
Ein Leser aus dem Landkreis Würzburg schreibt mir: "Von Journalisten und meiner Zeitung erwarte ich Fakten und gut recherchierte Informationen, nicht mehr und nicht weniger." So kritisiert der Mann den Kurzbericht in der Zeitung "Besorgnis über Selenskyjs Aussehen/Krieg hinterlässt Spuren in den Gesichtern" (Ausgabe vom 6. April) mit einem Foto, das den ukrainischen Präsidenten mit einem wohl bereits vom Krieg gezeichneten Gesicht zeigt. Er fährt fort: Weder Inhalt noch Botschaft würden diesen Beitrag rechtfertigen. Der Leser wundert sich, warum er überhaupt geschrieben worden ist. Es war ein Beitrag, der nicht nur in der Main-Post erschienen ist.
Im Artikel ist zu lesen, dass sich im Internet viele Menschen über Selenskyjs Aussehen (mit Augenringen) bei dessen Besuch im von Gräueltaten heimgesuchten Butscha besorgt gezeigt haben. Sie hatten den aktuell von Schmerz gezeichneten Anblick mit einem anderen Foto des Präsidenten, entstanden noch vor dem Krieg, verglichen. Ähnliche Empfindungen von Leserinnen und Lesern zu dem Kriegsfoto des Präsidenten sind auch in dieser Redaktion eingegangen.
Stimmungen werden während des Krieges zu Informationen
Die Besorgnis über das Aussehen des Präsidenten könne er nicht teilen, schreibt der Mann aus einem Ort im Landkreis Würzburg in seinem zu langen Leserbrief, der deshalb in der Zeitung nicht abgedruckt wurde. Und außerdem stellt er klar, dass er sich zwar um Menschen sorge, die in diesem Krieg leben müssen, aber doch nicht um deren Aussehen. Diese und seine weitere Kritik habe ich seinen Zeilen entnommen.
Die Erwartungen des Mannes an gute Recherchen von Journalistinnen und Journalisten kann ich nachvollziehen. Einwenden muss ich dennoch: Auch das Spiegeln von Stimmungen und Emotionen ist seriöser Journalismus. Gerade während dieses Krieges werden sie zu bedeutsamen Informationen - so man sich ihrer sicher sein kann. Sie sind eine Kriegsfolge. Stimmungen zeigen die jeweilige Haltung an. Denn wir sind längst Beteiligte, auch ohne an einer Kampffront zu stehen oder uns angstvoll in Kellern vor Bomben und Raketen zu fürchten. Es geht deshalb um viel mehr als um Grafiken von Truppenbewegungen und die Dokumentation der damit verbundenen Gräuel und Zerstörungen. Es geht um Unterstützung.
Nicht jede Emotion aus den Sozialen Medien auf die Goldwaage legen
Werden die Stimmungen, wie im geschilderten Fall, von der Deutschen Presseagentur (dpa) beschrieben, dürfen wir davon ausgehen, dass sie solide überprüft worden sind. Wir verlassen uns bei der Agentur auf ihr journalistisch verantwortungsvolles Handeln. Ein Thema, das im Internet auffiel, war die oft geäußerte Besorgnis von Menschen um Präsident Selenskyj. Und trotz aller Unsicherheiten und falscher Meldungen, die das weltweite Netz leider in sich trägt, spielt sich darin ein gewichtiger Teil der Wirklichkeit ab, der nicht übergangen werden darf. Wir sollten aber nicht jede Emotion, die auf Social-Media-Plattformen geäußert und diskutiert wird, auf die Goldwaage legen. Nutzerinnen und Nutzer der redaktionellen Angebote dieser Zeitung wissen das erfahrungsgemäß einzuschätzen.
So sind manche Darstellungen der Person Wolodymyr Selenskyj, etwa als ein "echter Kämpfer", die laut Artikel hunderttausendfach "Gefällt mir"-Angaben erhielten, vordergründig nur Gefühle. Fakt ist jedoch, dass sie massenhaft geäußert und zählbar samt Reaktionen wahrgenommen wurden. Daraus ist die in dieser Zeitung erschienene Nachricht entstanden. Der kritische Leser merkt jedoch an, dass er die Aufrichtigkeit vieler dieser Äußerungen anzweifle. Das verstehe ich und kann es nachvollziehen. Als Zeichen von Solidarität könne er die Berichterstattung jedoch verstehen, schreibt der Leser weiter.
Wir sind Beteiligte, zusammen mit ganz Europa
Zu oft lese er aber davon, dass unser Lebensstandard bedroht sei. Dabei müssten wir doch anerkennen, dass es nichts umsonst gibt. Auch der Friede werde uns etwas kosten. In diesen Worten mag seine Bewertung der Nachrichtenlage stecken und die Botschaft, die er ihr entnimmt.
Klar dürfte aber uns allen sein, was damit auch gesagt ist: Tod und Zerstörung in der Ukraine müssen uns nahe gehen. Sie verlangen auch hierzulande Opfer. Politisch und wirtschaftlich sind wir Beteiligte, zusammen mit ganz Europa. Da sollte das Echo vieler Menschen auf ein Antlitz Selenskyjs, das wenigstens etwas von der Grausamkeit des Krieges spiegelt, als Nachricht wahrhaftig nicht zu viel sein. Die Opfer des Krieges, die bei uns Schutz finden, haben wesentlich Schmerzhafteres zu berichten.
Von den schlimmsten Bildern werden wir in dieser Zeitung bekanntlich verschont, auch wenn es dazu andere Meinungen gibt. Etwa die des Kriegsfotografen Daniel Etter, der sagt: "Wenn solche fürchterlichen Sachen passieren, sollte man auch darüber berichten. Natürlich sollte man die Aufnahmen gleichzeitig einordnen und Hintergrundinformationen dazu liefern."
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Weitere Leseranwalt-Erklärungen zum Krieg und zu Bildern:
17. März 2022: "Nach der Veröffentlichung von Schwarz-Weiß-Fotos von Olympia in der Zeitung fordern Leser weitere Konsequenzen"
24. März 2022: "Über die Gefahr, russische Menschen pauschal zu verunglimpfen"
7. April 2022: "Warum man bei der Veröffentlichung von Fotos von Kriegsverbrechern und von Opfern gut abwägen muss"