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LESERANWALT
Leseranwalt: Putins Verbrechen müssen nicht in jedem Bericht über ihn erwähnt werden
Ein Korrespondenten-Beitrag aus Russland, der Hintergründe aus dem Leben des Moskauer Gewaltherrschers beschreibt, erzürnte einen Leser. Was der Leseranwalt dazu sagt.
Ein Artikel  mit Hintergründigem zum Leben von Wladimir Putin hat einen Leser erzürnt. Und das dazu erschienene Foto hält er für beschönigend. 
Foto: Alexander Zemlianichenko, dpa | Ein Artikel  mit Hintergründigem zum Leben von Wladimir Putin hat einen Leser erzürnt. Und das dazu erschienene Foto hält er für beschönigend. 
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:05 Uhr
Ein Artikel  mit Hintergründigem zum Leben von Wladimir Putin hat einen Leser erzürnt. Und dieses dazu erschienene Foto hält er für eher unpassend. 
Foto: Gavriil Grigorov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa | Ein Artikel mit Hintergründigem zum Leben von Wladimir Putin hat einen Leser erzürnt. Und dieses dazu erschienene Foto hält er für eher unpassend. 

So ein oberflächlicher "Senf" wäre zu seiner Schulzeit nicht einmal in der gymnasialen Unterstufe hingenommen worden. Zornig schreibt mir das Leser K. aus dem Landkreis Kitzingen. Sein Professor hätte dazu damals wohl gesagt: "Setze dich. Ich trage dir eine Sechs ein." So bewertet der Leser nun aktuell den Beitrag "Der Geburtstag des unnachgiebigen Opas", veröffentlich in der Zeitung vom 7. Oktober 2022. Der Beitrag sei nicht zu rechtfertigen, zürnt K., der in seiner Zuschrift die Rolle eines strengen Gymnasiallehrers einnimmt.

Leser K.: "Blauäugig-kindische Zeilen" über Putin

"Blauäugig-kindisch" nennt K. die Zeilen der Autorin Inna Hartwich; darunter die, Putin habe 70. Geburtstag und werde seit einiger Zeit zärtlich "Opa" genannt. Während seiner Knabenzeit hätten ihn Kumpels verprügelt, darum sei er seither ein "grober Bauernkerl". Beim KGB habe er Halt gefunden, denn da habe es "Klarheit und Sicherheit" gegeben. Außerdem sehe sich Putin "innerlich zur Selbstbehauptung gegenüber Amerika und der Welt gedrängt".

Ironische Zwischenbemerkungen von K. dazu habe ich hier ausgespart. 

Verlorenes Feindbild?

"Geht‘s eigentlich noch einfältiger?!?", schimpft K. über diese Zeilen und über einige weitere in dem Bericht. Den "KGB-Agenten, Despoten, Diktator, Tyrannen, Schreibtischmörder und Kriegsverbrecher" und vieles mehr vermisse er jedoch im Artikel. Sie fehlten ihm, diese schwerer wiegenden Gegengewichte. Denn nur beiläufig stehe da geschrieben, Putin setze Mittel ein, die menschenverachtend "sein mögen". Ein bestimmtes "sind" hätte das erfordert, korrigiert Leser K..

Ja, das sehe auch ich ein. Das wäre besser gewesen.

Seinen Einwurf allerdings, das zugehörige Foto zeige Putin gut genährt und wohlauf, obwohl er laut Artikel doch "selbstzerstörerisch" handele, meint K. wohl eher ironisch. 

Das Unmenschliche an Putin ist hinreichend bekannt

Ich halte freilich fest: Das Unmenschliche an Putin, das K. im Artikel vom 7.10. vermisst, war spätestens seit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine wiederholt Gegenstand in Berichten dieser Zeitung und aller Medien. So dürfen die verbrecherischen Seiten des Russen in der Leserschaft als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden, ebenso wie dies Herr K. für sich reklamiert.

Das heißt: Auch für die Redaktion bleiben Putins Verbrechen immer präsent, aber sie bedürfen nicht in jedem Beitrag der Wiederholung. In der hier besprochenen Darstellung waren sie wohl eher überflüssig. Der Kontrast, der durch die Beschreibung anderer Lebensstationen entsteht, kann sie sogar besonders gegenwärtig machen.

Neue Perspektiven für Ereignisse, die lange im Blickpunkt stehen

Bei Ereignissen, die lange im Blickpunkt stehen, ist es journalistisch üblich, nicht alles ständig zu wiederholen, sondern Hintergründe und neue Perspektiven zu erschließen. Genau das tut die in Moskau lebende Russland-Korrespondentin Inna Hartwich. Sie wirbt mit den von K. kritisierten Passagen (z.B. "Putin gab sich als entschlossener Anti-Terror-Kämpfer, der Terroristen auf dem Klo kaltmachen wollte") keineswegs für einen "Opa, der Geburtstag hat", wie es sinngemäß wohl bei Herrn K. angekommen ist. Inna Hartwich rechtfertigt oder verharmlost auch keine Kriegsverbrechen, nur weil sie diese in diesem Beitrag nicht eigens anspricht. Dennoch kann man ihren Text kritisch sehen.

Das Unbegreifliche an Gewaltherrschern erschließen

Aber wie bei manch grausamen Tyrannen schon die Geschichte erkennen lässt, konnte man in deren schrecklichen Dasein auch verborgener menschlicher Seiten gewahr werden. Das nimmt ihnen nichts von ihrer Verantwortung und schweren Schuld. Es könnte sogar Antworten geben, die das unbegreiflich Unmenschliche etwas erschließen und uns in Zukunft besser dagegen wappnen. Darin kann sich für den Hintergrundbericht über Putin eine Berechtigung finden.

Respektieren muss ich freilich, dass Herr K. nach ausführlicher schriftlicher Diskussion weiterhin auf seiner Kritik besteht. Und er ist nicht alleine: In der Redaktion gibt es zu dem Korrespondententext ebenfalls kontroverse Stimmen. Hätte man diese der Veröffentlichung schon mitgeben können, wäre wohl nicht nur Herr K. zufrieden gewesen. 

Anton Sahlender, Leseranwalt

Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Als 'blauäugig-kindisch' bezeichnet ein Leser diesen Hintergrundbericht in der Main-Post vom 7.10.22. Doch der hat nicht nur journalistisch betrachtet seine Berechtigung.
Foto: Repro Sahlender | Als "blauäugig-kindisch" bezeichnet ein Leser diesen Hintergrundbericht in der Main-Post vom 7.10.22. Doch der hat nicht nur journalistisch betrachtet seine Berechtigung.

Leseranwalt-Kolumnen, die das Thema ergänzen

2012: "Zitate von Nazi-Größen sind in kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte gerechtfertigt"

2016: "Bombardements sind nie menschlich"

2018: "Der verbrämte Nazi-Vergleich"

2022: "Warum man bei der Veröffentlichung der Fotos von Kriegsverbrechern und von Opfern gut abwägen muss"

2022: "Nach den Schwarz-Weiß-Fotos von Olympia in der Zeitung fordern Leser weitere Konsequenzen"

2022: "Über die Gefahr, russische Menschen pauschal zu verunglimpfen"

2022: "Auch Reaktionen auf Selenskyjs angegriffenes Aussehen sind eine Nachricht"

2022: "Wie sich Putins imaginärer Heiligenschein deuten lässt"

2022: "Was einem sehr guten Artikel aus Russland zur Perfektion fehlt"

 
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