Es ist eine Aufgabe, kein Job. 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche. Ein Seniorenheim als Familienbetrieb. Peter Martin zuckt die Schultern. Er kennt es nicht anders, will es nicht anders. 2009 hat der gelernte Krankenpfleger die Leitung im "Haus der Familie" bei Münnerstadt im Landkreis Bad Kissingen übernommen, führt damit das Lebenswerk seiner Mutter fort.
Sein Ehemann und sein Vater arbeiten ebenfalls in der Einrichtung. "Einer von uns ist immer da", sagt Martin. Die Familie trägt das Heim, hat es zum Lebensmittelpunkt gemacht. Wie funktioniert das?
Das "Haus der Familie" überragt die Einfamilienhäuser des Münnerstädter Stadtteils Windheim, der apricot-weiße Bau fällt auf. 52 Senioren leben in dem Heim, alle Plätze sind besetzt. Sie sollen dort "ein Zuhause für den letzten Lebensabschnitt finden", sagt Peter Martin und steigt die Treppen hinauf in den zweiten Stock.
Im Gang riecht es nach Menschen statt Desinfektionsmittel, auf den Tischen liegen geblümte Decken. Volksmusik dudelt aus einem Radio. Bewohner schieben ihre Rollatoren über dicke Teppichböden. Die Einrichtung ist bunt, eher Wohnzimmer als Seniorenheim. "Die Menschen sollen sich bei uns wohlfühlen. Deshalb heißen wir 'Haus der Familie'."
Seniorchefin Gertie Martin-Schnapp ist 76 Jahre alt - und arbeitet noch immer mit
Der Name ist Anspruch und Dogma zugleich. Die Familie und das Heim waren schon immer eins. Gertie Martin-Schnapp hat das Pflegeheim aufgebaut und 1987 eröffnet. "Ihre Arbeit stand immer im Zentrum", sagt Peter Martin über seine Mutter. "Ich kann mich an keinen Heiligen Abend ohne Seniorenheim erinnern." Als Kind spielten und bastelten er und sein Bruder mit den Bewohnern. "Ich habe das gerne gemacht und es war klar, dass ich später in diesen Bereich gehen würde."
Der 58-Jährige absolvierte die Ausbildung zum Krankenpfleger, "weil es mir ein Bedürfnis ist, weil ich Menschen helfen will". Nach Stationen im Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt und St. Elisabeth-Krankenhaus in Bad Kissingen entschied sich Martin, 1996 im "Haus der Familie" einzusteigen. Er übernahm erst die Verwaltung, 2017 die Leitung. Offiziell.
Peter Martin schmunzelt. 76 Jahre ist seine Mutter heute, aber "sie ist nach wie vor die Seniorchefin, die am Kopf des Tisches sitzt". Aufhören komme für sie nicht infrage, auch wenn so mancher Bewohner mittlerweile jünger sei als sie selbst.
Im Schnitt lebten die Senioren vier bis fünf Jahre im Haus, sagt Martin. "Deutlich länger als in anderen Einrichtungen." Anonym bleibe keiner, Nähe ist dem Heimleiter wichtig. "Für mich gehört das dazu, einen Menschen in den Arm zu nehmen, ihm das Gefühl zu vermitteln, da ist jemand."
Im Seniorenheim in Windheim arbeiten 30 Mitarbeiter, 20 davon in der Pflege
Manchmal sind da auch sehr persönliche Beziehungen. Wie zu Lilli Kolb. Mit energischen Schritten schiebt die 99-Jährige ihren Rollator den Gang entlang. Die Schultern leicht gebeugt, der Geist hellwach. Dem breitschultrigen Heimleiter reicht sie nur knapp über den Bauchnabel. Lilli Kolb grinst verschmitzt. Der zerbrechliche Eindruck täuscht, sie dirigiert den Heimleiter in ihr Zimmer, sagt ihm genau, wo sie fürs Foto sitzen will und wo er Platz nehmen darf. "Wir verstehen uns", sagt sie und lacht. Peter Martin folgt ihren Anweisungen lächelnd und widerspruchslos.
Kolb und er kennen sich seit 30 Jahren, sie war im Kissinger Krankenhaus Patientin, er Pflegekraft. Der Kontakt blieb, vor fünf Jahren zog sie ins Heim. "Ich fühle mich wohl hier", sagt die Seniorin und zieht ihr Strickzeug heraus. Sie arbeite an einem Geschenk für ihren Ururenkel, der jetzt getauft werde, erzählt sie stolz. Zwei Kinder, vier Enkel und acht Urenkel habe sie, der Terminkalender an der Wand ist prall gefüllt mit Geburtstagseinträgen. Allein fühle sie sich im Heim nicht, die Familie besuche sie oft.
Plötzlich rumpelt es auf dem Gang. 11.30 Uhr, Zeit zum Mittagessen. Tür um Tür öffnet sich, die Senioren zieht es Richtung Speisesaal. Ein Pfleger parkt die Rollatoren an der Wand, Stühle rücken, Besteck klappert. Manche Bewohner blicken abwesend über die Tische, eine Frau klagt, sie wolle nach Hause. Andere scherzen mit den Pflegekräften.
Personell an der Untergrenze: 30 Mitarbeiter, 20 in der Pflege
Insgesamt arbeiten 30 Mitarbeiter aus sechs Nationen im Heim, 20 davon in der Pflege. Das sei die Untergrenze, sagt Martin. "Es sind die Stellen besetzt, die notwendig sind." Der vorgegebene Schlüssel, der an die Pflegegrade der Bewohner gekoppelt ist, werde erfüllt. Mehr nicht.
Die Gehälter der Pflegekräfte würden sich an den Richtlinien des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) orientieren. Sie liegen je nach Ausbildung und Einsatzbereich zwischen "etwa 2400 und rund 4000 Euro plus entsprechende Zeitzuschläge", sagt Martin. Aber: Mitarbeiter zu finden, sei ein echtes Problem – "und das wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen". Das gelte für kleine, private Häuser genauso wie für Einrichtungen großer Träger.
In Bayern werden nach Angaben des bpa ungefähr 500 vollstationäre Pflegeeinrichtungen privat getragen. Exakte Zahlen für Unterfranken lägen dem Verband nicht vor, hochgerechnet gehe man aber von etwa 80 Pflegeheimen in privater Trägerschaft aus.
Immer mehr Häuser kämpfen mit finanziellen Schwierigkeiten. Laut einer Umfrage des bpa sehen fast 70 Prozent ihre wirtschaftliche Existenz bedroht. Insolvenzen nähmen zu, teilweise würden Kapazitäten bereits "still" abgebaut, weil Plätze aus Personalmangel nicht belegt werden können.
Auch im "Haus der Familie" ist der Notstand spürbar. Finanziell stehe man zwar gut da, sagt Peter Martin. Bewohner müssten für einen Platz derzeit rund 2500 Euro Eigenanteil zahlen. Kostendeckend zu wirtschaften sei aber nur durch hohes Engagement und den Einsatz der Familie möglich.
Der Blick voraus fällt da düster aus: Er habe "Angst um die Zukunft der Pflege, weil es keine Perspektiven gibt". Der Politik fehle es an Ideen, Konzepten und Mut, kritisiert der Heimleiter. Vor allem fehle es an Wertschätzung gegenüber seiner Branche.
Kein Besuch beim Sommerfest, keine Gratulationen für Jubilare: Frust über die lokale Politik
"Wenn der Landrat nicht zu unserem Sommerfest kommt und noch nicht mal einen Stellvertreter schickt – das tut uns schon weh", sagt Martin. Auch sei es früher üblich gewesen, dass Bürgermeister den Senioren zu runden Geburtstagen persönlich gratuliert hätten. "Das findet nicht mehr statt. Das hinterlässt bei uns den Eindruck, dass wir und unsere Bewohner nicht wichtig sind."
Der Frust ist dem 58-Jährigen anzuhören. Sein Beruf ist für ihn Berufung und Traumjob, trotz aller Schwierigkeiten. "Was ich mache, mache ich gerne und mit Herzblut." Auch wenn es anstrengend sei, körperlich und emotional. Man erlebe Menschen in Extremsituationen, hilflose Bewohner, Angehörige in Gewissenskonflikten. Manchmal zehre das an der Kraft.
Auch Peter Martins Ehemann arbeitet im Heim mit
"Ohne meinen Mann könnte ich mir das nicht vorstellen", sagt Martin. "Er unterstützt mich, wo es nur geht." Mehr als 20 Jahre seien sie zusammen, "wir waren eines der ersten gleichgeschlechtlichen Paare, die in Bayern standesamtlich geheiratet haben".
In Windheim akzeptiert zu werden, sei "damals nicht ganz leicht gewesen", sagt der Heimleiter. "Als wir geheiratet haben, waren wir natürlich ein Thema – aber wir hatten nie das Gefühl, dass man uns als schwulem Pärchen negativ gegenübersteht." Heute würden sie selbstverständlich auf der Straße gegrüßt.
Heimleiter: Heute gehört das Seniorenheim zum Dorf dazu
Auch das Seniorenheim gehöre mittlerweile fest zum Dorf dazu. Einige Einwohner seien hier gepflegt worden, das Café Elefant im Erdgeschoss sei ein Treffpunkt. Sicher sei das "Haus der Familie" anders als so manches große Pflegeheim in der Stadt, sagt der Leiter. Kleiner, persönlicher, weniger steril. Ein Ort, der den Stempel der Martins trägt. Ein Familienbetrieb, mit allen Vor- und Nachteilen. Und Lebensinhalt für Peter Martin: "Ich könnte mir nie vorstellen einfach am Freitagmittag nach Hause zu gehen, abzuschalten und nicht mehr an die Einrichtung zu denken".