Wie ist mit öffentlichen demokratiefeindlichen, möglicherweise strafbaren Auftritten umzugehen? Sie dürfen der Aufmerksamkeit der Medien nicht entgehen, selbst wenn über das "Wie" dieser Aufmerksamkeit gestritten werden kann. Überzeichnungen und Fehlgriffe, wie sie aktuell der "Bild" nach dem Vorfall in einem Sylter Club vorgeworfen werden, gilt es dabei zu vermeiden. Richtige Abwägungen müssen Redaktionen in ihrer Verantwortung derzeit indes häufig treffen.
Soll das auf regionalen Volksfesten gespielt werden?
Eine Auseinandersetzung unter Nutzerinnen und Nutzern des digitalen Forums dieser Redaktion lässt das Spannungsfeld ebenfalls erkennen. Ausgangspunkt ist die Zweckentfremdung des Dancehits "L'amour toujours" von Gigi D'Agostino, der von Liebe handelt. In einem Club auf Sylt grölten Gäste bekanntlich dazu rechtsradikale Parolen, begleitet vom sogenannten Hitlergruß. In der Region fragt man sich nun: "Nach Nazi-Gegröle: Darf "L'Amour toujours" auf Kiliani in Würzburg und beim Schweinfurter Volksfest gespielt werden?"
Leser im Widerspruch zur medialen Berichterstattung
"Hier es geht es nicht um Rassismus oder Verbote. Es geht nur um die mediale Verhältnismäßigkeit", schreibt dazu Leser M.W. in der Online-Diskussion über den Bericht zu dieser Frage. Rumgrölen sei noch das Harmloseste, werde aber medial am meisten aufgeblasen. Andere Vergehen würden eher verschwiegen, meint M.W..
Mit Widerspruch dagegen meldet sich H.S.. Er ist entsetzt, dass die Ansicht, die Sache werde medial aufgeblasen, auch noch vielfach durch Likes gutgeheißen wurde, ebenso wie der Vorwurf "künstlich erzeugter Aufreger". Rechtes Gedankengut in den Alltag zu bringen, das Sagbare immer weiter nach rechts zu rücken, damit es zunehmend als normal empfunden werde, das betreibe doch die AfD. Mit dieser Erkenntnis steht er bekanntlich nicht alleine.
Die Gefahr, wenn der Lokaljournalismus fehlt
Die Wirkung medialer Berichte und Kommentare lässt sich aus der Masterarbeit des Journalisten Maxim Flößer an der Uni Stuttgart ableiten - in seiner Studie nach der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg. Deren Ergebnis lautet: "Fehlt der Lokaljournalismus, steigt der Stimmenanteil der AfD." - Achtung: Bitte korrigierenden Nachtrag zu dieser Arbeit, erstellt am 4. Juli 2024 von Anton Sahlender, am Ende des Textes beachten.
Obwohl dieser für die AfD dann nur 0,6 bis 1,6 Prozent höher ist, hält Flößer das Ergebnis noch für statistisch signifikant. Wie auch immer. Eine Situationsprognose des Bundesverbandes der Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) gewinnt darüber an Brisanz: Bis 2025 könnten bundesweit rund 4400 Gemeinden bundesweit vom Verlust ihrer Lokalzeitung bedroht sein. Für Baden-Württemberg kam Flößer auf 900 Gemeinden mit und 200 ohne Lokalzeitung. Deren Rettung kann auch in der Abkehr vom Papier, hin zu digitalen Formaten gesehen werden. Dazu bietet der Berliner Tagesspiegel gezielt Schulungen an.
Flößers Definition für Lokalzeitungen
Als "Lokalzeitung" definiert hat Flößer in seiner Studie die Medien, die für die jeweilige Gemeinde auf ihrer Webseite einen eigenen Reiter oder Vermerk haben. Es müssen also explizit für diesen Ort Nachrichten erscheinen. Nicht dazu gerechnet hat er Gemeindeblätter, Nachrichtenseiten, die nur Unfälle veröffentlichen oder größere Zeitungen, die in einem kleinen Ort ohne lokale Ausgabe erscheinen. Er hat sich nach seinen Worten für seine Erhebungen einen Sommer lang in sein Arbeitszimmer eingesperrt und sie mit weiteren signifikanten Daten gestützt.
Auftrag: Zuverlässiger zur Orientierung der Menschen beitragen
Dass die von Flößer bezeichneten Lokalblätter nicht nur in den 900 Gemeinden in Baden-Württemberg über öffentliche antidemokratische Aussagen und Auftritte stets berichten und sie kommentieren, davon darf man ausgehen. Selbst wenn journalistisch dabei auch Mängel sichtbar werden könnten, trägt das überwiegend und zuverlässig zur besseren Orientierung der Menschen bei. Und wer umfassend erklärt, der bläst nicht auf.
So erwarten die Leitlinien dieser Redaktion: "Falsche, Menschen-diskriminierende oder demokratiefeindliche Aussagen ordnen wir entsprechend ein." Das wird angestrebt. Das ist deutlich mehr, als wenn – ohne Lokalblatt - einseitige und von Interessen gesteuerte Beiträge auf vielen Wegen die Oberhand gewinnen oder manches überhaupt verborgen wird. So lässt sich auch das Studienergebnis erklären.
Keine Lokalzeitung mehr? Schlimmer, als wenn der Bahnhof fehlt
In anderen Ländern kann man Entwicklungen zum Verschwinden von Lokalzeitungen bereits länger beobachten, insbesondere in den USA. Lücken entstehen, die sich leicht mit Desinformation und Propaganda ausfüllen lassen. Darauf weist Flößer hin. Wo die Lokalzeitung fehlt, sinkt die Wahlbeteiligung, die Korruption steigt und die Zufriedenheit sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt gehen nach unten. Selbst wenn die von Flößer ermittelten Steigerungsraten für Baden-Württemberg für die AfD gering ausfallen, ist zu verstehen, wenn sein Professor André Bächtiger von der Uni Stuttgart vergleichend sagt, "keine Lokalzeitung ist wie kein Bahnhof".
Allerdings fürchte ich, dass die Folgen ohne Lokaljournalismus sich für unsere Demokratie deutlich schlimmer auswirken als ein fehlender Bahnhof.
Wichtige Korrektur des Autors dieser Kolumne, hinzugefügt am 4. Juli 2024: Kollegen haben mich begründet darauf aufmerksam gemacht, dass die Studien-Ergebnisse von Maxim Flößer nicht haltbar sind. Er hat einen methodischen Fehler begangen. Er hat vorhandene Lokalberichterstattung über Gemeinden an den digitalen Reitern festgemacht, welche sie für die einzelnen Orten online kennzeichnen. Das ist unzureichend und vermittelt falsche Zahlen. Ein fehlender Reiter sagt in vielen Fällen nichts darüber aus, ob tatsächlich berichtet wird oder nicht. Das lässt sich für einzelne Orte nachweisen. Deshalb sind 200 Gemeinden in BW, die laut Studie keine Lokalberichterstattung haben, als Größenordnung nicht haltbar. Und das stellt weitere Ergebnisse der Studie ebenfalls in Frage.
Ich bedauere, einen solchen Fehler übernommen zu haben und bitte dafür um Entschuldigung. Zu meiner grundsätzlichen Aussage zu wahrscheinlichen Folgen für Orte, in denen es tatsächlich keine lokale Berichterstattung gibt, stehe ich weiterhin.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Frühere Leseranwalt-Kolumnen, welche die Aufgabe einer Lokalzeitung beleuchten:
Okt. 2023: "Herausforderung AfD: Warum Journalisten einen Wertemaßstab für den Umgang mit Parteien brauchen"
Jan. 2022: "Über einen falschen Eindruck im Bericht aus dem Gemeinderat"
Jan. 2016: "Am Wurzelwerk von Lokalredaktionen"
Nov. 2012: "Ein Bürgermeister, der nicht mit dem Mitarbeiter reden mag, den die Redaktion beauftragt hat"
Feb. 2010: "Wachhunde der Demokratie mit Verfassungsrang"
Sehen Sie denn auch in der Main-Post eine Gewalt, die Massen lenken will?
Können sie mir aus ihren Veröffentlichungen dafür ein Beispiel nennen?
Welches sind ihre Quellen für ihre Botschaft vom unmündigen Leser?
Würde mich über Antworten freuen, die Sie mit auf auf leseranwalt@mainpost.de übermitteln können. Danke.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Unter „gelenkter Demokratie“ versteht der 2015 verstorbene Demokratietheoretiker Sheldon S. Wolin eine politische Organisationsform, bei der Regierungen durch Wahlen legiti- miert werden, die sie zu kontrollieren gelernt haben. Sein Alterswerk „Umgekehrter Totalitarismus“ geht davon aus, dass „gemanagte Demokratie“ totalitäre Züge entwickelt. Passt der Begriff „Demokratie“ dann heute noch auf unsere Gesellschaftsform?
Anton Sahlender, Leseranwalt
Anton Sahlender, Leseranwalt