"Links, rechts, links, rechts", gibt sich Aurelian Kommandos, während er die Treppe zur Sporthalle am Würzburger Heuchelhof hinab stiefelt. Der seit kurzem Neunjährige lebt mit einer motorischen Behinderung, weil er bereits in der 24. Schwangerschaftswoche, also knapp drei Monate zu früh auf die Welt kam.
Eine Einschränkung, die ihn bisher daran gehindert hat, am regulären Vereinssport teilzunehmen. Etwa zwei Drittel der sieben- bis zwölfjährigen Kinder in Deutschland sind in einem Sportverein. Dagegen war 2013 (das letzte Mal als diese Zahlen erhoben wurden) nur jedes fünfte Kind, das wie Aurelian mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung lebt, im Sportverein aktiv.
Das ist ein Problem, weil die regelmäßige Teilnahme an organisiert-strukturierten Freizeitaktivitäten, wie es in Fachmedien heißt, die soziale Kompetenz, Eigeninitiative und das Kulturbewusstsein fördert und positiven Einfluss auf die Gesundheit hat. "Beim Thema Inklusion ist in Deutschland noch viel zu tun", sagt Dr. Christiane Reuter vom Lehrstuhl für "Pädagogik bei Geistiger Behinderung" an der Universität Würzburg. Oder ganz einfach formuliert: Alle Mädchen und alle Jungen sollten in einem so reichen Land wie Deutschland die Möglichkeit haben, mit Gleichaltrigen Sport zu machen, egal welche Voraussetzungen er oder sie haben – oder nicht haben.
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben und sich der Umsetzung verpflichtet. In Artikel 30 heißt es, dass die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen treffen, um Menschen mit Behinderung zu ermutigen, so umfassend wie möglich an breitensportlichen Aktivitäten auf allen Ebenen teilzunehmen.
Seit März ist Aurelian Teil eines Projekts der Uni Würzburg. "Sportassistenz als Übergang zum Sportverein", kurz "SpAss" heißt das am Lehrstuhl für "Pädagogik bei Geistiger Behinderung" beheimatete Programm, das in der ersten Phase vom Unibund finanziert wurde. Für die Zukunft haben Stadt und Landkreis Würzburg finanzielle Unterstützung genehmigt.
Dafür wurden an der Universität sogenannte Sport-Assistenten und -Assistentinnen ausgebildet. Eine von ihnen ist Maren Rudolf, die an diesem Freitag Aurelian abholt und ihn zum letzten Mal zum Fußballtraining beim TSV Rottenbauer begleitet. Zehnmal war die Sonderpädagogik-Studentin mit dem Jungen beim Fußballtraining. "Anfangs konnte er keine Übung alleine machen und ich musste immer mit auf dem Feld stehen", berichtet Rudolf. Mittlerweile holt sie den Jungen ab, ist in Trink- oder Spielpausen eine Ansprechpartnerin und redet ihm gut zu.
"Ich finde das Projekt super. Aurelian hat sich motorisch total verbessert", sagt Aurelians Mutter Anastasia Steinbauer, die über den Behindertenbeirat der Stadt Würzburg, bei dem sie Mitglied ist, auf das Projekt gestoßen ist. Als Mutter von zwei weiteren Kindern bietet es ihr eine gute Entlastung. "Aurelian war sonst schwer für etwas zu motivieren. Das ist hier anders", sagt sie.
Der Lieblingsspieler von Aurelian ist Cristiano Ronaldo. Natürlich trägt er beim Training das Trikot der portugiesischen Nationalmannschaft mit der Nummer sieben. Ronalds bekannten "Siiiuuuuuu"-Jubel, der in Fußballstadien weltweit bekannt ist, kennt Aurelian natürlich von YouTube. Schon auf dem Weg zum Training kündigt er an, den Jubel nachher für ein Foto zu zelebrieren.
"Mist" oder "Vor", ruft Aurelian während des Trainings. Mittlerweile ist er vollkommen in die Gruppe integriert, auch wenn er im Sommer nicht den Sprung in die höhere Altersstufe mit seinen Teamkollegen gemacht hat. "Das hätte einfach sportlich keinen Sinn ergeben", sagt Rudolf, die deshalb auch mit den Trainern gesprochen hat. Zwar ist Aurelian nun der älteste im Training, hat aber deutlich mehr Spielanteile und deshalb auch mehr Spaß.
Am Ende verliert Aurelians Team das Trainingsspiel, aber dem Neunjährigen gelingt fast ein Tor. "Das motorische Gedächtnis funktioniert auch bei Menschen mit Beeinträchtigung. Je mehr Bewegungen Aurelian erlernt, desto schneller erlernt er dann auch weitere oder komplexere Abläufe", erklärt Sportwissenschaftlerin Reuter.
Bei der U7 gibt es noch keinen Rundenspielbetrieb, und an den meisten Turnieren kann Aurelian nicht teilnehmen, weil die ausrichtenden Vereine streng auf den Altersgruppen beharren, berichtet Rottenbauers Trainer Thomas Mohr beim Training. "Das ist sehr schade, wenn Kinder mit Beeinträchtigung nicht bei Punkt- oder Freundschaftsspielen mitmachen dürfen. Hier muss sich noch einiges in den Vereinen und Verbänden verändern", sagt Reuter, die darauf hofft, dass mehr Kinder aus ihrem Projekt auch zu mehr Verständnis bei den Vereinen führen.
Denn nach dem Pilotprojekt mit Aurelian und Maren Rudolf, das auch von einer Studentin im Rahmen einer Bachelorarbeit wissenschaftlich begleitet wurde, laufen aktuell die nächsten sieben Sportassistenzen. Dazu gibt es eine Warteliste in Würzburg. "Außerdem wollen wir das Projekt bayernweit ausweiten und warten aktuell auf eine Förderzusage", sagt Reuter.
Sie hat die Idee aus Finnland, wo das sogenannte PAPAI-Projekt große Erfolge erzielte. 61 Prozent der Teilnehmenden bewegten sich im Anschluss mehr, 54 Prozent fanden ein neues Hobby und sogar 85 Prozent würden es weiterempfehlen. Zahlen, die Hoffnung machen.