
Wie stellt man Gedanken aus? Wie schafft man es, dass Poesie aus dem 19. Jahrhundert auf einmal lebendig und insbesondere relevant für den modernen multimedialen Museumsbesucher aus dem 21. Jahrhundert wird? Wie kann man zeigen, dass das, was einst Friedrich Rückert, vor 151 Jahren gestorbenes Sprachgenie und Weltpoet, in Zeiten des Umbruchs und der Revolution beschäftigte und berührte, heute aktueller denn je ist? Wie kann man zeigen, dass wir, wenn wir uns in dieser hektischen heutigen Welt dennoch voll und ganz auf Literatur, auf Lyrik gar, einlassen, von diesem besonderen Mann wirklich etwas lernen können?
Man baut sich ein Poetikum.

Das am Sonntag mit einem Bürgerfest zu eröffnende Rückert-Museum in Oberlauringen ist ein Kleinod, das auch für die künftige Vermittlung von Literatur, von Poesie und der Gedankenwelt eines Dichters, wegweisend sein wird. Der Marktgemeinde Stadtlauringen und Dagmar Stonus vom Büro FranKonzept ist hier etwas Besonderes gelungen.
Im vergangenen Jahr stand Friedrich Rückert, der fränkische Goethe, der mit Alexander von Humboldt und dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. auf Augenhöhe parlierte, 44 Sprachen sprach und die Orientalistik begründete, vor allem wegen der großen Ausstellung in der Kunsthalle in Schweinfurt im Fokus der Öffentlichkeit.
Ein Mann aus dem Dorf
Doch die Oberlauringer haben ihn immer als einen der ihren verstanden, seine Wurzeln liegen ja in dem kleinen fränkischen 760-Einwohner-Dorf. Nirgendwo sonst wird die Erinnerung an Rückert so gelebt wie hier.
Einen Rückert-Weg gibt es schon lange, eine Rückert-Pforte, einen Rückert-Garten. An einigen Häusern haben die Besitzer Verse aus Rückert-Gedichten an die Fassade gemalt, die ehrenamtlichen Helfer des Rückert-Arbeitskreises beteiligen sich tatkräftig beim Betrieb und den Führungen im Poetikum. „Ohne dieses überdurchschnittliche Engagement aus dem Dorf wäre das alles gar nicht möglich“, betont Ausstellungs-Kuratorin Stonus.
Von 1792 bis 1802 vor Ort
In Oberlauringen lebte der Sohn des damaligen Amtmannes von 1792 bis 1802, mit 14 ging er nach Schweinfurt ans Gymnasium. Das Poetikum in dem mit viel Liebe zum Detail restaurierten alten Rathaus, mitten im Dorf unterhalb der Kirche, fußt natürlich in erster Linie auf Rückerts Dichtung. Die 1837 veröffentlichten 40 Gedichte aus dem Band „Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns“ schrieb der Dichter 1829. Der Kniff ist, diese Gedichte nicht einfach nur als lyrische Phantasie zu interpretieren, sondern „die Medaille immer umzudrehen, zu sehen, was dahinter steckt“, so Dagmar Stonus.

Rückert schrieb von Krieg und Unterdrückung in napoleonischen Zeiten, von Pfarrern, Handwerkern, Lehrern, Bauern, vom Leben auf dem Dorf, von Herren und Untertanen, von Eltern, Geschwistern, von der Natur, in der er als Kind umherstreifte. Den Dichterkosmos in Relation zur damaligen Zeit zu setzen, die Lebensrealität und die Gedichte zu spiegeln, ist das, was das Poetikum zu einer sehenswerten Ausstellung macht.
„Ich denke nicht, ohne zu dichten; und dichte nie, ohne zu denken.“
Auch gestalterisch kann sich das sehen lassen, denn die in den typischen Farben des Biedermeiers in Gelb, Rosa, Grün und Blau gehaltenen einzelnen Themen-Inseln, passen sich gut in die historischen Räume ein. Kulturhistorisch interessant und mit einem Augenzwinkern erzählt sind Themengruppen wie „Herrschen und dienen“ über den Beruf des Vaters und warum ihm gekündigt wurde, „Lernen und Kind sein“ über Zucht und Ordnung in der Schule oder „Ackern und Arbeiten“ über das Landleben damals.
PopArt-Rückert
Dass das Bild eines neuartigen PopArt-Rückerts die Sichtachsen im Raum beherrscht, der über seine Ausstellung mit Wohlwollen zu wachen scheint, macht das besondere Moment aus. Überall kann man sich setzen, die zum Großteil von den Bürgern bereitgestellten historischen Bilder und Utensilien anschauen und dabei thematisch passende Rückert-Gedichte per Kopfhörer hören. Der Dichter war 41 Jahre alt, als er seine Kindheitserinnerungen aufschrieb, er war nach dem Umzug nach Schweinfurt nie mehr in Oberlauringen.
Kraft seiner Lyrik versetzte er sich also zurück in eine prägende Zeit seines Lebens, von der er wusste, dass sie nie mehr wieder kommen würde.

Nettes multimediales Gimmick auch die Station, an der man alle 40 Kindheits-Gedichte sowie zehn weitere zu dem Themenkomplex gehörende unvollendete und nicht veröffentlichte Texte in Rückerts Originalhandschrift mit danebenstehender Transkription aufrufen kann und sieht, wo er Passagen gestrichen oder geändert hat. „Ich denke nicht, ohne zu dichten; und dichte nie, ohne zu denken“, hat Rückert einmal gesagt. Hier sieht man, was er damit meinte.
Vielfältiges Wirken
Natürlich beschränkt sich das Museum nicht nur auf die Jugend, das wäre viel zu kurz gegriffen. Rückerts vielfältiges Wirken als Poet, Gelehrter und Orientalist wird unter dem Motto „Die Welt ist mir nichts mehr als Stoff der Poesie“ dargestellt. Dadurch eröffnet sich auch der schier unendliche Dichterkosmos und zeigt Begegnungen mit Rückert als Professor für orientalische Sprachen, als sehr politischen Mahner und Warner, als Familienmensch, als Freund unter Künstlern und Gelehrten. Nicht fehlen darf die Adaption seiner Gedichte durch bekannte Musiker ebenso wie Rückert als Denkmal zwischen Kult und Kitsch, dessen Verse sogar Einzug in ein Donald-Duck-Heft hielten.

Friedrich Rückerts größtes Verdienst ist wohl, dass er in einer Zeit der radikalen Umbrüche durch Industrialisierung und Revolution gespürt hat, wie wichtig Verständnis füreinander durch Sprache ist. „Weltpoesie alleine ist Weltversöhnung“ war sein Mantra. Es bedeutet, dass es mit dem Auswendiglernen einer Sprache alleine nicht getan ist. Rückert wollte sich durch die fremden Sprachen auch immer die dahinter stehenden Gesellschaften und Völker in ihrem Denken erschließen, sie verstehen und kennenlernen. Sprache war für ihn nie Mittel zum Zweck wie sie es heute ist, wenn man zum Beispiel Englisch lernt, nur um als Börsenmakler in London viel Geld zu verdienen. Über die heutige Sprachlosigkeit im Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei wäre er entsetzt.
Das Poetikum ist sich dieser Bedeutung Rückerts bewusst, ohne bedeutungsschwanger zu sein. Und deswegen ist es so sehenswert.
Friedrich Rückert Poetikum
Oberlauringen ist Rückert-Dorf, mit Leidenschaft. Der Weltpoet (1788 bis 1866) verbrachte dort seine Kindheit. Am Sonntag, 30. April, feiert die Gemeinde Stadtlauringen mit den Bürgern die Einweihung des Friedrich Rückert Poetikums im umgebauten alten Rathaus.
Um 11.30 Uhr ist die feierliche Eröffnung durch Bürgermeister Friedel Heckenlauer. Die Poetin Pauline Füg trägt dabei ein Festgedicht vor. Im Anschluss ist den ganzen Tag Festbetrieb mit Musik, Aktionen und Führungen.
Im Poetikum gibt es um 14, 15 und 16 Uhr kostenlose Führungen. Geöffnet ist auch die Kirche, Führungen dort gibt es um 14.30, 15.30 und 16.30 Uhr. Im Rückert-Garten kann man den Weltpoeten orientalisch und als Gast mit seinen Gedichten erleben. Außerdem gibt es ein großes Kinderprogramm mit Malen, Basteln, Spielen und Kamelreiten.
Im Jahr 2013 beschloss der Stadtlauringer Marktgemeinderat, das leer stehende alte Rathaus zum Poetikum umzubauen. Die Sanierung des aus dem späten 18. Jahrhundert stammenden Hauses, das bis zur Gebietsreform 1978 das Oberlauringer Rathaus war, kostete 442 000 Euro. Die Gemeinde investierte 126 300 Euro, gefördert wurde der Bau durch die Dorferneuerung (272 000), die Bayerische Landesstiftung (31 200), das Landesamt für Denkmalpflege (7500) und den Landkreis Schweinfurt (5000). Die Gestaltung und Einrichtung des Museums selbst kostete 320 000 Euro. Hier investierte die Gemeinde 45 000 Euro, die restlichen Fördergeber waren das Leader-Programm mit 192 000 Euro, die Landesstelle nicht staatlicher Museen (30 000), der Bezirk Unterfranken (23 000), die bayerische Sparkassenstiftung (20 000) und die Sparkasse Schweinfurt (10 000).
Geöffnet ist das Poetikum vom 1. Mai bis 31. Oktober immer an Sonn- und Feiertagen von 13 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei, weitere Öffnungszeiten für Gruppen auf Anfrage.