Mit der Glaubwürdigkeit ist das manchmal so eine Sache: Da ruft die Redaktion immer wieder ernsthaft gegen Hass und Gewalt auch in der Sprache auf. Und dann veröffentlicht sie großformatig einen hässlichen Aufruf, einen, bei dem man meinen könnte, es solle einer Politikerin an Leib und Leben gehen. Ich zitiere aus zwei Leserbriefen, die am 18. Februar veröffentlicht waren und deren kritischen Inhalt ich weitgehend teile.
Bezug auf einen Problembären
Herr S.W. erkennt das eingangs angesprochene Glaubwürdigkeitsproblem an einem Tag. Am 13. Februar war in der Zeitung in einem umfassenden Artikel gegen Hass im Internet aufgerufen worden. Aber acht Seiten später räume die Redaktion einem unverhohlenen Aufruf zu körperlicher Gewalt gegen eine Politikerin mit einem fünfspaltigen Foto viel Raum ein.
Herr M.P. benennt und kritisiert die Sache konkret: „Die Problem-Bärin zum Abschuss freigeben“, war unter anderem auf dem Transparent von Bayern-München-Ultras in der Münchner Fußball-Arena zu lesen, „das Sie großflächig abbilden.“ Damit wurde ein Bezug von einer bekannten Politikerin zu dem Jahre zurückliegenden Abschuss des sogenannten Problembären Bruno hergestellt. Aber der Artikel zum Bild enthalte keine Kritik an dem fragwürdigen Aufruf.
Als heftige Kritik verharmlost
Und Leser S.W. hält fest, worum es gegangen ist. Der Angriff der Fußball-Zuschauer galt der Staatsministerin Dorothee Bär, weil sie bekanntlich mit einem Tweet im sozialen Netzwerk Twitter den FDP-Mann Thomas Kemmerich zu dessen Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten beglückwünscht hatte. Ihren Tweet hatte die Politikerin schnell wieder gelöscht, nachdem an dieser Wahl-Entscheidung mit den Stimmen der AfD heftige Kritik laut wurde. - M.P. sieht das Transparent im Artikel verharmlost. Die Redaktion hatte es nur als „heftige Kritik“ eingeordnet.
Ich unterstelle den Bayern-Fans ob ihrer Anspielung auf das Schicksal des Bären keine bösen Absichten. Mit „Schleich di aus unserm Verein!“ haben sie ebenfalls auf jenem Transparent erklärt, um was es eigentlich geht. Und das hätte genügt. Bei aller berechtigter Kritik an jenem Tweet der Staatsministerin: Der Bezug auf das Schicksal des Problembären geht zu weit. Herr M.P. schreibt zurecht, es dürfe keinen Unterschied zwischen guter und schlechter „Hate-Speech“ (Hass-Sprache) geben. Wie wahr: Es gibt keine gute Hass-Sprache.
Die Frage des Lesers
Auch wenn im Text der kritische der Teil des Textes vom Transparent nicht wiederholt wird: Man vermisst kritische Distanz der Redaktion, die gewöhnlich deutlich wird, wenn Zuschauer in Fußballstadien Grenzen überschreiten. Man sollte nicht die Sprache verharmlosen, die man zurecht bekämpft. Oder, so fragt Leser M.P.: „Wie wäre Ihre Reaktion ausgefallen, wenn sich die Abschuss-Aufforderung gegen einen Journalisten gerichtet hätte?“
Hier der Link zu den beiden angesprochenen Leserbriefen: "Klare Absage an Gewalt gefordert"
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Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch www.vdmo.de
Is doch klar, die "kritische Distannz" wird um so kleiner, je mehr das zu kritisierende der eigenen Präferenz entspricht.