22 Jahre Profi in der Handball-Bundesliga. Rekordspieler mit aktuell 710 Einsätzen und rund 550 parierten Siebenmetern. Dazu 220 Länderspiele in 17 Jahren für die deutsche Nationalmannschaft. Der Würzburger Torwart Carsten Lichtlein hat sich in den Geschichtsbüchern des deutschen Handballs verewigt. Zudem war er zweimaliger EHF-Cup-Sieger mit dem TVB Lemgo, Europameister 2004 (ohne Einsatz) und 2016 sowie Weltmeister 2007 (ohne Einsatz).
Nur noch zwei Spiele bleiben: an diesem Donnerstag (9. Juni) zu Hause mit GWD Minden gegen seinen Ex-Klub HC Erlangen und dann am Sonntag (12. Juni) bei der HSG Wetzlar. Danach beendet der 41-Jährige mit dem Spitznamen "Lütti" offiziell seine aktive Karriere.
"Ich kann stolz und glücklich sein, dass ich all das erreicht habe", meint der verheiratete Vater zweier Jungs (zwölf und acht) und Sohn des Handball-Urgesteins der TG Heidingsfeld, Artur Lichtlein, früher ebenfalls Torwart beim TV Großwallstadt. Vor seinem Abschied blickt Lichtlein im Interview noch einmal in gewohnter Bescheidenheit auf seine beeindruckende Karriere zurück, die ihn fast noch zu den Rimparer Wölfen geführt hätte.
Frage: Nur noch zwei Spiele bis zum offiziellen Ende Ihrer aktiven Karriere. Welches Gefühl löst der Gedanke in Ihnen aus?
Carsten Lichtlein: Ich bin ein bisschen wehmütig, klar. Und in manchen Hallen auf meiner Abschiedstour ging mir schon durch den Kopf, was ich alles erlebt und welche Erfolge ich dort gefeiert habe. In Lemgo war ich auch den Tränen nahe. Hat aber keiner gesehen, weil es dunkel war. (lacht)
Wie schwer fällt Ihnen das Loslassen?
Lichtlein: Ich denke, das Karriereende ist für jeden Sportprofi emotional. Aber dadurch, dass ich die letzten Jahre schon weniger gespielt habe, konnte ich mich langsam an den Gedanken gewöhnen. Obwohl es ja so nicht geplant war.
Wie meinen Sie das?
Lichtlein: Ich kam eigentlich nach Minden, um zu spielen. Aber gleich in der ersten Trainingseinheit hatte mich Frank Carstens (Trainer, Anm. d. Red.) gefragt, ob ich auch Torwarttrainer machen könnte. Davon stand nichts im Vertrag. (lacht) Ironie des Schicksals, dass ich dann Malte Semisch besser gemacht und dadurch selbst weniger gespielt habe. Aber es ist ja auch eine Form von Genugtuung, einem jüngeren Torhüter etwas von meinem Erfahrungsschatz mitzugeben. Und im Nachhinein hatte es auch was Gutes, dass es so gekommen ist.
Sie haben dadurch den Weg in einen Beruf eingeschlagen, in dem Sie in Zukunft neben Ihrer Tätigkeit beim DHB arbeiten werden, nämlich als Torwarttrainer bei MT Melsungen.
Lichtlein: Ja, so bin ich da reingeschlittert, und es macht Spaß. Wobei ich mich auch freuen würde, wenn ich vielleicht selbst noch mal zum Einsatz komme. In Melsungen bin ich als dritter Torhüter auf Stand-by.
Was ist eigentlich dran an dem Gerücht, dass Sie fast neuer Zweitliga-Torwart bei den Rimparer Wölfen als Ersatz für Marino Mallwitz geworden wären?
Lichtlein: Was genau haben Sie denn gehört?
Dass die Tinte unter dem Vertrag schon fast trocken gewesen sein soll und Sie dann doch noch abgesagt haben.
Lichtlein: Es stimmt, dass es Gespräche mit Roland Sauer (Wölfe-Geschäftsführer, d. Red.) gab. Die Wunschvorstellung war, dass ich in Rimpar spiele und in Melsungen Torwarttrainer mache. Das stand kurz vor dem Abschluss. Aber dann wollte Roberto Parrondo (Trainer in Melsungen, d. Red.) doch lieber einen hauptamtlichen Torwarttrainer haben. Das ließ sich nicht mit dem Job in Rimpar vereinbaren.
Was nicht ist, kann ja noch werden.
Lichtlein: Richtig. Aber das ist Zukunftsmusik.
Lassen Sie uns zurückschauen auf Ihre 22 Jahre in der Handball-Bundesliga. Was war entscheidend, um so lange auf diesem Niveau zu spielen?
Lichtlein: Sicherlich der Wille, die Leidenschaft und das Feuer auf dem Spielfeld. Solange du das hast, läuft es fast von allein. Wenn du es nicht mehr hast, kannst du direkt aufhören. Je weniger ich gegen Ende gespielt habe, desto schwieriger wurde es, das Feuer am Brennen zu halten.
Gab es einen Leitsatz, der Sie durch Ihre Karriere geführt hat?
Lichtlein: Nein, das nicht. Eher war es das Erbgut, das mein Vater mir mitgegeben hat und das mich so weit gebracht hat. Wobei: Wie ich ins Tor gekommen bin, war schon sehr lustig. (lacht)
Dürfen wir mitlachen?
Lichtlein: In Heidingsfeld gab's früher die Mini-Bambinis, freitags war Training in der Walther-Grundschule, da bin ich als kleiner Steppke auch immer hingerannt. Einmal kam der E-Jugend-Trainer, um sich das alles mal anzuschauen. Ausgerechnet an dem Tag hatte ich so ein hellblaues Trainingsanzug-Oberteil meines Vaters an. Ich war erst vier, das Ding war mir viel zu groß, vor allem unter den Achseln. Mit den Fledermausärmeln sah ich aus wie Batman. In dem Alter gab's noch keine festen Torhüter, aber ich hab' mich gemeldet und durfte also ins Tor. Und ich hab' gut gehalten – weil die anderen mir immer in den Stoff in der Armbeuge geworfen haben. (lacht) Ab dem Tag stand ich im Tor.
Und aus dem Heidingsfelder Batman wurde ein Nationaltorwart und der Rekord-Bundesligaspieler - sensationell.
Lichtlein: Das stimmt. Wobei ich auch sagen muss: Früher war es viel leichter, so eine Karriere zu machen. Da hatten die Vereine noch nicht so viel Geld wie heute, um aus ganz Europa die besten Spieler zusammenzukaufen. Das war auch mein Vorteil.
Wer waren Ihre prägendsten Wegbegleiter?
Lichtlein: Zuallererst natürlich mein Vater, er hat mich auf den Weg gebracht. Peter Meisinger bin ich sehr dankbar, dass er mir mit Anfang 20 beim TV Großwallstadt das Vertrauen geschenkt hat, als Nummer eins in der Bundesliga zu spielen. Und Heiner Brand muss ich einerseits auch dankbar sein, schließlich hat er mich in die Nationalmannschaft berufen.
Und andererseits?
Lichtlein: War er auch für die schwersten Momente oder größten Niederlagen in meiner Karriere verantwortlich, weil er mich für manche Turniere aussortiert hat. Am bittersten war die Nicht-Nominierung für Olympia in Peking 2008. In Rio 2016 war ich ja immerhin im Olympischen Dorf dabei, wenn auch nicht in Einsatz.
War Heiner Brand der Trainer, mit dem Sie das schwierigste Verhältnis hatten?
Lichtlein: Nein, unser Verhältnis war überhaupt nicht schlecht, es ist bis heute respektvoll von beiden Seiten. Ich habe ihm auch immer geglaubt, wenn er bei einer Nicht-Nominierung gesagt hat, dass es ihm leidtut. Aber das hat mir halt trotzdem nichts genutzt.
Sitzt der Stachel über manche Ausbootung noch immer tief oder haben Sie damit Ihren Frieden geschlossen?
Lichtlein: Ich habe teilweise meinen Frieden damit geschlossen. Die Art und Weise, wie ich immer vertröstet wurde, war einfach nicht schön. Vor der EM 2004 sagte Heiner, ich sei noch jung und würde noch oft genug die Chance bekommen. 2008 hieß es, andere hätten einen WM-Bonus. Ich habe aber nie von ihm gehört, dass es mir an Leistung gefehlt hätte. Das war dann schon schwer nachvollziehbar.
Welcher war Ihr Tiefpunkt im Vereinshandball?
Lichtlein: Der Abstieg mit Gummersbach 2019.
Und die Höhepunkte Ihrer Karriere?
Lichtlein: Alle Titel, mit Lemgo und der Nationalmannschaft. Jeder war auf seine Weise unvergesslich.
Vor den Würfen welches Spielers haben Sie sich am meisten gefürchtet?
Lichtlein: Gefürchtet habe ich mich nie, sonst hätte ich mich nicht mehr ins Tor gestellt. Aber Anders Eggert mit seinem Repertoire beim Siebenmeter, der war schon gut. Zeitzis (Christian Zeit, d. Red.) Schuss hat mir in meiner Großwallstadter Zeit mal eine Einblutung am Auge beschert. Wir haben damals in Kiel geführt, und dann hat Zeitzi mich nach der Halbzeit ins Krankenhaus geschossen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich komischerweise immer gegen Kiel Kopftreffer bekommen habe.
Zufall oder Absicht?
Lichtlein: Ich hoffe doch Zufall, wobei Zeitzi öfter gesagt hat: "Wenn einer gut hält, dann muss man dem auf den Kopf schießen." Auch Daniel Narcisse hat mich in Lemgo mal am Auge getroffen, als wir im Gerry-Weber-Stadion gegen den THW vorn lagen. Das Auge ist übelst zugeschwollen, ich hab' ausgesehen aus wie ein Preisboxer und konnte auch nicht mehr weiterspielen. Und dann hat mich in Gummersbach noch Niclas Ekberg abgeworfen.
Also hat Ihr Kopf in all den Jahren am meisten gelitten?
Lichtlein: Nein, definitiv der Rücken. Ich hatte ja auch schon zwei Bandscheibenvorfälle und habe vier oder fünf Jahre lang nur mit Schmerztabletten trainiert und gespielt. Zu Hause bin ich auf der Couch gelegen und konnte mich kaum bewegen. Das soll jetzt keine Werbung sein, aber erst Dr. Alfen in Würzburg hat mich ohne OP durch ein spezielles Training der Tiefenmuskulatur wieder hinbekommen – innerhalb von drei Wochen wohlgemerkt. Seitdem bin ich schmerzfrei.
Apropos Würzburg. Werden Sie nun wieder in Ihre Heimatstadt zurückkommen?
Lichtlein: Das hängt auch davon ab, wann der Hausbau endlich losgehen kann. Erst mal ist jetzt meine Familie dran, die hat genug gelitten in all den Jahren. Ich werde Teilzeit in Melsungen wohnen, mal schauen, ab wann in Würzburg. Auf Sicht würde ich schon gerne zurückkommen. Mein Kleiner spielt Handball, der Große spielt Fußball und war auch schon im Probetraining bei den Kickers. Da sie ihn leider nicht genommen haben, könnte er bald bei den Baskets anfangen. Er ist mit zwölf schon über 1,70 Meter groß und wirklich nicht schlecht im Basketball, trainiert auch fleißig.
Manche Sportler fallen nach Ihrer aktiven Karriere in ein Loch und finden keinen Umgang mit dem Leben abseits von Wettbewerb und Applaus.
Lichtlein: Nein, nein, nein, das passiert mir nicht. Dafür stehe ich viel zu sehr im Leben mit meiner Familie und meinem Beruf als Steuerfachangestellter, aus dem ich ja nie ganz raus war. Der Handball wird immer in meinem Herzen bleiben, aber wenn er mir mal keinen Job mehr bieten sollte, dann finde ich auch anderweitig eine Aufgabe. Ich falle sicher nicht in ein Loch.