Es bleibt schwierig mit diesem Friedrich Rückert. Und deshalb spannend. Der 1788 in Schweinfurt geborene und 1866 in Neuses bei Coburg gestorbene Dichter hat es in den vergangenen 20 Jahren zu einer ganz besonderen Art von Berühmtheit geschafft: als vielleicht verehrtester, verkanntester, vergessenster Poet deutscher Sprache. Goethe, Schiller, Heine liest heute (außer Germanisten und Theaterleuten) auch kaum einer mehr, aber es ist Friedrich Rückert, für den immer wieder Aufrufe und Aktionen gestartet werden. Tenor fast immer: Entdeckt doch bitte Rückert, er hätte euch heute noch so viel zu sagen!
Was übrigens tatsächlich der Fall ist. Der aus Schweinfurt stammende Schriftsteller und Verleger Klaus Gasseleder möchte nun "den anderen Rückert" zeigen. Den komischen, satirischen, melancholischen Dichter. Soeben ist in Gasseleders Erlanger Wildleser-Verlag "Friedrich Rückert: Der Dichter ist ein Akrobat. Reimgedichte. Sprachspiele. Satiren" erschienen. 250 originale Gedichte und Nachschöpfungen orientalischer Dichtungen – kein "Best of", wie der Verleger betont, wohl vielmehr das, was man heute eine "Compilation" nennt. Das ist nicht unbedingt neu – schon viele haben versucht, Rückert "vom Sockel" zu holen. In Kompaktheit und Auswahl aber ist Gassleders Buch durchaus anregend.
Das Rückert-Bild ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel differenzierter geworden
Die Wege zu Rückert sind längst vielfältig und breit. So gibt es in Oberlauringen (Lkr. Schweinfurt), dem Dorf seiner Jugendjahre, das "Rückert-Poetikum", das sich nichts weniger als die Verdeutlichung der Gedankenwelt des Dichters zum Ziel gesetzt hat. Seine Geburtsstadt Schweinfurt hat ihm zweimal – zum 200. Geburtstag 1988 und zum 150. Todesjahr 2016 – Rückert-Jahre gewidmet, mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen und allerhand Rahmenprogramm. Seit dem zweiten Gedenkjahr schmücken hunderte Rückert-Kunststoff-Büsten in knalligen Farben die Haushalte poesienaher Menschen. Ein Ergebnis der Aktion "Rückert für alle" des Künstlers Ottmar Hörl, der zuvor schon Luther, Goethe, Beethoven, Einstein, Wagner, Wagners Hund und Dürers Hase zu skulpturaler Massenware verarbeitet hatte.
So ist das Rückert-Bild gerade in den vergangenen gut 20 Jahren immer differenzierter geworden. Die Pose des verkannten Genies oder des abweisenden Dichterfürsten, wie er seit 1890 in Bronze auf dem Schweinfurter Marktplatz thront, hat viele zusätzliche Facetten bekommen, nicht zuletzt dank der Erschließung und Pflege seines Werks durch den Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger (1935-2007) und den damaligen städtischen Rückert-Beauftragten Rudolf Kreutner. Die beiden betreuten bis zu Wollschlägers Tod die Gesamtausgabe, die seit 1998 im Wallstein-Verlag entsteht und inzwischen 15 Bände umfasst. Abgeschlossen ist sie längst noch nicht, sie ist auf 50 Bände angelegt.
Zuletzt hat Rückert nur noch für sich selbst gedichtet – so sollte es bleiben, fand Robert Gernhardt
Das Unterfangen trägt den Namen "Schweinfurter Edition", weil die Stadt im Besitz des dichterischen Nachlasses Friedrich Rückerts ist – darunter das Manuskript seiner Koran-Übersetzung und tausende bislang unveröffentlichter Gedichte. 1847 hatte Rückert sich vom Publikum abgewandt und nur noch für sich gedichtet, sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und so sollte es auch bleiben, fand der Dichter Robert Gernhardt, der Rückerts Reimesucht 2002 in der Süddeutsche Zeitung einen "lyrischen Minimalismus" und sogar "poetische Kinderei" nannte. Der große Liedsänger Dietrich Fischer-Dieskau war freundlicher: "Des Dichters phänomenale Erfindungsmacht erschwert es, sich ein vollkommenes Panorama seiner vielseitigen schriftstellerischen Beschäftigungen zu entwerfen."
Rudolf Kreutner selbst räumte im Rückblick auf das durchaus erfolgreiche Rückert-Jahr 2016 im Interview ein: "Nein, Rückert wird nie ein Massenphänomen, selbst Goethe und Schiller nicht, da braucht man sich nichts vormachen." Kreutners Rückert-Akribie brachte ihm übrigens nicht nur einen Ehrendoktor ein, sondern in der Stadt auch den liebevoll-frotzeligen Titel "Rückerts Stellvertreter auf Erden".
Friedrich Rückert selbst war sich nur allzu bewusst, dass er nicht so recht in seine Zeit passte
Zu Lebzeiten einer der beliebtesten Dichter Deutschlands und bis heute einer der meistvertonten, unter anderem von Beethoven, Brahms, Schubert, Schumann, Mahler und Strauss. Umworbener Gelehrter, Sprachgenie, das sich mit 44 Idiomen befasste, Übersetzer des Koran, Versteher fremder Welten, Familienmensch, Eigenbrötler, Menschenfreund und Menschenfeind, politischer Kommentator, Polemiker und Poet, Reimjongleur und Vielschreiber – Friedrich Rückert selbst war sich nur allzu bewusst, dass er nicht so recht in seine Zeit passte:
Hundert Jahre zu früh oder zu späte gekommen,
Zur unrichtigen Zeit bin ich gekommen gewiss.
Etwas hab' ich von euch, wenn auch nicht vieles verstanden;
Doch verstanden von mir, edelste, habt ihr nichts.
Das Gedicht ist dem neuen Gasseleder-Band entnommen. Anfangs sieht es so aus, als wolle der Autor und Verleger, Jahrgang 1945, in dieselbe Kerbe schlagen. Rückerts Lyrik sei weitgehend vergessen, sehe man von den vertonten Gedichten ab, heißt es im Vorwort. Demnach hätten all die Bemühungen, den großen Sohn Schweinfurts wieder einem größeren Publikum näherzubringen, nichts gefruchtet.
Warum Rückerts Lyrik weitgehend vergessen ist
Gasseleder nennt zwei Gründe: Rückerts Verleger und auch seine Nachkommen hätten aus dessen gewaltiger Produktion von über 20 000 Gedichten immer nur die zur Veröffentlichung gegeben, die dem jeweiligen Publikumsgeschmack entsprachen, also national oder biedermeierlich, immer aber erpicht auf Sinngebung. Zum zweiten hätten "geistesgeschichtlich orientierte Germanisten und die von ihnen ausgebildeten Deutschlehrer" (ein ehemaliger solcher ist Gasseleder übrigens selbst) immer vor allem Rückerts "Erlebnislyrik nach Goetheschem Vorbild", den "Betroffenheitsdichter" im Auge gehabt und seine kunstvollen Sprachzaubereien als "Tändelei" abgetan.
Und hier setzt nun Gasseleders Versuch einer "Wiedergutmachung" an: Er will den Sprachakrobaten rehabilitieren, den verspielten Formkünstler. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass er in Auswahl und Schreibweise der Gedichte keinen wissenschaftlichen Standards gerecht werden will. Kurz: Es soll einfach Spaß machen, wieder mal Rückert zu lesen.
Wer Einblick in Rückerts Reimwerkstatt nehmen will, dem sei das Nachwort empfohlen
So verlockend es für Insider sein mag, nun über Quellenlage, Qualität und Originalität der Auswahl zu diskutieren, so erfrischend wird es für den neugierigen Laien sein, sich in dieses gut 180 Seiten starke Taschenbuch zu vertiefen. Wer Einblick in Rückerts Reimwerkstatt nehmen, mehr über sein Selbstverständnis als Künstler und Übersetzer will, dem sei das Nachwort empfohlen.
Klaus Gasseleder spiegelt darin die Rückert-Rezeption in der Wahrnehmung von Zeitgenossen wie den Erkenntnissen aktueller Forschung. So klärt Claudia Wiener, Rückert-Herausgeberin, Professorin für Lateinische Philologie an der Universität München und ebenfalls Schweinfurterin, warum der Dichter unbedingt immer alles in Reimform gießen musste, was er dachte und erlebte: "Eine Sehnsucht, Spaltungen aufzuheben, Risse wieder zu kitten, trieb ihn zu diesem therapeutischen Mittel."
Der melancholische Rückert scheint am besten auch in unsere Zeit zu passen
Das Buch ist gegliedert in Kapitel wie "Reimkunststücke und Sprachspiele", "Scherz, Satire und Melancholie" oder "Über das Dichten". Es fehlen bewusst die Hits aus den Kunstlied-Texten, dafür gibt es jede Menge listige, findige, alberne und kunstvolle Schöpfungen, von einer Reimorgie mit "Märchen / Pärchen / Beerchen / Klärchen" bis hin zum Nonsens-Stückchen zum Thema Theologie und Tee:
Ihr fragt, ob ein Theist
ich sei, ob ein Deist?
Ich sage: Laßt die Faxen!
Thee trinken Nidersaxen,
Und Obersaxen Dee;
Ich trinke nur Kaffee:
Bin kein Theist noch Deist,
Sondern ein Kaffeist.
Urkomisch, wenn er einen Nachtvogel zurechtweist: "Zum Kukuk, Du uhuender Uhu, Wozu treibst Du die Unfuhr, Und den nächtlichen Unfug!" Oder wenn er in sanfter Resignation über Lärmbelästigung und andere Unbill sinniert: "Man kann sich unter Stöhnen / Zuletzt an alles gewöhnen: / An kleine schreiende Kinder, / An große blökende Rinder, / An einen holpernden Wagen, / An einen knurrenden Magen..."
Der melancholische Rückert indes scheint am besten auch in unsere Zeit zu passen. Sein Hadern mit Verrohung und Enge, sein geistreiches Anrennen gegen Unausweichlichkeiten wie das Wetter, sein immer neues Sinnieren über die Tücken individueller Weltwahrnehmung: "Wie du die Dinge sihst, so sind die Dinge nicht; / Wie du die Dinge sihst, so sind die Dinge dir".
Zum Schluss zieht er Bilanz seines Lebenswerks – sie fällt nicht günstig aus
Klaus Gasseleder hat auch eine Auswahl von Nachschöpfungen nach Gedichten etwa der persischen Dichter Hafis (1315-1390) und Rumi (1207-1273) aufgenommen, deren Verse eine faszinierende poetische Kraft entfalten. Komisch wird es wieder bei den "Makamen des Hariri", arabischen Schelmengedichten aus dem 11./12. Jahrhundert. Rückert hat sie so pointensicher übertragen, dass man meinen könnte, eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen deutscher und arabischer Sprache, sei ein unbezähmbarer Hang zum Kalauer. Kurioserweise wirken die Teile, die in einer Art Frage-und-Antwort-Spiel verfasst sind, wie das Vorbild zu den Witzen à la "Frage an Radio Eriwan" fast 1000 Jahre später. Zum Beispiel:
"Darf ein Richter die Rechte biegen? – Antwort: Ja, so gut als die Linke schmiegen."
Oder: "Darf man in der Not Menschen speisen? – Antwort: Ja, sie werden dich dafür preisen."
Oder: "Darf man auch zittern im Krieg? – Antwort: Ja, doch Trompeten ist besser zum Sieg."
Ganz zum Schluss zieht der Dichter eine Bilanz seines Lebenswerks. Sie fällt nicht günstig aus:
Gedichte dichten, die nur wieder Dichter lesen;
Keßel zu flicken,
Besen zu binden, wäre verdienstlicher gewesen.
Buchtipp: "Friedrich Rückert: Der Dichter ist ein Akrobat. Reimgedichte. Sprachspiele. Satiren" Zusammengestellt und herausgegeben von Klaus Gasseleder. Wildleser-Verlag Erlangen. 184 Seiten, 14,80 Euro.