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Würzburg
Mangelnde Inklusion an den Schulen? Warum sechs angehende Sonderpädagoginnen jetzt Bayern verlassen wollen
Mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen: Dieses UN-Ziel sehen sechs Absolventinnen der Uni Würzburg in Bayern torpediert. Nach ihrem Examen ziehen sie Konsequenzen.
Sehen Inklusion an Bayerns Schulen nicht hinreichend umgesetzt und gehen deshalb als Sonderpädagoginnen nicht ins Referendariat: (von links) Veronika Nützel, Lea Höfer, Marthe Haas und Katharina Arbogast. Auf dem Bild fehlen Carolin Felber und Elena Masuhr.
Foto: Benjamin Brückner | Sehen Inklusion an Bayerns Schulen nicht hinreichend umgesetzt und gehen deshalb als Sonderpädagoginnen nicht ins Referendariat: (von links) Veronika Nützel, Lea Höfer, Marthe Haas und Katharina Arbogast.
Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 05.08.2023 03:00 Uhr

Neue Lehrkräfte in Bayern sind dringend gesucht – in Regelschulen wie in Förderschulen. Was aber, wenn Studierende nach ihrem Examen bewusst nicht ins Referendariat zur praktischen Ausbildung gehen, weil sie mit dem bayerischen Schulsystem nicht einverstanden sind?

In Würzburg haben sechs junge Frauen gerade erfolgreich das Erste Staatsexamen in der Sonderpädagogik abgelegt – und weichen nun aber erst einmal in andere Bundesländer aus. Denn dort versprechen sie sich mehr "echte" Inklusion an den Schulen. Ihre Kritik an Bayern: Das Kultusministerium deute "Inklusion" um und verstoße damit gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 in Kraft ist.

Kritischer Brief der Lehramtsanwärterinnen an das bayerische Kultusministerium

Laut Artikel 24 dürfen "Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen werden". Genau dies aber geschehe im Freistaat, sagen Marthe Haas (26), Katharina Arbogast (26), Lea Höfer (25), Veronika Nützel (24), Carolin Felber (25) und Elena Masuhr (26). Das Förderschulsystem grenze aus, monieren sie in einem Brief an Kultusminister Michael Piazolo, Staatssekretärin Anna Stolz (beide Freie Wähler) und weitere Verantwortliche im Ministerium.

Die sechs Lehramtsanwärterinnen erleben alle den gleichen Konflikt: Einerseits die Überzeugung und der Wunsch, auf jeden Fall einmal als Lehrkraft arbeiten zu wollen. Andererseits die Unzufriedenheit mit den bayerischen Verhältnissen, die sie früh kennengelernt haben.

Alle sechs haben ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an Förderschulen absolviert. "Dort bin ich als 18-Jährige erstmals mit Menschen mit Behinderung in Kontakt gekommen", erinnert sich Lea Höfer, an der Uni Würzburg die Beste im diesjährigen Staatsexamen.

Dass junge Menschen in eigenen Einrichtungen "am Stadtrand" von normalen Schulen separiert werden und teils "irre weite" Anfahrtswege haben, dass sich häufig ihr gesamtes Leben in der Einrichtung abspielt – das war für die jungen Frauen eine prägende und abschreckende Erfahrung. Bei den späteren Praktika hätten sie Ähnliches erlebt, berichten sie. Das Studium zogen sie dennoch durch - um jetzt für "richtige" Inklusion zu kämpfen: für eine Regelschule, die Menschen mit einer Behinderung ebenso besuchen können wie ohne.

Dass dies keine Lappalie ist, leuchtet den jungen Frauen ein. Das Schulsystem müsse entsprechend umgebaut werden. Weil normale Lehrkräfte mit der Aufgabe überbeansprucht seien und es schon jetzt zu wenig Personal an den Schulen gibt, seien "multiprofessionelle" Teams nötig. Wo möglich, sollten Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Wo nicht, sollten Schülerinnen und Schüler speziell gefördert werden.

Initiative "All In" gegründet, um auf Problematik aufmerksam zu machen

In einem solchen Miteinander möchten die sechs Absolventinnen ihre erworbene Expertise einbringen. Ein inklusives Bildungssystem, so fordern sie, brauche "hochprofessionelle und hochspezialisierte" Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen. Doch in Bayern "stagnieren die Bemühungen und Bestrebungen zu einer inklusiven Bildung seit Jahren", heißt es kritisch in dem Thesenpapier, das die sechs mit ihrer eigens gegründeten Initiative "All In" herausgegeben haben.

Damit wollen sie die Öffentlichkeit über die ausgemachten "Missstände" aufklären: Bayern setze Inklusion nur scheinbar um und "verhindert sie durch trügerische Maßnahmen aktiv".

Anzeige für den Anbieter Instagram über den Consent-Anbieter verweigert

Solche Kritik weist das Kultusministerium zurück, die Stabsstelle Inklusion reagierte in einem Brief auf den Protest der jungen Frauen. Bayern, so heißt es darin, habe 2011 den Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulrecht umgesetzt. Inklusion sei seither verbindliche Aufgabe aller Schulen.

Kultusministerium: "Passgenaues Angebot" für jede Schülerin und jeden Schüler

Eine besonders wichtige Rolle, erklärt Ministeriumssprecher Günther Schuster, spielten dabei die Förderschulen – mit ihrem speziellen Bildungsangebot für eine "langfristig gelingende Teilhabe". Außerdem könnten sie die Regelschulen bei der Inklusion unterstützen, unter anderem mit Mobilen Sonderpädagogischen Diensten.

Für das Kultusministerium besteht Inklusion darin, dass jede Schülerin und jeder Schüler ein "passgenaues Angebot" finden kann – und Unterstützung erhält, wo erforderlich. Für die Umsetzung mit 100 zusätzlichen Stellen pro Jahr brauche es gut ausgebildete Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Und, sagt Ministeriumssprecher Schuster: "Wir haben daher die Initiatorinnen von 'All In' ermutigt, ihren Ausbildungsweg in Bayern fortzusetzen."

Die sechs angehenden Sonderpädagoginnen wollen dies zunächst nicht. Sie halten das Referendariat als praktischen Teil der Lehrerausbildung für wichtig und sinnvoll. Aber, sagen Marthe Haas und Katharina Arbogast: "Wir wollen jetzt erstmal Erfahrung an tatsächlich inklusiven Schulen sammeln" – in anderen Bundesländern. 

 
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  • Jens Lattke
    Als Vater eines Förderkindes (Regelschule mit Schulbegleiter) sehe ich die Sache eventuell ein bisschen differenzierter. Ich bin heilfroh, dass mein Sohn an eine Regelschule gehen kann und durch den Begleiter eine gute Integration erfährt ohne die anderen aufzuhalten. Wir sind uns oft im klaren darüber, dass u.U. eine andere Schule eventuell sogar eine bessere Förderung bieten würde … wäre das bayerische Schulsystem „offener“ und ein Wechsel zwischen den verschiedenen Formen leichter möglich, wäre unsere Entscheidung sicherlich eine andere gewesen.

    Auch wenn ich Piazolo grundsätzlich für eine Fehlbesetzung halte, ist es m.E. kein wirklich schlechter Ansatz eher nach Bedarf zu beschulen – aber einem Förderschulkind ist die Laufbahn häufig vorgezeichnet. Weshalb gibt es hier keine Möglichkeit leichter zu Wechseln oder auch ambitioniertere Ziele zu verfolgen? Inklusion will m.E. oft das richtige und leistet oft das Falsche – sie bringt so für keine Seite ein optimales Ergebnis.
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  • Jutta Nöther
    Inklusion ist von Grund auf sicher ein hehrer Plan.
    Allerdings ist eine inklusive Beschulung nicht für jedes Kind ein Segen, das sollte man nicht vergessen. Manche brauchen einfach einen geschützten Raum ohne "Wettbewerb" mit anderen, den sie nicht bestehen können.
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  • Simone Eckenroth
    Ganz ohne gehässig zu sein:
    Inklusion bedeutet, die Wahl zu haben. Das ist auch in Bayern möglich - Schul- und Inklusionsbegleitung ermöglichen den Besuch der Regelschule.
    Aber:
    Eltern stehen vor der Entscheidung, was gut für das Kind ist. Was wiegt mehr - mit den Nachbarskindern zur Schule zu gehen und immer "besonders" zu sein oder dann doch eine "Peer Group" anderer Besonderer zu erleben? Nötige Therapien im Schulalltag oder am Nachmittag mit Weg woandershin?
    Nicht einfach.
    Und in den "andre Bundesländern" funktioniert Inklusion oft wie vom Vorredner beschrieben. Die Idee ist gut, die Voraussetzungen aber nicht gegeben.
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  • Gregor Ziems
    So werden Menschen mit Behi derung aber nie wirklich ein Teil unserer Geseschaft werden wen ich sie immer nur zu ihrer vermeintlichen "peer group" stecke. Ist halt Ableismus in rein Form.
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  • Lutz Saubert
    Ich wünsche den Damen einen Einsatz in Brandenburg in einer Grundschule mit 3 oder mehr Inklusionskindern. Dort wo unterrichten kaum mehr möglich ist und die Kinder mit und ohne Handicap untergehen. Dann werden Sie sehr schnell ihren Elfenbeinturm verlassen.
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  • Gregor Ziems
    Warum so negativ und gehässig?
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  • Lutz Saubert
    Erfahrungen, den Damen fehlt die noch. Die Abschaffung der Förderschulen in anderen Bundesländern hat die Situation für ALLE verschlechtert. Auch in anderen EU-Staaten mit Vollinklusion sollte man hinter die Fassade sehen. Das Beste auf dem Papier ist nicht immer das Beste in der Praxis.
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  • Gregor Ziems
    Das Wort Inklusion muss halt auch seitens der Verantwortlichen mit leben und Kompetenz gefüllt werden, ansonsten wird Überforderung und Frustration auf beiden seitens des Lehrerpults entstehen. Fakt ist aber leider auch dass nur 0.2 % aller Förderschüler das Abitur machen. Und meisten schon im Kindergarten die Karriere für die Werkstatt gerichtet ist. Es ist fast ein geschlossenes System. Und meiner Meinung nach würde die Gesellschaft sehr davon profitieren Menschen mit Behinderung nicht die ganze Zeit ausgrenzt in Sondersystemen zu verwahren.

    https://www.schulen-vergleich.de/foerderschule/zukunft-der-foerderschule.html
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  • Lutz Saubert
    Der Mensch ist auch ohne Abitur etwas wert. Es geht nicht um höchste Bildung für alle, sondern optimale, maßgeschneiderte Bildung für jeden. Teilhabe ist mehr als schulisches Miteinander; auch wenn die moderne Gesellschaft gerne alles auf die Schule abschiebt.
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  • Gregor Ziems
    Das heisst für Menschen mit Behinderung ist der optimale Bildungsweg: kein Abschluss und eine Karriere in der Werkstatt?
    Denn das bisherige System läuft darauf hinaus.
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  • Manfred Englert
    Wenn die Behinderung einen höheren Abschluss und Studium zulässt, wird es dieser Mensch auch schaffen.
    Meine Frau, als ehemalige Schulleiterin, war zu Beginn dieses „Hypes“Inklusion mit Feuer und Flamme dabei. Hat sich aber gelegt, weil es, wie angedacht, nicht durchführbar war. In Berlin, dem Kosmos aller Utopien.
    Diese jungen Frauen werden ihre Lehren machen , selbst Kinder bekommen und das Leben dann mit anderen Augen sehen.
    Aber im Moment ist es halt das böse Bayern!
    Wenn es dem Esel zu wohl ist geht er aufs Eis.
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  • Gregor Ziems
    Ich wiederhole mal die Zahl von vorher also nur 0.2 Prozent aller Menschen mit Behinderung sind in der Lage dazu ein Abitur zu absolvieren? Und Rahmenbedingungen und Strukturen spielen keine Rolle?
    Schade die Gehässigkeit würde leider nicht abgelegt.
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  • Hiltrud Erhard
    Aber das alles weiß man doch vorher....
    Oder gibt es vielleicht ganz andere Gründe?
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