Es ist still. So still, dass jedes Geräusch auffällt. Vögel zschirpen. Der Kies auf dem Kirchweg knirscht unter den Schuhen. Irgendwo knattert ein Traktor. Samstagvormittag, halb elf. Statt nach Coffeeshop-Kaffee riecht es nach nasser Erde. Die Straßen sind leer. Kein Mensch zu sehen, kein Auto unterwegs. Dafür grasen auf dem Acker am Waldrand fünf Rehe. Eine Landidylle, die fast inszeniert wirken würde. Wären da nicht der grau-verhangene Rhöner Himmel und die feucht-kalte Luft. Rau eher als romantisch.
"Wir hatten schon immer im Hinterkopf, dass wir irgendwann wieder in die Rhön wollen", sagt Johanna Stumpf. "Corona hat alles enorm beschleunigt." Sie vergräbt ihre Hände tief in den Taschen der grauen Jacke. Tochter Frida rennt voraus. Der Bommel ihrer Zipfelmütze hüpft über die Wiese, über ihren Bauplatz. Patrick Stumpf zeigt auf den leicht moosigen Grenzstein. Von dort bis zum Feld mit den Rehen reicht er. Hier soll ihr Zuhause entstehen.
Oberwaldbehrungen zählt knapp 200 Einwohner, Stuttgart mehr als 600 000
Der Vertrag ist bereits unterschrieben, nur der Stadtrat muss noch zustimmen. Dann zieht die junge Familie von Stuttgart nach Oberwaldbehrungen in der Rhön. Knapp 200 Einwohner, mitten im Biosphärenreservat. Ihr Grundstück liegt hinter der Kirche, 900 Quadratmeter. In der baden-württembergischen Hauptstadt ist das kaum bezahlbar. "Wir sind beide Akademiker und es ist nicht so, dass wir jeden Pfennig umdrehen müssen", sagt Patrick Stumpf. "Aber ein Haus mit Garten in Stuttgart zu bauen, das wäre schwer gewesen."
Stuttgart. Mehr als 600 000 Einwohner. Die sechstgrößte Stadt Deutschlands hatte sich Patrick Stumpf zum Studieren ausgesucht. 2010 schrieb er sich an der Uni für Bauingenieurwesen ein. "Ursprünglich wollte ich sogar in eine noch größere Stadt oder ins Ausland", sagt der 30-Jährige. Etwas ausprobieren, raus aus Unterfranken. Seine Frau Johanna "hat das eigentlich nie gebraucht".
Seit der Oberstufe im Gymnasium sind sie ein Paar. Wie viele Jahre das jetzt sind? Sie schauen sich an. Lachen. Zwölf? Dreizehn? Schulterzucken. Nebensächlich. Ohneeinander ist es längst nicht mehr vorstellbar, war es nie. Johanna Stumpf hat Wirtschaftsingenieur- und Innovationsmanagement studiert, erst an der Fachhochschule "um die Ecke" in Schmalkalden in Thüringen. Dann folgte sie ihrem heutigen Mann nach Stuttgart. Denn "dort sind die Jobperspektiven top".
Die 32-Jährige ist mittlerweile Projektleiterin bei einer Firma für Automatisierungstechnik. Schon vor der Pandemie fand ihre Arbeit zum Großteil im virtuellen Raum statt, Web-Konferenzen, Telefon-Besprechungen, "weil immer irgendjemand aus einem anderen Land dabei ist". Ähnlich sieht es bei ihrem Mann Patrick aus. Nach fünf Jahren als Statiker wechselte er im Februar 2020 als Berater zu einem Softwarehersteller, dort hilft er Firmen aus der Baubranche bei der Digitalisierung. 80 Prozent seiner Zeit verbringe er in Meetings und Schulungen. "Wir arbeiten europa- und weltweit, vor allem online", sagt Patrick Stumpf.
Sie leben mit ihrer Tochter Frida in einer Eigentumswohnung im Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch. Dritter Stock, drei Zimmer, ein Familienwohngebiet. In gut 15 Minuten sind sie mit der U-Bahn in der Innenstadt. "Es ist eigentlich schön, wir haben Spielplätze direkt nebendran", sagt Johanna Stumpf. Auch mehrere Supermärkte stehen zur Auswahl, Pizzerien, Bäckereien, Eisdielen, Cafés, ein Unverpackt-Laden. Die Nachbarn sind nett und jung, einen Freundeskreis hat sich das Paar längst aufgebaut.
Aber es fehlt das Grüne, der Garten direkt am Haus. Und der Platz, erst recht, wenn im September Fridas Geschwisterchen auf die Welt kommt. "Ich bin auf dem Land groß geworden, wo man raus kann, wo man springen kann – das soll Frida auch haben", sagt Patrick Stumpf. "Ich habe keine Lust, in einer Eigentumswohnung alt zu werden."
Seit 2014 gewinnen das städtische Umland und ländliche Kreise Einwohner
Hinzu kommt: Corona. Die Kita war von heute auf morgen zu. Gearbeitet wurde nur noch im Homeoffice. Bei Patrick Stumpf wird das auch nach der Pandemie so bleiben. Sicher. Das war die Voraussetzung: "Ich habe einen guten Job, der mir Spaß macht – und den kann ich jetzt von überall machen", sagt der 30-Jährige. Dann ging alles ganz schnell.
Weihnachten 2020. Die junge Familie ist zu Besuch in der Heimat. Seine Eltern leben in Unterwaldbehrungen, ihre in Oberwaldbehrungen. Dazwischen liegt nur ein knapper Kilometer. Irgendwann zwischen den Feiertagsessen kommt die Rede auf die Bauplätze hinter der Kirche in "Oberwald". Einer ist noch frei. Zufall? Schicksal? "Das waren viele glückliche Umstände", sagt Johanna Stumpf. Ein bisschen das Gefühl, jetzt oder nie. "Wir haben reserviert." Beim Notar unterschrieben. Und schon steht fest: Sie machen es. Sie ziehen zurück in die Rhön.
Von der Großstadt aufs Land, das scheint ungewöhnlich. Jahrelang fand genau die umgekehrte Bewegung statt. Aber etwa seit 2014 beobachten Experten eine Art Gegeneffekt: die Städte verzeichnen Verluste bei den Wanderungsraten – während ländliche Kreise und vor allem die sogenannten Speckgürtel Einwohner gewinnen. "Diese Daten deuten auf eine erneute Phase der Suburbanisierung hin", erklärt Nico Stawarz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Getragen werde diese hauptsächlich von Familien im Alter zwischen 30 und 49 Jahren. Was sie suchen? Bessere Wohnbedingungen, ein Zuhause im Grünen, bezahlbares Eigentum.
Welchen Einfluss darauf die Pandemie hat, dazu liegen laut Stawarz noch keine Daten vor. Städte, so seine Einschätzung, scheinen immer noch attraktiv zu sein – es locken eine gute Infrastruktur, kulturelle Angebote, zahlreiche Konsummöglichkeiten. Allerdings werde Wohnraum eben immer knapper und die Mieten seien stark gestiegen, sagt Stawarz. "Beides hat sicherlich dazu geführt, dass mehr Menschen aus den Städten wegziehen."
Schnelles Internet ist die Voraussetzung für Homeoffice auf dem Land
Von einem Trend zur Stadtflucht wollen Experten jedoch noch nicht sprechen. Stephan Kippes nennt es eher "eine zarte Gegenbewegung zur Landflucht". Einen gewissen Effekt habe das hohe Preisniveau in den Städten, es ziehe Menschen raus, sagt der Leiter des Marktforschungsinstituts des Immobilienverbandes Deutschland (IVD). "Ich behaupte aber: Die Möbelwägen rollen noch nicht." Noch dominiere in Bayern ein "bizarres Stadt-Land-Gefälle". Während man in Metropolen wie München, Regensburg oder Würzburg nicht mit dem Wohnungsbau hinterherkomme, gebe es "Regionen wie die Rhön, wo der Bürgermeister um jeden Einwohner kämpft".
Natürlich entstünden durch Corona, durch die Entdeckung des Homeoffice, neue Möglichkeiten, sagt Kippes. "Allerdings muss man erst sehen, ob das stabil ist." Deshalb würden viele Menschen abwarten. Immobilienmakler werden laut Kippes noch nicht von Anfragen nach dem Häuschen im Landkreis Rhön-Grabfeld oder in den Haßbergen überschwemmt. "Es deuten sich Verlagerungen an, aber es ist noch nicht die Masse." Definitiv aber würden Interessenten heute darauf achten, dass ein Objekt geeignet für Homeoffice sei. Und: Dass es vernünftiges Internet gebe.
Auch für Johanna und Patrick Stumpf ist der Umzug in die Rhön nur mit schnellem Netz möglich. "Da sollten die Gemeinden auf dem Land noch viel mehr tun. Ohne Internet könnten wir es vergessen", sagt Patrick Stumpf. Zur Sicherheit haben sie einen Testlauf gemacht, die Technik erprobt. "Es geht super", sagt der 30-Jährige. "Jetzt kann ich durch das Arbeiten eigentlich beide Welten verbinden."
Beide Welten. Das ist der Job in der Softwarebranche, die Arbeit mit anderen IT-Spezialisten. Und das Landleben, die Heimat.
Oberwaldbehrungen ist klein. Ein Ortsteil der Stadt Ostheim im Landkreis Rhön-Grabfeld. Die Kirche heißt schlicht Kirchlein am Berg, sie thront oberhalb der Häuser. Der Blick vom Vorplatz reicht weit, bis auf die verschneiten Kuppen der Rhön. Ein schmaler Weg führt in die Ortsmitte, vorbei an einigen liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Vor dem Dorfgemeinschaftshaus plätschert ein Bach. Forsythien blühen. Die Vorhänge in den Fenstern der Bäckerei sind zugezogen, geöffnet ist sie nur an zwei Tagen pro Woche. Geschäfte gibt es nicht, dafür verkauft ein Bauernhof regionale Lebensmittel.
Wer hier am Samstagvormittag durch die Straßen schlendert, wird angesprochen. Freundlich, neugierig. "Man fällt auf, wenn man als Neuling durch den Ort geht", sagt Johanna Stumpf und grinst. In "Oberwald" kennt jeder jeden. Und natürlich weiß jeder, dass die junge Familie kommt. Noch bevor sie Frida in der Kita im Nachbardorf anmelden konnte, seien die Erzieherinnen bereits auf sie zugekommen und hätten sie erinnert, sich auf jeden Fall rechtzeitig um einen Platz zu bewerben, erzählt die 32-Jährige. Es werde geredet, aber das störe sie nicht. "Wir sind so aufgewachsen."
Zugegeben, nach mehr als zehn Jahren in der Großstadt ist manches fast vergessen. Johanna Stumpf lacht. Ihr altes Auto hätten sie kürzlich fast verkauft, "weil in Stuttgart reicht eines locker, man hat ja die U-Bahn". Oder man nimmt schnell mal das Fahrrad. Nun haben sie den Wagen "doch lieber eingelagert" – denn "ohne Auto hat man in der Rhön keine Chance".
Die Familie hat sich den Traum vom eigenen Garten erfüllt
Dafür sind Oma und Opa da, um Frida zu betreuen. Immer, auch wenn die Kita Corona-bedingt schließen muss. Und der Garten. Patrick Stumpfs Augen strahlen. Der eigene Garten. Sein Traum. "Wir wissen, was uns erwartet – und für mich überwiegen die Vorzüge auf dem Land", sagt der 30-Jährige. In der Pandemie sei das nur noch deutlicher hervorgetreten.
"Die Pandemie hat den Menschen gezeigt, welchen Stellenwert die eigenen vier Wände haben", bestätigt Alexander Hupp, Gebietsdirektor der Bayerischen Landesbausparkasse (LBS) für Unter- und Mittelfranken. Gerade während der Ausgangsbeschränkungen. Die Nachfrage nach Einfamilienhäusern sei seitdem gestiegen, so Hupp. Und da in den Städten kaum Neubaugebiete ausgewiesen würden, ziehe es die Menschen raus aufs Land. Er halte das aber weniger für eine Flucht, sondern mehr für einen Kompromiss. Einen, der auch in Unterfranken bereits Folgen hat: Auch außerhalb der Städte sind die Grundstückspreise laut Hupp in den vergangenen zwei bis drei Jahren geschätzt um rund ein Fünftel gestiegen. Blicke man zehn Jahre zurück, hätten sich die Preise teils sogar verdoppelt.
"Wir merken, dass sich immer mehr junge Paare und Familien für unsere Gemeinde interessieren", sagt auch der Ostheimer Bürgermeister Steffen Malzer (CSU). Corona verstärke diese Entwicklung. So seien in dem Neubaugebiet hinter der Kirche in "Oberwald" mittlerweile alle Bauplätze vergeben, die letzten drei an junge Familien. "Eine Familie ist dabei, die in der Rhön Urlaub gemacht hat – und jetzt, im Homeoffice, haben sie entschieden: Sie wollen da leben, wo es in den Ferien so schön war." Andere seien in der Region aufgewachsen und kehrten nun zurück.
Wie Johanna und Patrick Stumpf. Sie haben sich bewusst für Oberwaldbehrungen entschieden. Bereuen werden sie die Zeit in Stuttgart jedoch nicht. Im Gegenteil: "Wenn ich es nicht gemacht hätte, wäre der Gedanke immer in meinem Kopf gewesen", sagt Patrick Stumpf. "Es war gut so." Seine Frau nickt. Durch Corona, sagt sie, falle der Umzug jetzt leichter. Freunde konnte man in den letzten Monaten sowieso kaum treffen. Bars, Theater, Kinos und Restaurants sind dicht. Und abends feiern und durch die Clubs ziehen, das geht schon seit Fridas Geburt nicht mehr. "Für uns ist es quasi ein Abschied auf Raten", sagt Johanna Stumpf.
Trotzdem wird es eine Umstellung. "Wir müssen uns wieder neu organisieren", gibt die 32-Jährige zu. Nicht mehr jeden Tag einkaufen, sondern Vorräte anschaffen. Nicht mehr unzählige Spielkameraden für Frida, sondern nur ein gleichaltriges Kind in "Oberwald" und eine Handvoll im Nachbardorf. Ein Problem sei das nicht: "Da freundet man sich eben mit denen an, die da sind."
Was ihr am meisten fehlen wird, klingt paradox: das Kicken. Eigentlich Paradebeispiel für Hobbysport auf dem Land. "In Stuttgart hatten wir den Fußballplatz direkt vor der Haustüre und ich hätte jetzt sogar in der 'Alte Damen Mannschaft' spielen dürfen", sagt Johanna Stumpf. "Hier gibt es leider keine Fußballmannschaft für Frauen." Sie überlegt. "Aber vielleicht kommt das ja wieder."
Denn die Einzigen, die zurückkommen, seien sie nicht. Einige befreundete Familien ziehe es ebenfalls wieder raus, aufs Land. Manche in die Rhön. Vielleicht ergeben sich auch mit den künftigen Nachbarn neue Bekanntschaften. Oder Chancen zur Zusammenarbeit. "Vielleicht arbeiten wir irgendwann auch hier in Co-Working-Spaces", sagt Patrick Stumpf. Digital vernetzt, eine moderne Art von Gemeinschaft, offen und ländlich zugleich.
Der 30-Jährige hebt Frida auf seine Schultern. Sie juchzt und trommelt mit ihren Mini-Outdoorschuhen auf seine Brust. Im Winter ziehen sie um. Zuerst übergangsweise in eine Einliegerwohnung in Patrick Stumpfs Elternhaus. Dann wird gebaut. Möglichst viel wollen sie dabei selbst machen, mit Unterstützung von Verwandten, Freunden und Nachbarn.
"Auf dem Dorf hilft man sich halt", sagt Johanna Stumpf. Sie tritt die vom Grundstück matschigen Sohlen auf der Straße ab und öffnet die Autotür. Die Kirchturmuhr schlägt halb zwölf. Die Oma kocht bereits. "Oma", quietscht Frida und strahlt. Ein letzter Blick auf den Bauplatz. Die Rehe sind längst davon gesprungen. "Wir freuen uns", sagt Johanna Stumpf. "Aber wahrscheinlich kann ich es erst glauben, wenn wir wirklich da sind."
Oft im Ortskern, ehemalige Höfe. Kenne ich aus meiner Heimatgemeinde.
Da gibts nicht einmal einen Garten, denn die waren allesamt am Ortsrand. Es gibt kein Grün, keinen Rasen. Reine Zweckgebäude, oft Wand an Wand. Gebäude, die man mit einem erheblichen Aufwand sanieren muss, weil sie ungedämmt sind, ein neues Dach und neue Fenster brauchen etc. Für den Preis eines neuen Traumhauses mit 900m² Grundstück drumherum hat man dann immer noch keine Raumaufteilung nach Maß oder einen Garten. Kann ich sehr gut nachvollziehen, dass gerade junge Familien keine Lust auf sowas haben.
Ginge es rein um die Natur dürfte es gar keine kleinen Dörfer mehr geben, das Volk müsste besenfalls platzsparend in einer 80 Millionen Metropole wohnen - der Rest des Landes könnte dann größtenteils als Natur genutzt werden abgesehen von Agrarflächen (deren benötigte Flächen man durch Fleischverzicht wesentlich reduzieren könnte)