Es ist der 11. Mai 1990. Ein Fußballspiel führt zwei junge Unterfranken nach München. Der TSV 1860 gegen den FC 05 Schweinfurt, Showdown um die Meisterschaft in der damals drittklassigen Bayernliga. Der Unterelsbacher Joachim Reuß erzielt das 3:2 für die Schweinfurter, die dank eines 3:3 den Titel holen. Der Kerbfelder Jürgen Moritz fängt das Trikot mit der Nummer 15, das der Stürmer in den 05-Fanblock wirft. 31 Jahre und acht Monate später hält der Torschütze das grüne Leibchen mit der Nummer 15 wieder in den Händen: "Da passe ich aber nicht mehr rein." Der Fan freut sich trotzdem über diesen Moment: "Da gehört es hin."
Moritz hat vor Weihnachten den Beitrag dieser Zeitung aus der Serie "Was macht eigentlich?" gelesen: "Als FC-05-Stürmer Joachim Reuß alle nur den 'Rhön-Bomber' nannten." Da sei ihm die Antwort aufgefallen auf die Frage nach dem Erlebnis, das Reuß, gerne nochmals erleben wolle: "die Geburt meiner Kinder" und "das Grünwalder Stadion beim 3:3". Da habe der 55-jährige Kerbfelder gewusst: Dieses Trikot müsse dem Spieler unheimlich viel bedeuten. Und so sitzen die beiden in der Küche der Familie Moritz in Kerbfeld bei Kaffee und Kuchen und der Hausherr überreicht dem ehemaligen Zweitliga-Akteur jenes Trikot – sauber in einem Tütchen verpackt.
Zu Fünft nach München: Sechziger und Nullfünfer in einem Auto
Dass es überhaupt erst in seine Hände gefallen ist, war einer Mischung aus Zufall und Leidenschaft geschuldet. "Ich interessiere mich nicht für die Bundesliga. Mein Fußball-Herz gehört dem FC 05 Schweinfurt", sagt Jürgen Moritz, der als Jugendlicher zwar gierig nach den Ergebnissen der Nullfünfer gewesen sei, aber nie im Stadion – bis zu diesem Tag. "Das war das erste Mal, dass ich die Schnüdel live gesehen habe. Und gleich so ein Spiel. In diesem Traditionsstadion, mit dieser Traditionsmannschaft, in einem so wichtigen Moment für beide Klubs." Es ging um nicht mehr als die Chance, in die Zweite Liga aufzusteigen. Zu Fünft im Auto ging's gen Süden, "da waren auch Sechziger dabei, aber das war für uns kein Problem."
"Seit diesem Spiel kann ich nachvollziehen, wenn ein Stadion-Zuschauer einen Herzinfarkt bekommt vor Aufregung." 3:3 in einem verrückten Spiel, das die "Löwen" hätten gewinnen müssen – und in dem sich Schweinfurt mit diesem Unentschieden im Titelrennen durchsetzte. "So etwas Spannendes erlebt man nicht oft." Obendrein noch das Trikot abgestaubt: "Ich weiß gar nicht mehr, wie. Ich stand weiter oben, aber voller Euphorie bin ich runter Richtung Zaun. Plötzlich hatte ich etwas Grünes in der Hand."
Reuß, für den es die erste Saison in Schweinfurt nach seinem Wechsel aus Unterelsbach war, erinnert sich nur noch daran, dass "wir alle voller Adrenalin waren". Der "Rhön-Bomber" kam nach Erwin Alberts Beinbruch in der 59. Minute als Joker rein. "Das alles im strömenden Regen, da denkst du nicht mehr normal, vor 30 000 Zuschauern, das war gigantisch." Nach dem Schlusspfiff stand er plötzlich mit nacktem Oberkörper am Zaun, unberührt von Zweifeln, ob er das Trikot überhaupt hätte wegschenken dürfen. "Das war mir egal. Die 50 Mark hätte ich notfalls bezahlt."
Getragen hat Moritz die Trophäe nur selten. Mal im Urlaub in der Türkei. "Da haben ein paar Ältere Stilaugen bekommen." Später, als er gelegentlich im Stadion damit war, gab's sogar Angebote. "Einmal 100 Euro. Wenn ich drunter ein T-Shirt angehabt hätte, wäre ich vielleicht schwach geworden." Am 11. Mai 1990 hatte Moritz das klatschnasse Trikot nicht angezogen. Er musste es verstecken, in der S-Bahn Richtung Parkplatz am Stadtrand saßen reichlich Löwen-Fans. Aber Moritz hatte Blut geleckt, fuhr in der Aufstiegsrunde mit dem Fan-Bus nach Frankfurt. In der Zweiten Liga blieb ihm vor allem das 0:1 gegen Schalke in Erinnerung. "Die waren keinen Deut besser als die Schnüdel."
Ein Ehrenplatz für das Trikot: gerahmt und hinter Glas
Reuß relativiert ein bisschen: "Am Anfang war da Euphorie. Aber ehrlich: Wir hatten in der Liga keine Chance." Trainer Werner Lorant hatte im Lauf der Bayernliga-Saison die letzten physischen Reserven aus dem Team gekitzelt. "Unser Spiel war auf Kämpfen und Rennen aufgebaut." Die Aufstiegsrunde hatte zusätzlich Kraft gekostet, zwei Wochen Sommerpause waren zu wenig. "Als schnell klar war, dass wir wieder absteigen und der Druck weg war, hat's sogar Spaß gemacht."
Heute hat der 54-Jährige mit dem FC 05 kaum Berührungspunkte. Er war nie mehr im Sachs-Stadion, spielte nie in der Traditionsmannschaft. "Das war für mich zu weit weg", beruflich war er lange in München. Getroffen hat er die alten Kollegen nur einmal: zur Beerdigung des 2004 verstorbenen, langjährigen 05-Kapitäns Oliver Wölfling. Einen Ehrenplatz bekommt das Trikot trotzdem daheim in Ebermannstadt. Gerahmt und hinter Glas. Zusammen mit Bildern "aus der guten alten Zeit".