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Würzburg/Schweinfurt
Mehr als Corona: Das sind die 6 drängendsten Probleme in der Gesundheitspolitik
Auf dem Land fehlen Ärzte, kleine Kliniken kämpfen ums Überleben, die Finanzierung wackelt. Welche Herausforderungen sehen Gesundheitsexperten aus Unterfranken vor der Wahl?
Check vor der Bundestagswahl: Wie gesund ist unser Gesundheitssystem? Welche Diagnosen stellen Experten aus Unterfranken und was empfehlen sie als Therapie? 
Foto: Christin Klose, dpa | Check vor der Bundestagswahl: Wie gesund ist unser Gesundheitssystem? Welche Diagnosen stellen Experten aus Unterfranken und was empfehlen sie als Therapie? 
Folker Quack
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:11 Uhr

Die gesundheitspolitischen Debatten werden seit Monaten von der Corona-Pandemie beherrscht. Doch im Gesundheitswesen gibt es weit mehr und auch ganz andere Probleme zu bewältigen. In den Parteiprogrammen zur Bundestagswahl spielt die Gesundheitspolitik jedenfalls eine große Rolle. Wir haben Gesundheitsexperten aus Unterfranken zu den akuten Herausforderungen befragt und fassen die sechs drängendsten Probleme zusammen. 

1. Hausärztemangel

Der Ärztemangel auf dem Land macht sich inzwischen auch in Unterfranken bemerkbar. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Bayern (KVB) sind fast 40 Prozent der unterfränkischen Hausärzte über 60 Jahre alt. Schon heute würden Praxisübergaben oft nicht gelingen, weil keine Nachfolgerin oder kein Nachfolger zur Übernahme bereit sei. Schon jetzt gebe es im südlichen Landkreis Schweinfurt und in Geroldshofen eine drohende Unterversorgung, dort sind zusammen 9,5 Hausarztstellen nicht besetzt. Erste Erfolge zeige die Möglichkeit der KVB, jungen Ärzten je nach Unterversorgung in einer Region eine einmalige Starthilfe von bis zu 90 000 Euro zu gewähren, wenn sie sich dort niederlassen.

2. Fachärztemangel

Vor allem auf dem Land werden Fach- und Hausärzte rar. 
Foto: Bernd Weissbrod, dpa | Vor allem auf dem Land werden Fach- und Hausärzte rar. 

Mit ein paar Jahren Verzögerung folge auf den Hausärztemangel ein Facharztmangel auf den Hausärztemangel, sagt Dr. Gunther Carl, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Kitzingen. Jüngere Ärzte würden sich zunehmend lieber in Kliniken anstellen lassen, statt den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen. Sie würden sich davon mehr Flexibilität versprechen, sagt der Sprecher der unterfränkischen Fachärzte bei der KVB. In Unterfranken seien aktuell vor allem die Landkreise Rhön-Grabfeld, Bad Kissingen und die Hassberge betroffen. Aktuell fehlt es laut KVB in ländlichen Regionen Unterfrankens vor allem an HNO- und Augenärzten sowie an Nervenärzten. Bei HNO sei auch der Landkreis Main-Spessart betroffen. Es könnten schnell auch andere Fachrichtungen in anderen Regionen hinzukommen, sagt Carl.

3. Zu viel Bürokratie

Was die niedergelassenen Ärzte laut Dr. Gunther Carl besonders belastet: die Bürokratisierung, die immer mehr Zeit, Personal  und Platz in den Praxen beanspruche. Er betreibe seine neurologische Praxis in Kitzingen seit 1991. Seitdem seien jedes Jahr neue bürokratische Hürden hinzu gekommen. Das habe auch mit der Digitalisierung der Medizin zu tun. In den Praxen würden immer mehr Programme für den Austausch mit Kassen oder anderen Dienstleistern. So müssten zum Beispiel ab Oktober 2021 Krankschreibungen mit zusätzlichem Aufwand digital an die Kasse gemeldet werden. Der Patient und sein Arbeitgeber erhielten aber nach wie vor den "gelben Schein". Da die digitale Übermittlung kompliziert sei, rechne er mit dem dreifachen bürokratischen Aufwand, sagt der Facharzt-Sprecher. Auch Kliniken verweisen auf die zunehmende Bürokratie: Die enormen bürokratischen Anforderungen würden Personal und Ressourcen binden, die sinnvoller in der Patientenversorgung eingesetzt werden sollten, heißt es bei der Genossenschaft Klinik Kompetenz Bayern (KKB), die 62 kommunale und freigemeinnützige Kliniken im Freistaat vertritt. 

4. Budgetierung der Ärzte 

Bei der Budgetierung habe das Terminvergabegesetz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn  (CDU) etwas Ausgleich geschaffen, sagt Carl. In bestimmten Fällen und bei Neupatienten könne die Behandlung jetzt auch zu 100 Prozent abgerechnet werden. Bei allen anderen aber bleibe es dabei, das der Arzt nur 85 Prozent von dem erhalte, was ihm eigentlich zustehen würde. "Wie sehen ein, dass die Mittel begrenzt sind," sagt Carl. Doch wenn die Finanzierung und die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht mehr zusammen passten, sei es Aufgabe der Politik und der Krankenkassen, dies den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln. So bleibe es allein dem Arzt überlassen, den Patientinnen und Patienten zu erklären, dass die eine oder andere Leistung von der Kasse nicht bezahlt werden würde. 

5. Finanzierung durch die Krankenkassen

Die Verschiebung von Behandlungen und geplanter Operationen aufgrund der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr und auch im ersten Quartal 2021 hätten sich positiv auf die Finanzergebnisse der Kassen ausgewirkt, sagt Dr. Irmgard Stippler, Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern. Nun kehre sich dieser Trend wieder um und führe zu deutlich mehr Ausgaben, sagt Sippler, die mit ihrer Familie im Landkreis Rhön-Grabfeld lebt. Hinzu kämen die vielen Gesundheitsgesetze aus dieser Legislaturperiode, die sich erst jetzt deutlich bemerkbar machen würden. Sippler rechnet im nächsten Jahr mit einem Defizit, das den zusätzlichen Bundeszuschuss in Höhe von sieben Milliarden Euro deutlich übersteigen werde. Da die Kassen 2020 ihre Rücklage in den Gesundheitsfonds abgeben mussten, könnten sie Ausgabensteigerungen nicht mehr abfedern. Sollen die Beiträge stabil bleiben, müsse die Politik dies bei der Höhe des zusätzlichen Bundeszuschusses berücksichtigen, sagt die AOK-Vorstandsvorsitzende.

6. Kliniken nach Corona

Es mache betroffen, wenn Berater der Bundesregierung immer wieder eine "massive Überversorgung bei Krankenhausbetten in Deutschland" anprangern würden, sagt Martin Stapper, Vorstandsmitglied der Genossenschaft Klinik Kompetenz Bayern (KKB). Er ist Geschäftsführer der Kongregation der Schwestern des Erlösers Würzburg, Träger des St. Josef-Krankenhaus in Schweinfurt und der Theresienklinik in Würzburg. Durch die sehr gut funktionierende Gesundheitsversorgung im stationären Bereich habe man die Pandemie in Deutschland bisher "hervorragend gemeistert", sagt Stapper. "Anpassungen im Gesundheitswesen sind notwendig, müssen aber mit dem notwendigen Augenmaß durchgeführt werden und müssen alle Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen berücksichtigen. Nicht nur die Zahl der Krankenhausbetten." 

Damit vor allem die kleineren Häuser in Unterfranken überleben, bräuchten sie laut Stapper vor allem wirtschaftliche Sicherheit, die derzeit fehle. Es dürfe keine Absenkung der Budgets aufgrund von Leistungsrückgängen geben. Die Klinik Kompetenz Bayern fordert deshalb, dass notwendige Vorhaltungen, insbesondere in der Notfallversorgung, im vollen Umfang finanziert würden - nicht nur nach den erbrachten Leistungen. Investitionen und Baumaßnahmen, die notwendig und bedarfsgerecht seien, müssten in vollem Umfang vom Staat finanziert werden. Hohe Kostenanteile erhöhten laut Stapper den wirtschaftlichen Druck enorm, weil die Vergütungen im Krankenhausbereich grundsätzlich keine Anteile für Investitionskosten enthalten würden. 

Die Gesundheitspolitik in den Wahlprogrammen der Parteien

CDU/CSU wollen mit dem Potential der Digitalisierung die Akteure des Gesundheitssystems stärker vernetzen. Digitale Versorgungsketten sollen Informationslücken zwischen Praxis und Krankenhaus beseitigen. Gesetzliche und private Versicherungen sollen getrennt bleiben, eine Einheitsversicherung lehnen CDU und CSU ab. Corona habe gezeigt, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst verstärkt werden müsse. Die Entwicklung neuer Medikamente soll unterstützt und vereinfacht werden. 
Die SPD fordert eine stärkere Öffnung von Krankenhäusern für ambulante, teambasierte und interdisziplinäre Versorgung. Eine Bürgerversicherung solle allen einen gleich guten Zugang zur medizinischen Versorgung ermöglichen. Die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen soll beendet werden, alle aus Mitteln der Solidargemeinschaft erwirtschafteten Gewinne sollen in das Gesundheitssystem zurück fließen. In der Kinder- und Jugendmedizin sollen die Fallpauschalen abgeschafft werden. Die psychotherapeutische Versorgung soll besser zugänglich werden.  
Bündnis 90/Die Grünen wollen mit regionalen Versorgungsverbünden die gesundheitliche Versorgung in Stadt und Land übergreifend planen, um eine bessere Versorgung auf dem Land zu erreichen. Nichtärztliche Gesundheits- und Pflegeberuf sollen mehr Eigenverantwortung erhalten. Es sollen mehr ambulante Psychotherapieplätze durch die Kassen zugelassen werden. Auch die Grünen wollen eine einheitliche Versicherung für alle. Beiträge sollen auch auf Kapitaleinkommen erhoben werden.   
Die FDP will eine "Bepreisung" der Bürokratie- und Berichtspflichten im Gesundheitswesen: Bezahlen solle der, der sie anfordert. Bei den Versorgungsstrukturen gelte der Grundsatz "ambulant vor stationär". Dies solle bei den Vergütungsregeln stärker beachtet werden. Zwischen den Krankenkassen soll es mehr Wettbewerb geben. Kassen sollten finanzielle Anreize aber auch zusätzliche Leistungen anbieten können. Der Wechsel zwischen privater und gesetzlicher Versicherung solle vereinfacht werden. 
Die Linke fordert einen Systemwechsel in der Gesundheitspolitik. Die Fallpauschalen sollen abgeschafft werden, die Krankenkassen alle Betriebskosten eines Krankenhauses refinanzieren. Dafür dürften Gewinne nicht mehr entnommen werden, sondern müssen im Betrieb bleiben. Alle sollen Beiträge auf alle Einkommen bezahlen. Die Beitragsbemessungsgrenze soll fallen, wodurch die Beiträge von 15 auf 12 Prozent sinken würden. Zuzahlungen und Eigenanteile sollen wegfallen. Alle medizinisch notwendigen Leistungen sollen vollumfänglich bezahlt werden. 
Die AfD fordert statt der Fallpauschalen ein Individualbudget für Krankenhäuser, um auch in strukturschwachen Gebieten wohnortnahe medizinische Versorgung zu gewährleisten. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen solle weiterentwickelt werden und den Patienten mehr Leistungsgerechtigkeit und mehr Behandlungsqualität bringen. Ärztliche Versorgung im ländlichen Raum sei eine vordringliche Aufgabe. Ausländisches Personal im Gesundheitswesen müsse gute Sprachkenntnisse nachweisen, die Qualifikation dem deutschen Standard genügen.  
Quelle: Parteiprogramme
 
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