Lieber Nils,
wir teilen eine Erinnerung, die wir wohl beide nie vergessen werden. Wir kannten uns damals noch nicht persönlich. Aber wir waren zur selben Zeit am selben Ort und erlebten einen großartigen Sportmoment. 31. Januar 2016. Krakau, Polen. Tauron Arena.
Deutschland wurde nach einem 24:17-Sieg über Spanien Handball-Europameister, eine Sensation. Als Außenseiter und jüngstes Team hatten sich die selbsternannten "Bad Boys" in einen Rausch gespielt, nachdem sechs Stammspieler ausgefallen waren.
Onkel Carsten Lichtlein kommt aus Würzburg und war selbst Handball-Nationalspieler
Einer der Protagonisten bei der EM 2016 war dein Onkel Carsten Lichtlein aus Würzburg, fast 20 Jahre lang einer der Nationaltorhüter beim Deutschen Handballbund (DHB). Als Kapitän der Gold-Gewinner streckte er an jenem magischen Abend im Konfettiregen als Erster die Schale in den Hallenhimmel von Krakau. Unter den 15.000 Menschen in der Halle jubelten auch wir beide als Zuschauer. Du warst 13 Jahre alt. Dein "Onkelchen", wie du ihn nennst, ist dein Vorbild.
Wie stolz du damals auf ihn warst, hast du mir im September 2021 erzählt, als ich dich erstmals zusammen mit ihm interviewte. Wie es unter Sportlern üblich ist, haben wir uns gleich geduzt. Du hast damals lachend ergänzt: Stolz auf Carsten seist du eigentlich immer gewesen. "Vor allem, wenn er mich nach Spielen zu sich geholt hat und ich an allen Zuschauern vorbei mit ihm in die Kabinen gehen durfte."
Lieber Nils, acht Jahre nach dem vielleicht wichtigsten Titel für deinen Onkel bist du als Leistungsträger bei den Füchsen Berlin nun selbst Teil der Handball-Nationalmannschaft. Als einer von 18 Spielern im Kader von Bundestrainer Alfred Gislason.
Wenn am Mittwoch im Fußballstadion in Düsseldorf vor mehr als 50.000 Menschen die Europameisterschaft mit eurem Auftaktspiel gegen die Schweiz startet, dann gehörst du – wenn auch in zweiter Reihe hinter den erfahreneren Spielmachern – zu jenen, auf denen die Hoffnung von Handball-Deutschland ruhen.
Enorme Entwicklung bei Nils Lichtlein und erstaunliche spielerische Reife
Deine Nominierung ist nicht nur Folge von Ausfällen anderer Spieler. Sie ist auch eine folgerichtige Entscheidung aufgrund deiner enormen Entwicklung und deiner erstaunlichen spielerischen Reife mit erst 21 Jahren. Sie bedeutet einen weiteren Meilenstein in deiner jungen Karriere.
Den Grundstein dafür hast du im EM-Jahr 2016 gelegt, als du mit 14 von deiner Heimatstadt Regensburg in die Hauptstadt zogst, um in der Akademie der Füchse Berlin deinen Traum vom Profihandball in Angriff zu nehmen.
Nicht nur beim aktuellen Bundesliga-Zweiten, mit dem du 2023 die European League gewannst, hast du gezeigt, warum du als eines der größten Talente hierzulande giltst. Auch bei der U-21-Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer hast du dich in den Fokus gespielt. Nach eurem Gold-Gewinn in Berlin wurdest du als wertvollster Spieler ausgezeichnet.
Familientreffen der Lichtleins am ersten Weihnachtsfeiertag in Würzburg
Dein Onkel Carsten war auch dabei und hatte als Torwarttrainer seinen Anteil am Erfolg. Als du danach Arm in Arm mit ihm durch die Max-Schmeling-Halle hüpftest, schloss sich auf gewisse Weise ein Kreis. 50 Jahre zuvor hatte dein Opa Artur Lichtlein den ersten Titel in eurer Familie gefeiert: Mit dem TV Großwallstadt wurde er, damals als Torwart, 1973 deutscher Feldhandballmeister.
Nach seiner aktiven Karriere war dein Opa mehr als 20 Jahre lang Trainer bei der TG Heidingsfeld. Auch dich hat er in den Ferien immer wieder unter seine Fittiche genommen. 79 Jahre ist er inzwischen alt.
Wie sehr er sich für dich freut, das weißt du. Ihr habt euch ja erst am ersten Weihnachtsfeiertag beim Familientreffen in Heidingsfeld gesehen. "Nils hat es verdient, bei der EM dabei zu sein", sagt dein Opa. Ich finde, er hat recht.
Es ist an dir, die Lichtlein'sche Handballtradition fortzusetzen. "Ehrgeiz, Wille, Fleiß, Disziplin – er vereint alles, was er braucht, um eine Karriere zu machen", hat dein Onkel schon vor Jahren über dich gesagt. Carsten selbst hat seine aktive Laufbahn 2022 beendet, doch vier der Europameister von 2016 gehören erneut zum EM-Kader.
Nils Lichtlein spielt bei der Handball-EM in Deutschland um eine Medaille
Die Geschichte, die sie damals in Polen geschrieben haben, war eine von Zusammenhalt, von Mut, von Leidenschaft. Möge sie euch inspirieren. Es wäre schön, wenn es euch gelänge, eine ähnliche Euphorie zu entfachen wie dein Onkel mit seiner Mannschaft damals. Ihr geht trotz des Heimvorteils nicht als Favorit ins Turnier, wollt aber um eine Medaille mitspielen.
Versuch', zu genießen, was du in den nächsten zwei Wochen erlebst. Im besten Fall bis zum Finale am 28. Januar in Köln, wo Deutschland 2007 Weltmeister wurde.
Ich wünsche dir, dass du dir bei dieser EM auch selbst unvergessliche Erinnerungen schaffst.
Liebe Grüße,
Natalie Greß, Redakteurin