich plätschert die Altach durch ihr Bachbett. Zwei Kinder waten barfuß im knöcheltiefen Wasser, vorsichtig wenden sie algenbewachsene Steine, offenbar auf der Suche nach kleinem Getier. "Heute ist alles so normal", sagt Karin Ortegel, eine betagte Frau mit freundlichem Gesicht. Gedankenversunken wandert ihr Blick den Bachlauf hinauf.

"Vor genau zwei Jahren war das anders", erinnert sie sich. Damals schob sich hier eine schlammbraune Flutwelle durch die Fachwerkstadt. Hinein in das Erdgeschoss der historischen Mühle am Rande der Altach, in der Karin Ortegel, 78, und ihr Ehemann Lorenz, 87, leben. "Das war eine absolute Katastrophe." Eine Katastrophe, deren Spuren bis heute nicht vollends verschwunden sind. Nicht aus den Häusern, nicht aus den Köpfen der Menschen.

Rinnsal schwoll an zu reißendem Strom

Das Trauma dieses Tages, das sich auch in das kollektive Gedächtnis der Stadt gebrannt hat, hatte in den frühen Morgenstunden des 9. Juli 2021 begonnen. Nicht in Zeil selbst, sondern wenige Kilometer nördlich. Extreme Regenfälle mit bis zu 80 Litern pro Quadratmeter sorgten an diesem Freitag dafür, dass in dem kleinen Dorf Krum gegen 7.30 Uhr Keller mit Wasser vollliefen.

Die Bewohner alarmierten die Feuerwehr, es war der erste Einsatz des Tages, so wird es später der Zeiler Kommandant erzählen. Der Krumbach, eigentlich ein Rinnsal, das in seinem weiteren Verlauf den Namen Altach trägt und schließlich in den Main mündet, schwoll angesichts regensatter Böden binnen kurzer Zeit an zu einem reißenden Strom. Unerbittlich schoben sich die Wassermassen hinunter ins Tal.

Blick auf die Katastrophe am 9. Juli 2021: Nachdem die Altach über das Ufer tritt, stehen in Zeil Teile der Altstadt unter Wasser. 
Foto: Christian Licha | Blick auf die Katastrophe am 9. Juli 2021: Nachdem die Altach über das Ufer tritt, stehen in Zeil Teile der Altstadt unter Wasser. 

Dort saßen die Ortegels zu Tisch, kurz bevor die Welle ihren Höchststand erreichte. Der Sohn war zu Besuch mit seiner Familie, Mittagessen gab es zeitig. Von dem zerstörerischen Ausmaß der Sturzflut, die sich schon bald ihren Weg durch die Weinstadt bahnen würde, ahnten die Anwesenden drinnen noch nichts. Draußen verloren die Einsatzkräfte der Feuerwehr ihren aussichtslosen Kampf gegen das Wasser. Etwa hundert Meter oberhalb der alten Mühle trat die Altach über ihre steinerne Fassung. Große Teile der tiefergelegenen Altstadt versanken gegen Mittag in den Fluten. 

Das Wasser drang kniehoch ein in das Erdgeschoss der Ortegels und spülte eine rund fünf Zentimeter dicke Schlammschicht in das Haus. Es zerstörte teure Elektrogeräte und Einrichtungsgegenstände in Küche, Wohnzimmer, Bad und Büro, vernichtete unbezahlbare Erinnerungen in den Schränken. Mit Eimern und Besen kämpfte die Familie bis Mitternacht gegen die dunkle Brühe, die in jede noch so kleine Öffnung vorgedrungen war.

Eigene Sandsäcke im Schwerlastregal

"Hier sieht man wieder Spuren", sagt Karin Ortegel. Sie zeigt auf die gestrichene Wand im Wohnzimmer, an der ein brauner Schimmer durch die weiße Farbe tritt. Die dicken Mauern des historischen Gebäudes haben das Wasser aufgesaugt wie ein trockener Schwamm – und es teils bis heute nicht vollständig freigegeben. "Hochwasser gab es in der Vergangenheit immer wieder mal", sagt Lorenz Ortegel. "Aber seit ich hier lebe, kannte ich dieses Ausmaß nicht."

Drei Tage nach der Flut: Karin und Lorenz Ortegel blicken im Juli 2021 in das Bachbett der nunmehr wieder ruhig fließenden Altach. 
Foto: Lukas Reinhardt | Drei Tage nach der Flut: Karin und Lorenz Ortegel blicken im Juli 2021 in das Bachbett der nunmehr wieder ruhig fließenden Altach. 

Die Mühle an der Altach ist bereits seit 90 Jahren in Familienbesitz. Lorenz Ortegel, der einer Müllersdynastie entstammt, kommt hier 1936 zur Welt. Den Mühlbetrieb stellt das Ehepaar Anfang der 2000er ein, der Laden nebenan bleibt. Mehl, Körner, Erde, Torf, Dünger, Futter – all das verkauft die Familie so lange, bis es aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr geht: 2018 wird Lorenz Ortegel als Radfahrer in einen Autounfall verwickelt und schwer am Bein verletzt. 2019 erhält Karin Ortegel die Diagnose Krebs. "Das Hochwasser war für uns die dritte Katastrophe innerhalb von drei Jahren", sagt sie.

"Das Hochwasser war für uns die dritte Katastrophe innerhalb von drei Jahren."
Karin Ortegel, Betroffene der Fluten

Das Ehepaar steht inzwischen in der Garage, die sich ebenerdig an den Wohnbereich anschließt. "So ein dicker Ast trieb hier durch unser Haus, von Zimmer zu Zimmer", sagt Karin Ortegel. Ihre Finger formen einen Kreis mit dem Umfang ihres Oberarms. In der Garage lagern die Ortegels seit der Sturzflut etwa ein Dutzend Sandsäcke, teils in einem metallenen Schwerlastregal, teils auf dem Boden. Die 78-Jährige greift hinab und wuchtet ein Exemplar, rund zweieinhalb Kilogramm schwer, auf ihre Schulter. "Wir sind mit den Katastrophen jetzt durch", sagt sie entschlossen, "ich glaube nicht, dass das Wasser noch einmal kommt." Besser vorbereitet sein als vor zwei Jahren möchten die Ortegels trotzdem.  

Auf das Schlimmste vorbereitet: Die Ortegels lagern in ihrer Garage weiterhin Sandsäcke.
Foto: Lukas Reinhardt | Auf das Schlimmste vorbereitet: Die Ortegels lagern in ihrer Garage weiterhin Sandsäcke.

Das Zeiler Rathaus steht am Marktplatz der Stadt, rund 250 Meter entfernt von der alten Mühle der Ortegels. Angst, dass die Fluten die Stufen des alten Fachwerkhauses erreichen, muss hier niemand haben. Der Platz liegt rund zehn Meter höher als die laut Verwaltung mindestens 36 betroffenen Anwesen an der Altach. Trotzdem hat die Naturgewalt von 2021 – ein Jahrhundertereignis, wie Stadthistoriker im Nachgang festgestellt haben – auch im Rathaus ihre Spuren hinterlassen: "Wenn Starkregen angekündigt wird, hat man automatisch im Kopf: Hoffentlich passiert das nicht wieder", sagt Zeils Bürgermeister Thomas Stadelmann (SPD). "So etwas bleibt in Erinnerung – besonders bei den Betroffenen."

"Wenn Starkregen angekündigt wird, hat man automatisch im Kopf: Hoffentlich passiert das nicht wieder."
Thomas Stadelmann, Bürgermeister Zeil

Die Stadt versuche, auf vergleichbare Szenarien künftig besser vorbereitet sein. Es im besten Fall gar nicht soweit kommen zu lassen. Gemeinsam mit Königsberg, von wo aus der Krumbach, später Altach, sich durch grüne Natur bis ins tiefer gelegene Zeil schlängelt, möchte Stadelmann eine längst überfällige Untersuchung anstrengen. "Wir wollen präventive Maßnahmen erarbeiten und ergreifen", sagt er: Rückhaltebecken, Ausweichflächen, um große Wassermengen durch extremen Niederschlag bereits oberhalb der Stadt zu bremsen. Auch das Schilf aus dem eingefassten Bachbett in der Stadt werde regelmäßig entfernt, um dort wiederum den Abfluss zu beschleunigen. "Natürlich hoffen wir, dass sich dieses Ereignis nicht wiederholt", sagt Stadelmann.

Katastrophe schweißt Menschen zusammen

Trotz all der Zerstörung: Der 9. Juli 2021 hat gezeigt, wie sehr eine solche Katastrophe die Menschen zusammenschweißen kann. Das haben auch die Ortegels erfahren. "Es gab extrem viel Unterstützung durch unsere Familie, von Freunden und Nachbarn", sagt Karin Ortegel, die mit ihrem Mann auf einer Bank vor dem Haus Platz genommen hat. Als das Wasser verschwunden war, stand dort vor zwei Jahren eine große Mulde, in der all das landete, was die Flut zuvor vernichtet hatte. "Am Ende", erinnert sich Lorenz Ortegel, "war der Container zu drei Viertel gefüllt."

Karin und Lorenz Ortegel sitzen im Juli 2023 vor ihrem Anwesen direkt an der Altach.  
Foto: Lukas Reinhardt | Karin und Lorenz Ortegel sitzen im Juli 2023 vor ihrem Anwesen direkt an der Altach.  

Wie die Ortegels standen auch andere Menschen im Kreis Haßberge nach den extremen Niederschlägen vom 9. Juli 2021 vor einem Scherbenhaufen. In Ebern sowie in Knetzgaus Ortsteilen Hainert, Westheim und Zell richtete das Wasser erhebliche Schäden an. Knapp 270.000 Euro flossen seither alleine aus dem Spendenfonds "Katastrophenhilfe Bayern" an Betroffene, heißt es aus dem Landratsamt.

In eine vollständige Sanierung des Erdgeschosses haben die Ortegels ihre Mittel nicht gesteckt, sondern nur in das Allerwichtigste. "Da sitzt bestimmt noch Feuchtigkeit in den Wänden und unter den Fliesen", vermutet Karin Ortegel. "Das müsste man alles aufhacken, aber dafür sind wir inzwischen zu alt." Während es drinnen also noch dauern wird, bis die Spuren der Jahrhundertflut endgültig verschwunden sein werden, plätschert draußen die Altach weiter vor sich hin. Die beiden Kinder sind inzwischen verschwunden. Ein Mann sitzt auf einer Bank, die am Ufer unter einem Weidenbaum steht. Alles ist so normal wie fast immer. 

 
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  • ManuRottmann
    Danke für diesen einfühlsamen Artikel. Auchvä wenn wir Glück hatten und keine Menschenleben beklagen mussten, wie es zwei Wochen später im Ahrtal der Fall war, war es doch eine einschneidende Katastrophe für viele Familien. Ich habe damals mit vielen gesprochen . Die große Sorge war: Hoffentlich zieht man Konsequenzen draus und vergisst nicht einfach, was passiert ist und wieder passieren kann, nur weil der Alltag zurückkehrt. Deswegen ist es so wichtig, dass auch die Presse die Erinnerung wach hält.
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  • Meinungsvertreter
    "Hochwasser gab es in der Vergangenheit immer wieder mal. Aber seit ich hier lebe, kannte ich dieses Ausmaß nicht."

    Die Intensität und die Häufigkeit steigen. Man kann es allerorts beobachten und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es wieder passiert. Diese Unwetter, verstärkt durch die Klimakatastrophe, gefährden unseren Wohlstand. Und nicht etwa Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe. Keine Maßnahme, selbst die Unsinnigste, kann existenzbedrohend sein.
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