So eine Stimmung hat der Handball in der Region schon lange nicht mehr erlebt. Tag der Deutschen Einheit, tectake Arena Würzburg. Ausverkauft. Auf dem Feld die Bundesligisten HC Erlangen und Füchse Berlin, die sich ein dramatisches Pokalspiel liefern, das die Hauptstädter nach Verlängerung 38:35 gewinnen. Auf den Rängen 2900 Menschen. Unter ihnen die Spieler des Drittligisten Wölfe Würzburg, die von solch einer Kulisse heutzutage nur träumen können. Und ein stattlicher Mann mit bekanntem Namen in der Handball-Republik.
Familiengeschichten schreibt der Sport viele. Eine wie die der Lichtleins jedoch ist außergewöhnlich.
Artur Lichtlein wurde 1973 als Torwart deutscher Feldhandballmeister mit dem TV Großwallstadt, später in der Halle spielte er im Rückraum des Traditionsvereins. Nach seiner aktiven Karriere war er mehr als 20 Jahre lang Trainer bei der TG Heidingsfeld. 79 Jahre ist er inzwischen alt.
Der, mit dem er mitfiebert, "eher ruhig, nicht mehr so narrisch, wie ich früher war", ist 21 Jahre jung. Nils Lichtlein gilt als eines der großen Talente im deutschen Handball. Füchse-Geschäftsführer Bob Hanning hat sogar ein Rennpferd nach ihm benannt: "Nils The King".
Warum so viele Hoffnungen auf dem Linkshänder ruhen, demonstriert Nils Lichtlein an diesem Dienstag gegen Erlangen, wo er gerade in der Schlussphase mit bemerkenswerter Übersicht, beeindruckender Nervenstärke und wichtigen Toren einen wesentlichen Anteil am Berliner Sieg hat. "Ich war von seinem Spiel begeistert!", lobt ihn der Opa und erzählt: "Ich hab' ihm schon als Kind gesagt, wenn ich mit ihm in den Ferien trainiert habe: Handball ist 50 Prozent der Kopf."
Nils Lichtlein feiert WM-Titel zusammen mit seinem Onkel Carsten Lichtlein
Wie weit der Enkel insgesamt schon ist, das hat auch die U-21-Weltmeisterschaft gezeigt. Im Juli gewann Lichtlein Junior mit der Junioren-Nationalmannschaft Gold und wurde nach dem Finale als wertvollster Spieler des Turniers ausgezeichnet. "Da hat er mich mit seiner Spielintelligenz überrascht", gesteht der Opa.
Mit am Erfolg beteiligt war auch Carsten Lichtlein, der die Torhüter des deutschen Nachwuchses trainiert. Der 42-jährige Sohn von Artur und Onkel von Nils Lichtlein wurde in seiner aktiven Zeit als Schlussmann mit dem A-Team Welt- und Europameister und ist Rekordspieler der Handball-Bundesliga. Inzwischen arbeitet er als Torwarttrainer beim Deutschen Handballbund und beim Bundesligisten MT Melsungen.
Der Senior ist kein Mensch, der zu Pathos neigt, dazu ist er vermutlich viel zu bescheiden. Seinen Stolz aber kann er nicht verbergen, wenn er über seinen Sohn und Enkel spricht. "Da muss man doch auch stolz sein!", so Artur Lichtlein. "Dass die zwei zusammen Weltmeister werden, das war für mich das Allerschönste!" Freude bereitet ihm ein Fotoalbum mit Bildern von der WM, das ihm seine Tochter Silke geschenkt hat, Nils' Mama. Spielszenen von Nils, Jubelfotos von Carsten und Nils, die beiden mit dem WM-Pokal.
Gerne wäre der 79-Jährige dabei gewesen, an jenem für die Lichtleins so besonderen 2. Juli in Berlin, als sein Sohn und Enkel nach dem Titelgewinn jubelnd Arm in Arm durch die Max-Schmeling-Halle hüpften. Da seine Frau pflegebedürftig ist, schaute er im Fernsehen zu. Dort verfolgt er auch alle Bundesliga-Partien von Melsungen und der Füchse. "Mit Carsten telefoniere ich fast jeden Tag. Nils schreibe ich vor jedem Spiel mit dem Handy eine Nachricht und wünsche ihm alles Gute."
Familientreffen beim Pokalspiel in Würzburg
In seiner Heimatstadt freilich hat es sich Artur Lichtlein nicht nehmen lassen, persönlich zu kommen. Mit Herrenhandtäschchen und Klatschpappe in der Hand schließt er nach dem Sieg gegen Erlangen am Rande des Spielfelds seinen verschwitzten Enkel in die Arme und flüstert ihm seine Glückwünsche ins Ohr.
Der gebürtige Regensburger, der in der Akademie der Füchse ausgebildet wurde, sagt über das Wiedersehen in Würzburg, das sonst meist nur an Weihnachten stattfindet: "Das ist heute ziemlich einzigartig für mich. Nicht nur, dass Opa da war, auch fast die ganze restliche Familie: Mama, Tante, Cousins und Cousinen. Daher freut es mich umso mehr, dass wir am Ende noch gewonnen haben." Onkel Carsten konnte nicht kommen. Der zog mit Melsungen am Dienstag nach einem 31:28-Sieg beim Zweitligisten Dessau-Roßlau ebenfalls ins Pokal-Achtelfinale ein.
Ruft Bundestrainer Alfred Gislason bald an?
Wie weit der Jüngste die erfolgreiche Familiengeschichte der Lichtleins nun fortführt, wird interessant. Opa Artur hofft, dass Alfred Gislason ihn für die Heim-EM 2024 nominiert. Der Bundestrainer habe ihn bislang nicht angerufen und zu einem Lehrgang eingeladen, sagt Nils und hält sich bedeckt. Aber: "Ein Traum wäre es natürlich allemal, bei einer Europameisterschaft im eigenen Land dabei zu sein." In Würzburg hat er wieder Werbung für sich gemacht. Und seinem Nachnamen alle Ehre.