Rund 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden daheim gepflegt. Für die Angehörigen bestimmt diese Aufgabe oft weite Teile des Lebens – und das kostet Kraft. Manchmal bleibt kaum mehr Zeit für die eigenen Bedürfnisse, die Pflege erschöpft und laugt aus. Was können pflegende Angehörige tun, um Überlastung zu verhindern? Welche Hilfen gibt es? Und wie sagt man, ich kann nicht mehr? Der Würzburger Pflegeberater Markus Oppel gibt Tipps.
Frage: Wer einen Angehörigen pflegt, übernimmt eine Aufgabe, die keinen Feierabend kennt. Darf und soll man sich trotzdem freie Zeiten einplanen, etwa für Hobbys oder Urlaube?
Markus Oppel: Es ist absolut wichtig, dass man sich freie Zeiten einplant und dass man die Leistungen, die von der Pflegeversicherung zur Verfügung gestellt werden, auch nutzt. Leider passiert das oft nicht.
Welche Unterstützungsangebote gibt es konkret?
Oppel: Das variiert je nach Pflegegrad. Im ersten Grad bekommt man nur 125 Euro, die bei uns in Bayern an Anbieter, also im Regelfall an Pflegedienste und Vereine, gebunden sind. Dieses Geld kann man für niedrigschwellige Betreuung und Entlastung im Alltag nutzen, beispielsweise für Hilfe bei Reinigungsarbeiten oder um den Angehörigen zum Arzt bringen zu lassen. Das sind punktuelle Entlastungen, die maximal für drei bis fünf Stunden im Monat reichen.
Ab dem Pflegegrad zwei gibt es darüber hinaus noch das Pflegegeld. Das kann ich nutzen, um Hilfe nach meinen Wünschen und Vorstellungen zu engagieren. Ich kann auch auf das Pflegegeld zugunsten der sogenannten Pflegesachleistung verzichten und dann einen zugelassenen ambulanten Pflegedienst beauftragen, der direkt mit der Kasse abrechnet. Oder ich kann beide Leistungen kombinieren. Was viele Betroffene nicht kennen, ist die Verhinderungspflege, die es ebenfalls ab dem zweiten Pflegegrad gibt.
Was ist das?
Oppel: Darüber stehen pflegenden Angehörigen aktuell 1612 Euro im Jahr zur Verfügung, die ich für stunden- oder tageweise Hilfe, explizit auch aus dem Freundes- oder Verwandtenkreis oder von Nachbarn, nutzen kann.
Man kann also einfach einen Nachbarn um Hilfe bei der Pflege bitten und ihm dafür Geld geben?
Oppel: Genau. Wenn man zum Beispiel Termine hat, kann man eine andere Person bitten, sich für diese Zeiten um den Pflegebedürftigen zu kümmern und zahlt dafür einen frei ausgehandelten Stundenlohn. Mit einer Barquittung reicht man das Geld dann bei der Pflegekasse ein und bekommt es bis zum Maximalbetrag von 1612 Euro im Jahr zurück.
Wird das genutzt?
Oppel: Diese Möglichkeit wird viel zu selten genutzt – obwohl es so einfach ist. Und auch für diejenigen, die solche Hilfeleistungen übernehmen, ist es eine Chance, steuerfrei zu unterstützen. Es gibt Voraussetzung für die Steuerfreiheit, die in einem persönlichen Gespräch und nach Rücksprache mit einem Steuerberater erläutert werden können.
Gibt es Alternativen, wenn man Hemmungen hat, jemanden privat gegen Geld um Hilfe zu bitten?
Oppel: Wichtig ist die Kurzzeitpflege. Dafür stehen ab dem zweiten Pflegegrad 1774 Euro im Jahr zur Verfügung und damit kann ich meinen Angehörigen temporär in einer Pflegeinrichtung betreuen lassen. Allerdings haben wir immer weniger Kurzzeitpflegeplätze, die Wartelisten werden länger. Deshalb rate ich, jetzt schon fürs nächste Jahr Plätze zu suchen und anzumelden. Daneben gibt es die Möglichkeit, die Verhinderungspflege und die Kurzzeitpflege zu kombinieren oder die Tagespflege zu nutzen. Dort werden Menschen von morgens bis abends, inklusive Fahrdienst, versorgt.
Als pflegender Angehöriger fällt es oft nicht leicht, um Unterstützung zu bitten. Darf man überhaupt sagen, ich kann nicht mehr?
Oppel: Ich bin Verfechter der klaren Worte und plädiere dafür, gegenüber Geschwistern, Freunden, Bekannten und auch den Betroffenen selbst, ehrlich zu sagen: Bis hierher und nicht weiter – sonst zerbreche ich.
Manchmal ist das gerade innerhalb von Familien nicht so einfach...
Oppel: Wer sich klare Worte nicht zutraut, hat Anspruch auf Pflegeberatung und kann zum Beispiel eine Pflegeberatungsstelle bei solchen Gesprächen als Mediator dazu holen. Auch gibt es immer mehr Coachingangebote, die dabei unterstützen. Ehrlich gesagt, tun sich ältere Menschen dann oft sogar leichter. Ich selbst sitze häufig dabei und sage den pflegebedürftigen Personen: Passen Sie auf, Ihre Tochter oder Ihr Sohn kann nicht mehr – und wenn wir nicht sofort Entlastung schaffen, eskaliert die Situation. In solchen Fällen kann ich dann in den Unterlagen nicht mehr ankreuzen, dass die Versorgung zuhause sichergestellt ist. Das ist unsere Verantwortung als Pflegeberater.
Und wie lernt man, mit dem schlechten Gewissen umzugehen, wenn man Zeit für sich braucht? Oder die Pflege nicht schafft?
Oppel: Ich sage ganz klar: Es wäre nicht der erste Suizid aufgrund von Pflegetätigkeit, den ich erlebe. Deshalb muss man deutliche Worte finden und auf sich achten. Sicher kann ich bei milden Überlastungserscheinungen kleine Hilfen anbieten, wie Achtsamkeitsübungen oder Selbstfürsorgetraining. Aber wenn das nicht reicht, muss man aufhören mit Seelenstreicheln und Ermutigungen und entscheiden: zuhause geht es allein nicht mehr.
Wie viel freie Zeit ist denn wichtig, um gesund zu bleiben?
Oppel: Das kommt auf die Höhe des Pflegegrades an. Pflegegrad eins und zwei kann man mit Berufstätigkeit und eigener Familie meist ganz gut vereinbaren. Ab Pflegegrad drei muss man aber davon ausgehen, dass die betroffene Person eine 24/7-Versorgung braucht. Ein bis zwei freie Tage in der Woche sollte man sich deshalb einplanen, sonst geht das langfristig nicht gut.
Wie sollte man den Alltag als pflegender Angehöriger strukturieren?
Oppel: Es macht Sinn, sich bewusst täglich eine Pause in den Kalender zu setzen. In dieser Zeit sollte man auch nicht mit der Arztpraxis telefonieren oder Tabletten besorgen – sondern da hat man wirklich Ich-Zeit und kann Kraft tanken. Ob man liest oder ein Hörbuch hört oder in der Sonne sitzt, das ist egal.
Was sind Warnzeichen, dass die Verantwortung zu groß wird?
Oppel: Warnzeichen sind Schlafstörungen und die klassischen Anzeichen für Stress, wie Unruhe, Nervosität, Fingernägelkauen, das Gefühl, nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Ich empfehle dringend, sich als pflegender Angehöriger einer Selbsthilfegruppe anzuschließen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. In höheren Pflegegraden ist es auch absolut sinnvoll, sich psychotherapeutische Unterstützung zu suchen.
Und wie spricht man in der Familie darüber, wenn man sich die Pflege körperlich oder psychisch nicht zutraut – aber niemanden enttäuschen will?
Oppel: Das ist natürlich ein wahnsinniger Spagat. Man muss dabei seine eigenen Kräfte einschätzen können. Das ist nicht einfach, aber auch dafür gibt es die Pflegeberatung. Es ist unser Job, zu erkennen, was kann jemand und was nicht. Und Lösungen anzubieten. Wenn man sich Pflege nicht zutraut, muss man das offen kommunizieren, auch wenn es den Angehörigen gegenüber nicht leicht ist. Manchmal muss man hier mit Tricks arbeiten. So kann man zum Beispiel sagen: Pass auf, ich schaffe das Organisatorische und ich schaffe es auch, einmal pro Tag bei dir reinzuschauen – aber dich waschen oder die benutzten Einsätze des Klostuhls entleeren, das kann ich nicht. In diesem Fall muss man eben Hilfe holen. Es ist nicht so, dass Pflegebedürftige verpflichtend durch Angehörige gepflegt werden müssen – grundsätzlich darf ich auch nein sagen. Mein dringender Rat hier ist: Bitte nur das machen, was man sich selbst wirklich zutraut.