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Würzburg
Leseranwalt: Es ist ein Wert, auch über "Situationship" mitreden zu können
Eine Leserin beklagt, dass sie schon beim Frühstück in der Zeitung etwas über eine junge Beziehungsform lesen muss. Was sie dabei aber nicht übersehen darf.
Die Titelseite der gedruckten Main-Post vom 4. Mai 2024: 'Aufhören, bevor es Liebe wird'
Foto: Grafik Main-Post | Die Titelseite der gedruckten Main-Post vom 4. Mai 2024: "Aufhören, bevor es Liebe wird"
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 28.07.2024 02:43 Uhr

Schon auf der Titelseite der Main-Post prangt weiß in rotem Feld die Überschrift: „Aufhören, bevor es Liebe wird“. Junge Beziehungen sind angesagt, mit „regelmäßigen Treffen, Sex – aber keine feste Bindung“. Eine Doppelseite gewährt dann in der Zeitung vom Samstag, 4. Mai, tiefe Einblicke in diese gesellschaftliche Veränderung oder kurz in eine „Situationship“.  Nicht gut angekommen ist das bei einer Leserin.

„Und das auf dem Frühstückstisch auf nüchternem Magen!“ So signalisiert mir Frau T.B. ihre Ablehnung. Auf der ersten Seite der Zeitung erwartet sie aktuelle, wichtige, interessante Gesprächsthemen, die in Unterfranken bewegen. Deshalb fordert sie die Redaktion auf: „Schaut mal dem Volk aufs Maul“. Und sie fragt: „Worüber regen wir uns auf und worüber lachen wir?“. Freilich, so füge ich hinzu, darf dabei das junge Volk nicht außen vor bleiben.

Leserin hat eine klare Erwartung an die Titelseite der Main-Post 

Das, was Frau T.B. wünscht, steht vergleichbar im Stammbuch jeder Redaktion. Doch passt die Vielfalt, die damit angesprochen ist, auf keinen Titel. Die Reaktionen auf die Umsetzung ungewohnter Themen sind ohnehin sehr unterschiedlich.

An jenem 4. Mai, ebenfalls auf Seite eins der Zeitung, wird nach dem Mord an einem 14-Jährigen in Lohr aktuell über den Prozess berichtet. Der Fall hat über Unterfranken hinaus Aufsehen erregt. Der Artikel war direkt unter der großen roten Vorschau auf die neue Variante im Beziehungsleben platziert. In alledem vermag Frau T.B. offensichtlich nicht das Positive auszumachen, das sie mir ebenfalls auf ihre Wunschliste geschrieben hat.

Redaktion soll positive Aspekte stärker in den Fokus rücken

Die Redaktion hat der Frau mitgeteilt: Die Regionalität gelinge in der Regel gut. In der vergangenen Woche gab es fast täglich einen Beitrag aus der Nähe (Bild oder Text) auf dem Titel. Aber jeden Tag sei dabei abwägend nach Relevanz und Umfang zu fragen. Gute Nachrichten aber, die könne man nicht herbeizaubern. Aber man versuche, positive oder konstruktive Aspekte stärker in den Fokus zu rücken.

Chefredakteur Ivo Knahn fragt aber schon zu Jahresbeginn auch nach der Perspektive: "Wo bleiben die guten Nachrichten? Sie sind fast überall, aber wir sehen sie zu selten."

"Liebe im Hier und Jetzt" ist auch in Unterfranken zuhause

Aber warum wehrt sich jemand gegen die Schilderung der "Liebe im Hier und Jetzt", wie die Augsburger Allgemeine die "Situationship" zusammenfasst? Etwa weil in dem neuen Wort, in dem eine Sexual- und Paartherapeutin ein Miteinander ohne klare Verpflichtung sieht, regionale Nähe unsichtbar bleibt? Dabei ist es sicherlich auch in der unterfränkischen „Generation Z“ (16-25-Jährige) zu Hause. Der wird Frau T.B., wie viele treue Leserinnen und Leser, mutmaßlich nicht mehr angehören.

Junge Zielgruppen müssen in ihren Lebenswelten erreicht werden.

Fast 50 Prozent der Zeitungsleserinnen und Zeitungsleser sind über 60 (Statista 2021). Vielleicht gibt es in dieser Gruppe moralische Vorbehalte gegen lose Partnerschaften. Man kann sie als haltlos empfinden. Solche persönlichen Kundgebungen aus dem veränderten Leben junger Leute bewerten Leserinnen und Leser meist sehr different.

Aber für den Erhalt der Tageszeitungen ist es unabdingbar, die jungen Zielgruppen stärker mit ihren Themen in ihren Lebenswelten zu erreichen. Älteren Generationen geht gerade auf lokalen Seiten mit Blick auf bewährte klassischen Partnerschaften kaum etwas verloren.

Mitreden kann ein Wert sein

Besonders Menschen unter 30 haben Tageszeitungen ins Auge gefasst. Über 60 Prozent (Bundesverband: BDZV) davon nutzen jede Woche ihre Angebote, vor allem digital. Auf das Digitale muss der Journalismus schon heute für morgen setzen.

Dabei ist es eine Kunst, die gegenseitige Neugierde und das Verständnis zwischen den Generationen herzustellen. Denn selbst auf nüchternem Magen ist es nicht schlecht aus der Zeitung zu erfahren, was andere tun und denken oder wie sie leben und lieben. Und, verehrte Frau T.B., es könnte für Sie ein gesellschaftlicher und persönlicher Wert sein, auch darüber mitzureden.

Anton Sahlender, Leseranwalt. Sehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Dazu auch frühere Kolumnen des Leseranwalts:

Aug. 2022: "Warum das Bild einer Strandszene über einem sachlichen Artikel ein Fehlgriff war"

Aug. 2020: "Ein fröhliches 'Guten Morgen' missverstanden"

April 2020: "Eine Empfehlung für die besorgte Großmutter"

Aug. 2018: "Gute und schlechte Nachrichten eine Frage der Perspektive"

Juni 2017: "Wegen der Main-Post habe ich Lesen gelernt"

Sept. 2009: "Tipps für schnellen Sex in den Ferien waren nicht ernst gemeint"

März 2008: "Über Maßstäbe für Moral und guten Geschmack"

 
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