

So ein oberflächlicher "Senf" wäre zu seiner Schulzeit nicht einmal in der gymnasialen Unterstufe hingenommen worden. Zornig schreibt mir das Leser K. aus dem Landkreis Kitzingen. Sein Professor hätte dazu damals wohl gesagt: "Setze dich. Ich trage dir eine Sechs ein." So bewertet der Leser nun aktuell den Beitrag "Der Geburtstag des unnachgiebigen Opas", veröffentlich in der Zeitung vom 7. Oktober 2022. Der Beitrag sei nicht zu rechtfertigen, zürnt K., der in seiner Zuschrift die Rolle eines strengen Gymnasiallehrers einnimmt.
Leser K.: "Blauäugig-kindische Zeilen" über Putin
"Blauäugig-kindisch" nennt K. die Zeilen der Autorin Inna Hartwich; darunter die, Putin habe 70. Geburtstag und werde seit einiger Zeit zärtlich "Opa" genannt. Während seiner Knabenzeit hätten ihn Kumpels verprügelt, darum sei er seither ein "grober Bauernkerl". Beim KGB habe er Halt gefunden, denn da habe es "Klarheit und Sicherheit" gegeben. Außerdem sehe sich Putin "innerlich zur Selbstbehauptung gegenüber Amerika und der Welt gedrängt".
Ironische Zwischenbemerkungen von K. dazu habe ich hier ausgespart.
Verlorenes Feindbild?
"Geht‘s eigentlich noch einfältiger?!?", schimpft K. über diese Zeilen und über einige weitere in dem Bericht. Den "KGB-Agenten, Despoten, Diktator, Tyrannen, Schreibtischmörder und Kriegsverbrecher" und vieles mehr vermisse er jedoch im Artikel. Sie fehlten ihm, diese schwerer wiegenden Gegengewichte. Denn nur beiläufig stehe da geschrieben, Putin setze Mittel ein, die menschenverachtend "sein mögen". Ein bestimmtes "sind" hätte das erfordert, korrigiert Leser K..
Ja, das sehe auch ich ein. Das wäre besser gewesen.
Seinen Einwurf allerdings, das zugehörige Foto zeige Putin gut genährt und wohlauf, obwohl er laut Artikel doch "selbstzerstörerisch" handele, meint K. wohl eher ironisch.
Das Unmenschliche an Putin ist hinreichend bekannt
Ich halte freilich fest: Das Unmenschliche an Putin, das K. im Artikel vom 7.10. vermisst, war spätestens seit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine wiederholt Gegenstand in Berichten dieser Zeitung und aller Medien. So dürfen die verbrecherischen Seiten des Russen in der Leserschaft als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden, ebenso wie dies Herr K. für sich reklamiert.
Das heißt: Auch für die Redaktion bleiben Putins Verbrechen immer präsent, aber sie bedürfen nicht in jedem Beitrag der Wiederholung. In der hier besprochenen Darstellung waren sie wohl eher überflüssig. Der Kontrast, der durch die Beschreibung anderer Lebensstationen entsteht, kann sie sogar besonders gegenwärtig machen.
Neue Perspektiven für Ereignisse, die lange im Blickpunkt stehen
Bei Ereignissen, die lange im Blickpunkt stehen, ist es journalistisch üblich, nicht alles ständig zu wiederholen, sondern Hintergründe und neue Perspektiven zu erschließen. Genau das tut die in Moskau lebende Russland-Korrespondentin Inna Hartwich. Sie wirbt mit den von K. kritisierten Passagen (z.B. "Putin gab sich als entschlossener Anti-Terror-Kämpfer, der Terroristen auf dem Klo kaltmachen wollte") keineswegs für einen "Opa, der Geburtstag hat", wie es sinngemäß wohl bei Herrn K. angekommen ist. Inna Hartwich rechtfertigt oder verharmlost auch keine Kriegsverbrechen, nur weil sie diese in diesem Beitrag nicht eigens anspricht. Dennoch kann man ihren Text kritisch sehen.
Das Unbegreifliche an Gewaltherrschern erschließen
Aber wie bei manch grausamen Tyrannen schon die Geschichte erkennen lässt, konnte man in deren schrecklichen Dasein auch verborgener menschlicher Seiten gewahr werden. Das nimmt ihnen nichts von ihrer Verantwortung und schweren Schuld. Es könnte sogar Antworten geben, die das unbegreiflich Unmenschliche etwas erschließen und uns in Zukunft besser dagegen wappnen. Darin kann sich für den Hintergrundbericht über Putin eine Berechtigung finden.
Respektieren muss ich freilich, dass Herr K. nach ausführlicher schriftlicher Diskussion weiterhin auf seiner Kritik besteht. Und er ist nicht alleine: In der Redaktion gibt es zu dem Korrespondententext ebenfalls kontroverse Stimmen. Hätte man diese der Veröffentlichung schon mitgeben können, wäre wohl nicht nur Herr K. zufrieden gewesen.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

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