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LESERANWALT
Ein Leser wirft der Zeitung links-grüne Tendenzen vor: Warum es trotz ernsthaftem Streben nie Objektivität gibt
Ein Abonnent zweifelt an der Überparteilichkeit der Zeitung. Der Leseranwalt bekennt, was er nach Jahrzehnten als Journalist glaubt, nie erreichen zu können.
Grün und links eingefärbt seien viele Überschriften und Artikel, meint ein langjähriger Main-Post-Abonnent zu erkennen. Vor der Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin leuchtet symbolisch eine Ampel.
Foto: Christoph Soeder, dpa | Grün und links eingefärbt seien viele Überschriften und Artikel, meint ein langjähriger Main-Post-Abonnent zu erkennen. Vor der Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin leuchtet symbolisch eine Ampel.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 01.10.2023 02:58 Uhr

Er war Architekt, ist seit Jahrzehnten intensiver Leser dieser Zeitung und Abonnent zweier weiterer. Das lässt er mich per E-Mail wissen. Und er hält sich für einen politisch interessierten und durchaus objektiven und toleranten Zeitgenossen. Ein solider Hintergrund, um mir danach glaubhaft zu machen, dass die in dieser Zeitung veröffentlichten Leserbriefe seit etwa zehn Jahren eine beachtliche Tendenz aufweisen würden.

Für diese Leserbrief-Tendenz nennt er grün, links und sehr kirchenkritisch als Richtungen. Beispielhaft dafür seien die Zuschriften auf der Leserseite in der Zeitung vom 3. Juni. Überhaupt hält er die Mehrzahl der Kommentare und Überschriften für links-grün eingefärbt. Der Leser fragt, ob das mit der Beteiligung der Augsburger Allgemeine zu tun habe? Diese Zeitung kooperiert bekanntlich innerhalb der Mediengruppe Pressedruck mit der Main-Post.

Entspringt die empfundene Einseitigkeit vielleicht der eigenen Haltung?

Tatsächlich kommt ja mittlerweile eine Vielzahl von politischen Beiträgen samt Überschriften aus Augsburg. Dort strebt man allerdings jederzeit und grundsätzlich ebenfalls nach Überparteilichkeit. Diese Linie wird nicht angetastet, auch nicht, wenn man mal in der Sache begründet Partei ergreift.

So frage ich mich, was zuweilen der Fall ist: Entspringt die von dem Abonnenten empfundene Einseitigkeit vielleicht seiner eigenen Haltung? Lässt diese links-grüne Botschaften aus der Zeitung bei ihm ankommen? Solche Botschaften zu definieren, das will ich erst gar nicht versuchen.

Auch Vorwürfe, die Zeitung sei CSU-nah oder klerikal, erreichen die Redaktion 

Vorsorglich bitte ich nun parteipolitisch anders Interessierte, nicht mit Briefen an mich zu reagieren, um deutlich zu machen, dass dieses Blatt doch eigentlich Markus-Söder-Hofberichterstattung betreibe, CSU-nah oder klerikal sei. Solche Vorwürfe liegen schon vielfach in der Redaktion und bei mir vor. Das heißt, auch solche Botschaften werden in Teilen der Leserschaft empfangen. Der Ministerpräsident lässt sich halt in seinem Bundesland gerne vor Ort sehen. Ebenso wie grüne Politikbeiträge in Zeiten der Klima-Krise Konjunktur haben.

Zusammenfassend heißt es in einem Nachschlagewerk: "Politischer Journalismus befasst sich mit den Rahmenbedingungen, Absichten, Ereignissen, Handlungen, Themen und Akteur:innen des politisch-administrativen Systems und der aus der Bevölkerung heraus gebildeten politischen Interessenvereinigungen."

Überschriften, die journalistischen Grundsätzen widersprechen

Gestehen muss ich aber: Immer wieder mal fallen auch mir Überschriften, Artikel oder Illustrationen auf, die auch ich für einseitig halte. Und ich bin dann meist davon überzeugt, dass sie es auch sind. Freilich können die dann ganz unterschiedlich eingefärbt oder auch farblos sein und sind trotzdem unangemessen. Sie widersprechen eben journalistischen Lehren und Grundsätzen.

Keine Meinung von Journalistinnen oder Journalisten sind die Ansichten, die in den Leserbriefen stehen. Bei den in der Redaktion dafür Verantwortlichen müssen nach sorgfältiger Prüfung eher wenige Leserbriefe auf der Strecke bleiben: darunter solche, die viel zu lang, beleidigend oder rechtlich nicht mehr zu vertreten sind. Die, die dann gedruckt erscheinen, sind stets Abbild aller eingegangenen Meinungen. Darauf wird geachtet. Das gilt gerade dann, wenn ein Thema mal eine solche Menge an Zuschriften hervorruft, dass nicht alle in der Zeitung Platz finden können. Unterm Strich heißt das: Wenn ein Leser meint, eine einseitige Tendenz bei den Leserbriefen zu erkennen, dann ist die nicht von der Redaktion beeinflusst.

Noch etwas Selbsterkenntnis im Hinblick auf Objektivität

Im Hinblick auf Objektivität (für die hohe wissenschaftliche Kriterien gelten) noch etwas Selbsterkenntnis: Diesen Text hier hat ein Mensch geschrieben, der seit den ersten Schuljahren Zeitung liest, 50 Jahre durch betriebliche und soziale Veränderungen hindurch Journalist ist, diverse Medien nutzt, lange bundesweit in der Fortbildung tätig war und sich hier seit 2004 als Leseranwalt, ab 2015 in freier Mitarbeit, um Vermittlung von Toleranz, Selbstkritik, Medienwissen und Überparteilichkeit bemüht. Manche eigenen Mängel ist auch er dabei nicht losgeworden. Und so wird er, trotz ernsthaftem Streben, Überparteilichkeit oder Objektivität wohl nie wirklich erreichen. Wie heißt es dazu im Journalistikon: "notwendigerweise ist jede Beobachtung und jede Beschreibung selektiv, subjektiv und perspektivenabhängig. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Medien".

In den journalistischen Leitlinien der Main-Post ist unter anderem nachzulesen: "Unabhängigkeit bedeutet, dass die redaktionelle Linie sich NICHT an den Zielen einer politischen Partei orientiert. Wir fällen unsere Entscheidungen unabhängig von politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Beeinflussungsversuchen und beugen uns keinem Druck."

Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.

Ergänzende Leseranwalt-Kolumnen zum Thema:

2008: "Wenn Leser Berichte zählen und Sätze auf die Goldwaage legen"

2015: "Warum es in der Redaktion nur selten eine Meinung geben kann"

2016: "Journalistische Wahrhaftigkeit wiegt schwerer als eine Tendenz"

2019: "Keine Schablone über die Redaktionen legen"

2021: "Was bei Leserbrief-Kürzungen entscheidend ist"

2022: "Warum der ganz Zorn aus einem geharnischten Leserbrief gestrichen wurde"

 
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