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Wir über uns: Warum wir dringend ein Volk der Lebensretter sein müssen
Viele chronisch Kranke machen sich Sorgen um ihre Gesundheit – und ärgern sich über notorische Ignoranten, die sich nicht an Corona-Regeln halten.
Michael Reinhard, Chefredakteur der Main-Post, gehört selbst zur Risikogruppe.
Foto: Angie Wolf | Michael Reinhard, Chefredakteur der Main-Post, gehört selbst zur Risikogruppe.
Michael Reinhard
Michael Reinhard
 |  aktualisiert: 09.06.2020 13:10 Uhr

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Bundeskanzlerin Angela Merkel befindet sich zwar in häuslicher Quarantäne. Ihre Amtsgeschäfte führt sie aber trotzdem weiter. Die Coronakrise duldet keine Verschnaufpause. Am Wochenende hat sich die Regierungschefin in einer Audiobotschaft erneut mit einem eindringlichen Appell an alle Bundesbürger gewandt: "Verzichten Sie weitestgehend auf Kontakte außerhalb des Kreises der Menschen, mit denen Sie zusammenwohnen." Und fast schon pathetisch fügte sie an: "Jeder, der die Regeln befolgt, kann jetzt ein Lebensretter sein."

Mit diesem Satz hat die Bundeskanzlerin sicher vielen Millionen von Deutschen aus der Seele gesprochen. Besonders all jenen, die zur sogenannten Risikogruppe gehören: ältere Mitbürger und Menschen mit Vorerkrankungen. Sie sind die Hauptleidtragenden der Pandemie. Während nach bisherigen Erkenntnissen etwa 80 Prozent der Infizierten nur leichtere Symptome spüren, sieht es bei Risikopatienten meist anders aus. Sie leiden schwer an Covid-19. Müssen im Krankenhaus behandelt werden oder sterben sogar an der Viruserkrankung.

Die Angst vor Ansteckung dominiert seit Wochen den Alltag vieler chronisch Kranker

Umso ärgerlicher ist es, wenn sich noch immer etliche Unverbesserliche nicht an die Regeln im Kampf gegen das Coronavirus halten. Aus Gesprächen und Zuschriften weiß ich, wie sehr Sie diese Ignoranz ängstigt und ärgert, liebe Leserinnen und Leser. "Wie können Leute immer noch rausgehen, sich treffen und so tun, als gehe sie das Coronavirus überhaupt nichts an? Das macht mich total wütend", lässt  eine Leserin mit Vorerkrankung Dampf ab. Die Sorge um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familie laste wie ein Felsbrocken auf ihr.

Ein von Kindern gemaltes Regenbogenbild an einer Wohnungstür ruft in der Coronakrise dazu auf, zu Hause zu bleiben. Diese Maßnahme hilft vor allem Risikopatienten.
Foto: Uwe Zucchi, dpa | Ein von Kindern gemaltes Regenbogenbild an einer Wohnungstür ruft in der Coronakrise dazu auf, zu Hause zu bleiben. Diese Maßnahme hilft vor allem Risikopatienten.

Die Angst vor Ansteckung dominiert seit Wochen den Alltag vieler chronisch Kranker. Ich kann kann mich als Risikopatient mit Vorerkrankung (meine Frau und mein Sohn zählen ebenfalls zu den Gefährdeten) gut in ihre Situation hineinversetzen. Und ich kann auch Ihren Unmut über die unsolidarische Minderheit verstehen. Seit drei Wochen haben wir uns daheim in der freiwilligen Quarantäne so gut es geht eingerichtet.

Unseren Hochsicherheitstrakt verlassen wir nur einmal am Tag für einen kurzen Spaziergang. Sämtliche Einkäufe erledigt unsere Tochter für uns. Soziale Kontakte halten wir über alle denkbaren digitalen Kanäle aufrecht. Das klappt gut, ersetzt aber, logisch, die persönliche Begegnung nicht. Zum Glück kann ich im Home-Office arbeiten. Das lenkt ab und gibt dem Tag Struktur. 

Zuversicht ist eine Haltung, die es uns in Krisen ermöglicht, den Lebensmut nicht zu verlieren

Trotzdem verhehle ich nicht, dass auch bei mir als grundsätzlich positiv gestimmten Menschen gelegentlich mal das Gedankenkarussell Fahrt aufnimmt. Dann nisten sich Fragen in meinem Kopf ein wie diese: Was passiert, wenn es einen von uns erwischt? Werden wir im Notfall ausreichend im Krankenhaus versorgt werden können? Werden möglicherweise Ärzte darüber entscheiden müssen, ob unser Zustand noch eine Behandlung auf der Intensivstation wert ist? Wie wird es sich anfühlen, in der vielleicht prekärsten Situation im Leben mutterseelenallein... Stopp!

Solche Gedankenschleifen sind zwar normal, ziehen einen jedoch nur runter. Deshalb schalte ich, sobald ich ihnen Gewahr werde, sofort wieder in den Zuversichtsmodus. Das hilft. Denn wie schreibt Ulrich Schnabel, der ein kluges Buch über die Zuversicht geschrieben hat, (Zuversicht: Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je), so treffend: "Diese Eigenschaft ist eine Haltung, die uns in Krisen aufrecht hält, die uns erlaubt, einerseits den Ernst der Lage klar zu sehen und trotzdem den Lebensmut nicht zu verlieren."

Ich bin überzeugt davon, dass die weitreichenden Ausgangsbeschränkungen in unserem Land richtig sind. Und dies nicht nur deshalb, weil ich selbst zur Risikigruppe zähle. Nahezu alle maßgeblichen Experten halten den sogenannten Shutdown für notwendig, um die Ausbreitung des neuartigen Virus zu verlangsamen. Die landesweit verordnete Isolation ist der wichtigste Lebensretter, solange wir weder Impfstoff noch Medikamente gegen Covid-19 haben.

Alle fragen sich: Wie lange kann Deutschland im Notbetrieb funktionieren?

Aber natürlich frage ich mich wie die meisten von Ihnen, wie lange das Land in diesem Notbetrieb funktionieren kann. Was wird aus der Wirtschaft, wenn der Stillstand noch über mehrere Wochen aufrecht erhalten wird? Die Folgen der Corona-Pandemie könnten Deutschland bis zu 729 Milliarden Euro kosten, befürchtet das Ifo-Institut. Eine Million Jobs könnten wegfallen.

Welche sozialen Folgen drohen uns? Experten warnen beispielsweise vor einer Zunahme häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe – auch gegen Kinder. "Wir müssen leider mit dem Schlimmsten rechnen", sagt Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender der Opferschutzorganisation Weißer Ring. "Die Coronakrise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit." Außerdem gehen Fachleute davon aus, dass psychische Beschwerden zunehmen werden – diese reichen von Ängsten und emotionaler Erschöpfung bis hin zur Depression. 

Es ist durchaus nachvollziehbar, liebe Leserinnen und Leser, dass vor diesem Hintergrund jene Stimmen lauter werden, die ein rasches Ausstiegsszenario verlangen. Auch wenn Angela Merkel klar gesagt hat, dass es zu früh sei, über eine Lockerung der Maßnahmen nachzudenken. Wenn nicht alles täuscht, stehen uns auch in dieser Frage unruhige Wochen bevor.

Lassen Sie sich nicht unterkriegen!

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  • M. R.
    Zuversicht: Die Kraft der inneren Freiheit-die hatte ich letzten Freitag bis, ja bis ich von unser/e Gesundheits(ver)sorgen enttäuscht wurde:
    Ich buk Kuchen für meinen kranken Sohn, besuchte meine alte alleinstehende Mutter auf Abstand, entzündete eine Geburtstagskerze auf dem Grab meines Vaters - wurde dann in der Apotheke abgewiesen, dass die Medikamente auf dem Rezept nicht vorrätig seien u. wartete 1 h vor e. geschlossenen Halle auf den Blutspendedienst (nach Blutspenden-aufruf). Von e. weiteren potentiellen Spender erfuhr ich dann, dass der Termin abgesagt wurde u. nur die regelmäßigen Spender benachrichtigt wurden.
    Wen wunderts, dass z.Zt. Rufe nach e. Zentralbeschaffungsstelle laut werden (MdB K. Lauterbach): Kollaps in der Materialbeschaffung, bei tauglichen u. schnellen Testmethoden, Personal-/Bettenausstattung, etc.-wie bei der Bundeswehr: nur diesmal ist durch den Katastrophenfall die Wirtschaft zusätzlich lahmgelegt. Am Bsp. Schweden und Südkorea geht es auch anders.
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