zurück
HANDBALL
Flucht nach Großwallstadt: Ukrainischer Handball-Nationaltrainer Slava Lochmann über den „Genozid“ an seinem Volk
Statt im Krieg in Kiew kämpft er bei Freunden in Unterfranken mit Sport und Worten für sein Land. Für Putin hat er nur ein Wort: "Mörder". Ob Lochmann beim TV Großwallstadt eine Zukunft hat?
Der ukrainische Handball-Nationaltrainer Slava Lochmann flüchtete vor dem Krieg in seiner Heimat nach Großwallstadt, wo er von 2004 bis 2007 als Spieler beim TVG unter Vertrag stand.
Foto: Natalie Greß | Der ukrainische Handball-Nationaltrainer Slava Lochmann flüchtete vor dem Krieg in seiner Heimat nach Großwallstadt, wo er von 2004 bis 2007 als Spieler beim TVG unter Vertrag stand.
Natalie Greß
 |  aktualisiert: 15.07.2024 10:04 Uhr

"Slava", sagt der große blonde Mann in der blau-gelben Trainingsjacke und streckt die Hand im Foyer des Sporthotels in Großwallstadt entgegen, um sich vorzustellen. Slava bedeutet in seiner Sprache Ruhm. Im Fall des ukrainischen Handball-Nationaltrainers handelt es sich um die Kurzform seines Vornamens. Die habe er seinem älteren Bruder zu verdanken, wird Vyacheslav Lochmann später an diesem Apriltag erzählen. Als seine Mutter ihn nach seiner Geburt zum ersten Mal dem Bruder gezeigt habe, soll der Siebenjährige angesichts des Babys entzückt ausgerufen haben: "Slavninki!" - was so viel heiße wie "Schöner", übersetzt Lochmann und lacht. "Da hat meine Mutter gesagt: Wir werden ihn Slava nennen." Und so nennen ihn seither alle, auch hier in Großwallstadt.

In dem unterfränkischen Ort, der für seinen traditionsreichen Handballverein bekannt ist, hat Lochmann Zuflucht gefunden vor dem Krieg in seiner Heimat. "Ich bin hier wie zu Hause", sagt der 44-jährige Ukrainer, der von 2004 bis 2007 als Profi im linken Rückraum beim TVG in der ersten Liga unter Vertrag stand. Damals knüpfte er freundschaftliche Bande, die bis ins Heute reichen. Und die wie ein Netz sind, das ihn und seine Familie nun aufgefangen hat.

Aufgewacht von Bomben am ersten Morgen des Krieges am 24. Februar in Kiew

Lochmanns eigentliches Zuhause ist, wie er sagt, eine 170-Quadratmeter-Wohnung im 15. Stock eines Wohnhauses im Norden der Hauptstadt Kiew. Doch das hat er zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter (19) und den beiden Söhnen (14, 7) vor mehr als einem Monat fluchtartig verlassen, mit nicht mehr als ein paar Habseligkeiten. Nicht wissend, ob und wann er dorthin zurückkehren wird. "Aber es geht uns gut hier."

Seit Lochmann Anfang März vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine geflohen ist, erst mal "900 Kilometer in 40 Stunden im Auto bis zur ungarischen Grenze" und von dort weiter nach Großwallstadt, hat er deutschen Medien schon ein paar Mal erzählt, wie er am frühen Morgen des 24. Februar aufgewacht ist, "vom lauten Geräusch der Bomben". Weil die Welt inzwischen mit den Namen der Vororte im Nordwesten der Hauptstadt die grausamsten Schlagzeilen über Kriegsverbrechen verbindet, fügt er diesmal vielsagend hinzu: "Als ich aus einem Fenster schaute, sah ich, wie die Bomben in der Gegend von Irpin, Borodjanka und Butscha einschlugen."

Slava Lochmann zu Putins Krieg: "Das ist Genozid am ukrainischen Volk"

Lochmann holt sein Handy und zeigt alles genau auf einer Karte. Auf einmal wird er emotional. "Jeden Morgen lese ich Zeitung. Gestern habe ich geweint." Geschichten von Mädchen, die von russischen Invasoren vergewaltigt worden seien und von Jungen, die ohne Zähne in Polen ankamen und erzählten, russische Soldaten hätten sie ihnen ausgeschlagen, damit sich die Kinder daran erinnerten, dass sie da gewesen seien - sie erschüttern den Vater dreier eigener Kinder sichtlich. "Ich habe dafür keine Worte." Nur ein passendes Wort falle ihm ein: "Genozid. Das ist ein Genozid am ukrainischen Volk." Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin kennt er auch ein Wort auf Deutsch: "Mörder".

"Als ich aus einem Fenster schaute, sah ich, wie sie in der Gegend von Irpin, Borodjanka und Butscha einschlugen."
Slava Lochmann, ukrainischer Handball-Nationaltrainer

Putins Angriff auf seine Heimat an diesem 24. Februar 2022 teilt das Leben von Slava Lochmann wie das von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern in ein Davor und Danach. "Davor hatte ich alles", sagt der Handballtrainer. "Seither habe ich nichts mehr." Der 44-Jährige sagt diese Sätze nicht klagend, auch nicht verbittert. Er spricht sie mit einer Stärke aus, die ausdrückt, dass man ihm und seinen Landsleuten alles nehmen kann, aber nicht ihre Würde, nicht ihre Freiheit - "und nicht unser Denken".

Großwallstadt Geschäftsführer Michael Spatz nimmt ukrainischen Kapitän auf

Lochmanns Glück in allem Unglück: "Ich habe sehr gute Freunde. Und ich habe den TVG." Dafür sei er dankbar. Sein "erster Freund", Rudolf Brunner, einer der "Gönner" des Vereins, wie Pressesprecherin Nina Mattes erklärt, hat ihm in den ersten zwei Wochen in Deutschland eine Bleibe in Rechtenbach bei Lohr (Lkr. Main-Spessart) verschafft. Inzwischen wohnen die Lochmanns in Kleinwallstadt in einem Haus anderer Unterstützer des Klubs.

Dort ist in einer separaten Wohnung auch der Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft untergekommen, Yevhen Zhuk. Der Linksaußen stand beim russischen Klub GK Permskie Medvedi unter Vertrag, als er in einer "Nacht- und Nebelaktion" mit Frau und Hund aus Russland flüchtete, wie Mattes berichtet. Zunächst wohnte er knapp zwei Wochen lang bei Michael Spatz. "Mit Google Translator hat das gut geklappt", sagt der TVG-Geschäftsführer.

Ukrainischer Sportminister erteilt Handballern Sondergenehmigung für Trainingslager

Elf weitere Nationalspieler, die nicht bei anderen ausländischen Vereinen, sondern beim ukrainischen Topklub Motor Saporischschja in Lochmanns Geburtsstadt angestellt sind, holte der Coach nach. Der Sportminister der Ukraine hatte allen eine Sondergenehmigung für ein 20 Tage dauerndes Trainingslager in Großwallstadt erteilt.

Das Handball-Nationalteam der Ukraine hielt in Großwallstadt ein Trainingslager ab. Dank eines Sondererlasses des ukrainischen Sportministeriums durften die Spieler mit ihren Familien das Kriegsgebiet verlassen.
Foto: Thomas Frey | Das Handball-Nationalteam der Ukraine hielt in Großwallstadt ein Trainingslager ab. Dank eines Sondererlasses des ukrainischen Sportministeriums durften die Spieler mit ihren Familien das Kriegsgebiet verlassen.

Vergangene Woche sind die Motor-Spieler nach Rostock umgezogen, sie dürfen dort ein weiteres Trainingslager absolvieren; mehr als die Hälfte von ihnen hat bereits Verträge bei anderen europäischen Vereinen unterschrieben. "Unser Minister hat gesagt, dass die Sportelite unseres Landes weiter trainieren soll. Das geht aber in der Ukraine nicht mehr", so Lochmann, der seit Januar als Nachfolger von Michael Biegler Nationaltrainer ist.

Halle statt Front, Ball statt Waffen

Dass er und seine Spieler in der Heimat nicht kämpfen müssen, ist ihr Privileg. "Ich kämpfe mit dem Handball und meiner Flagge", sagt der 44-Jährige. "Ich habe nie in meinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten, immer nur einen Ball." Und so stehe er nicht an der Front, sondern in der Halle. Bei einem Benefizspiel hätten ihm geflüchtete ukrainische Frauen gedankt, dass die Mannschaft ihr Land repräsentiere und davon erzähle, welches Grauen sich zu Hause abspiele.

"Ich kämpfe mit dem Handball und meiner Flagge."
Slava Lochmann, ukrainischer Handball- Nationaltrainer

Lochmanns Handy klingelt, der Handballverband ruft an. Er geht ran - und redet Russisch. "Das ist meine Muttersprache", erklärt er danach. Ob er Ukrainisch oder Russisch spreche - irrelevant. Nicht egal sei ihm jedoch, mit wem er spreche. "In den nächsten hundert Jahren will ich mit Russen kein Wort mehr wechseln!", betont der Enkel lettischer Großeltern, die von Stalin in den Ural verbannt wurden und der Sohn eines in Sibirien geborenen Vaters, der 1967 nach Saporischschja zog, wo er eine Einheimische kennenlernte und heiratete - Lochmanns Mutter. Die Eltern seien inzwischen 82 und 77 Jahre alt, wollten trotz des Krieges nicht weg von dort. "Jeden Morgen, wenn ich sie anrufe und Mama frage, wie es ihnen geht, antwortet sie: 'Wir leben.'"

Wird Lochmann in der nächsten Saison Trainer des TV Großwallstadt?

Wie und wo es in naher Zukunft für Lochmann selbst weitergeht, weiß er noch nicht. Über Ostern hilft er dem TVG bei einem Handballcamp. Danach will der Klub ihm und auch Zhuk helfen, Arbeit zu finden. Vielleicht ja sogar in den eigenen Reihen? "Mit Yevhen sind wir schon in Gesprächen", verrät Spatz. Der Linksaußen ist zwar noch verletzt, könnte aber nächste Saison in der ersten Mannschaft auflaufen.

Und Lochmann? Sein 14-jähriger Sohn Maxim besucht bereits die Nachwuchsakademie des TVG und wird für die B-Jugend spielen. Der Vertrag von Maik Handschke, der den abstiegsbedrohten Zweitligisten Mitte März für den freigestellten Ralf Bader übernommen hat, läuft erst mal nur bis Saisonende. Könnte der EHF-Mastercoach ihn beerben?

"Das steht aktuell nicht zur Debatte", stellt Spatz klar. "Wir wollen erst mal die Punkte für den Klassenerhalt holen und dann vielleicht die Zusammenarbeit mit Maik verlängern." Dennoch sei es "denkbar, Slava im Verein einzubinden, auch bei den Junioren", so der Geschäftsführer.

Ukraine-Handballer hoffen nach Ausschluss von Russland und Belarus auf Wildcard für WM 2023

Auch Lochmann bleibt vage. "Ich liebe mein Land, und Handball ist mein Leben. Aktuell trainiere ich die Nationalmannschaft. Nach dem Ausschluss von Russland und Belarus von der WM 2023 hoffen wir auf eine Wildcard für die Ukraine. Im Oktober möchten wir die Quali für die EM 2024 spielen. Dafür müssen wir trainieren." Es ist eine Gesetzmäßigkeit solcher Sätze, dass auf sie immer ein Aber folgt. "Aber", sagt denn auch Lochmann: "Letztlich brauche ich nur eine Mannschaft und eine Mannschaft für meinen Sohn. Und einen Ort, an dem meine Familie sicher ist und sich wohlfühlt. Das ist das Wichtigste."

Dieser Ort könnte durchaus jener bleiben, an dem er schon wie zu Hause ist. Großwallstadt. Auch Lochmanns Bruder ist inzwischen dorthin geflüchtet. Der Bruder, dem er seinen Kurznamen Slava verdankt, der in seinem Fall nichts mit Ruhm zu tun habe: "Slava haben unsere Soldaten verdient. Und unser Präsident Wolodymyr Selenskyj."

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Großwallstadt
Natalie Greß
Brüder
Deutsche Sprache
Handballvereine
Josef Stalin
TV Großwallstadt
Völkermord
Wladimir Wladimirowitsch Putin
Wolodymyr Selenskyj
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top