Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie in den journalistischen Angeboten dieser Zeitung und auf mainpost.de etwas vermisst, das Sie für wichtig erachtet hätten? Für große Medien in diesem Land, die sogenannten Massenmedien, finden das alljährlich Medienwissenschaftler, Journalistinnen und Experten aus Vorschlägen der Bevölkerung für die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) unter dem Titel "vergessene Nachrichten" heraus. Ich liste hier kurz zehn vernachlässigte Themen aus den vergangenen zwölf Monaten auf und frage: Haben diese Informationen auch hier gefehlt?
1. Die Lücke im Gesundheitssystem
Für 143.000 Menschen würden bürokratische Hürden und Gesetzeslagen oft eine Versicherung verhindern, meist bei selbstständigen oder privatversicherten Personen. Viele Betroffene wüssten dabei nicht um ihre Möglichkeiten medizinischer Versorgung. Sechs drängendste Probleme in der Gesundheitspolitik wurden im August 2021 auf mainpost.de festgehalten.
2. Kinder und Jugendlich, die Angehörige pflegen
480.000 Kinder und Jugendliche seien an der Pflege ihrer Angehörigen beteiligt. Das berge ein Risiko des Zusammenbruchs des deutschen Pflegesystems. Es gelte auch Überforderung der Minderjährigen zu vermeiden. Das Thema ist auf mainpost.de am 8. Mai 2022 angesprochen worden: "Überforderung in der Pflege: Wenn Angehörige Hilfe brauchen". Hier Beiträge zur Pflegeberatung.
3. Palliativversorgung für Wohnungslose
Nach dem Überlebenskampf auf der Straße folge der um einen würdevollen und schmerzfreien Tod. Hospize können nicht ohne Krankenversicherungen helfen. Hier ein lokaler Beitrag aus dem Januar 2021, der Beratung verspricht, aber dieses Thema nicht ausdrücklich benennt: "Übers Sterben und den Tod: Hospiz-Verein bietet 'Letzte Hilfe'-Kurse an".
4. Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz
Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz vom 18. Juni 2021, welches das Betriebsverfassungsgesetz nur wenig weiterentwickelt habe, war kaum Thema in den großen Medien. Dazu finde ich bei mainpost.de im Mai 2021: "Beschäftigte sollen im Home-Office besser geschützt werden".
5. Nachhaltige Autobahn auf Asche
Wer weiß schon, dass statt klimaschädlichem Zement in einigen europäischen Ländern Flugasche eingesetzt wird? Erklärungen in Massenmedien tun not, schon ob der Klimakrise. Hier zwei Flugasche-Marktstudien: Citytoday Hildesheim und Mordor IntelligenAuce.
6. Sexismus in politischen Parteien
Vier von zehn Politikerinnen haben im politischen Arbeitsalltag schon Sexismus und Belästigungen erlebt. Bei der Linkspartei gab es deshalb einen Rücktritt. Die Zahl nennt eine Studie der europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), die auch zeigt: Frauen, in kleinen ländlichen Gemeinden finden erschwerte Bedingungen vor. Zur Studie: Seite 79. Dazu ein Maßnahmenpapier des Europarates.
7. Ein Drittel aller Schmetterlingsarten ist verschwunden
Das Verschwinden vieler Schmetterlingsarten bedeutet eine gravierende Störung des ökologischen Gleichgewichts. Auf mainpost.de habe ich im August 2017 gefunden: "Wo fliegt denn noch ein Schmetterling". "Schwierige Zeiten für Nachtfalter - Population in Gefahr" konnte man am 13. April 2022 im Schweinfurter Tagblatt lesen, geschrieben vom Pressewart des Vogelschutzvereins Schweinfurt.
8. Legoähnliche Konstruktionen und Baumaterial aus verwertetem Kunststoff und Reststoffen
"Classroom of Hope" und der Start-Up "Block Solutions" haben eine nachhaltige, ressourcenschonende und bautechnisch unkomplizierte Alternative zu Ziegelsteinen entwickelt, den sogenannten "Eco-Block".
9. Psychischer Missbrauch im Tanzsport
Nur bei Profis und in Amateur-Disziplinen werde der psychische Missbrauch im Tanzsport aufgedeckt, diskutiert, teilweise vor Gericht gebracht und berichtet. Über aktuelle Zustände im Tanz- und Ballettsport gibt es weniger zu lesen. Der Deutsche Tanzsportverband bietet Ansprechpartner speziell für den Jugendschutz an.
10. Fortschreitende Abschaffung der Lernmittelfreiheit
Eine fortschreitende Abschaffung der Lernmittelfreiheit vor allem bei Schulbüchern und Übungsheften für alle Schulkinder gibt es in vier Bundesländern. Das gilt nicht für Bayern. Im bayerischen Schulmittelfinanzierungsgesetz steht: Die Träger des Schulaufwands versorgen die Schülerinnen und Schüler mit Schulbüchern. Die von den Trägern des Schulaufwands beschafften Schulbücher verbleiben in deren Eigentum und werden an die Schülerinnen und Schüler ausgeliehen. Wo die Kosten auch zu tragen sind, das zeigen lokale Berichte aus Aura und Kirchlauter.
Anmerkung: Über Stichwortsuche habe ich zu den einzelnen Themen das digitale Main-Post-Archiv bemüht. Ich kann nicht ausschließen, dass ich dabei nicht alle Veröffentlichungen gefunden habe. Wenn Nachrichten fehlen, kann es eine Reihe von Gründen haben. Wichtig sind dabei die Nachrichtenfaktoren, zu denen einige meiner früheren Kolumnen am Ende aufgelistet sind.
Diese zehn vernachlässigten Themen wurden am 22. April 2022 beim Deutschlandfunk veröffentlicht. Bereits jetzt nimmt die INA, eine Nicht-Regierungsorganisation, wieder Vorschläge für das laufende Jahr an. "Jeder einzelne ist aufgefordert, sich über ein medial vernachlässigtes Thema Gedanken zu machen, die Initiative zu ergreifen und es uns als Themenvorschlag mitzuteilen. Dieses Engagement ist wichtig für unsere Arbeit", appelliert Marlene Nunnendorf, Sprecherin der INA. Auf "der blinde Fleck" können Sie Themen vorschlagen. Kontakt: info@nachrichtenaufklärung.de.
Betreffen solche Vorschläge aber nur unsere Region, dann empfehle ich Ihnen auch den Kontakt zu Ihrer zuständigen Lokalredaktion, um sie darüber zu informieren.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Leseranwalt-Kolumnen, in denen Nachrichtenfaktoren eine Rolle spielen:
2007: "Wo der Lokalteil einer Zeitung an seine Grenzen stößt"
2008: "Kurz und lang: Das Kirchenkonzert und der dicke Mann"
2015: "Wie ein Leser auf den Tod des Schoßhündchens von Paris Hilton reagiert hat"
2016: "Der Wert einer Zeitung ist nicht an einem Erscheinungstag zu ermessen"
2016: "Der Nachrichtenfaktor Nähe"
2016: "Wird der Zustand der Welt zu schlecht eingeschätzt?"
2017: "Warum denn nicht? Bambis Geburtstag ganz vorne"
2021: "Wie ein Reizwort eine Sportart negativ behaftet hat"