Es klingelt. Der Funkmelder vibriert. Einsatz. Krachend schlagen die Türen zu, das Tor rollt nach oben. Die Uhr im Rettungswagen zeigt 14.04 Uhr, vier Minuten nach Schichtbeginn. "Johannes Würzburg 71/3 übernimmt."
Patrick Claßen steckt das Funkgerät zurück, schnallt sich an. Auf dem Navigationsgerät ploppen die Informationen der Leitstelle auf. Drei knappe Zeilen, ein Sturz an der Ludwigsbrücke in Würzburg. Philipp Bug schaltet das Blaulicht ein und gibt Gas.
Der Wagen fährt die Mainaustraße entlang, Autos bremsen, blinken, weichen seitlich aus. Kurz vor der Talavera wechselt Philipp Bug von der Sirene aufs Martinshorn, der Warnton schwillt an. Die Ampel schaltet auf Rot, zwei Autos blockieren die Kreuzung. Bug stoppt, schlängelt sich durch, beschleunigt. Nach fünf Minuten ist das Ziel erreicht. Eine junge Mutter sitzt am Boden, ihr Gesicht spiegelt Erschrecken. Patrick Claßen springt aus dem Fahrzeug.
Im Rettungsdienst sind Extremerfahrungen Alltag
Der 30-jährige Stuttgarter ist Notfallsanitäter und Praxisanleiter bei den Maltesern in Würzburg, arbeitet seit 2011 im Rettungsdienst. Ein Job, in dem Extremerfahrungen Alltag sind, in dem oft wenige Sekunden über ein Leben entscheiden. Für ihn sei das der Traumberuf, sagt Claßen. Philipp Bug nickt. Auch der gebürtige Würzburger ist ausgebildeter Notfallsanitäter, auch für ihn ist der Beruf Berufung.
"Wir helfen Menschen in Ausnahmesituationen", sagt der 27-Jährige. In Notfällen. Dann, wenn Menschen hilflos und überfordert sind, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Sobald die Rettungskräfte am Einsatzort auftauchen, übernehmen sie die Kontrolle. Strahlen Sicherheit und Souveränität aus. Vermitteln genau dieses eine Gefühl: Es ist jetzt jemand da, der hilft.
Die 112 wird heute längst nicht mehr nur im Notfall gewählt
Die Erleichterung, das Aufatmen, ist meist deutlich spürbar. So auch an der Ludwigsbrücke. Claßen und Bug knien sich neben die gestürzte Frau, untersuchen, beruhigen, erklären. Nach wenigen Minuten kehrt die Farbe in ihr Gesicht zurück, mit Hilfe steht sie auf. Claßen bietet den Transport ins Krankenhaus an, am Ende aber entscheidet sich die Frau dagegen, will selbst mit der Straßenbahn nach Hause fahren.
Schulterzucken. Notfallrucksäcke auf. Zurück zum Wagen. "Sie hat sich aber immerhin dafür entschuldigt, dass sie uns unnötig gerufen hat", sagt Bug. Ein Einzelfall ist das nicht. Die 112 wird nicht nur im lebensbedrohlichen Notfall gewählt.
"Menschen alarmieren heute viel schneller als früher den Rettungsdienst", sagt Bug. Im Schnitt wären etwa ein bis zwei Einsätze pro Schicht eher Fälle für die hausärztliche Versorgung. Trotzdem helfen sie allen, die "sich in einer vermeintlichen Notsituation befinden". Und so sind Bug und seine Kollegen oft pausenlos unterwegs, "manchmal kommt man in einer Schicht kaum zurück auf die Wache". Planbar sei der Job nie.
Koordiniert werden alle Einsätze von der Integrierten Leitstelle, die den Rettungswagen "Johannes Würzburg 71/3" jetzt zurück zur Wache schickt. Vorerst. Die Wache im Würzburger Stadtteil Zellerau ist mit 112 Mitarbeitern die größte der Malteser in Bayern. Von hier werden in Zusammenarbeit mit den anderen Rettungsorganisationen Stadt und Landkreis Würzburg sowie die Landkreise Kitzingen und Main-Spessart betreut.
In der Fahrzeughalle reihen sich Notarzt-, Rettungs- und Krankenwagen, im Obergeschoss gibt es eine Küche, Aufenthaltsräume und verwaiste Ruhezimmer. Hinlegen lohne sich selbst bei Nachtschichten in Würzburg kaum, sagt Bug. Zu wenig Zeit bleibe zwischen zwei Alarmierungen.
Im Schnitt acht Einsätze hätten sie pro Schicht, sagt Claßen. Die Zahl sei in den letzten Jahren stark gestiegen und mit ihr auch die Belastung für die Rettungskräfte. Trotzdem funktioniere das System Notfallrettung. Immer. "Weil keiner die anderen im Stich lassen würde", sagt Bug. "Der Rettungsdienst ist überlastet – aber er fährt nicht gegen die Wand."
Die Anzahl der Notfälle in Bayern ist in den letzten zehn Jahren um etwa ein Drittel gestiegen
Das gilt nicht nur in Unterfranken, sondern bundes- und bayernweit. So stieg die Anzahl der Notfälle im Freistaat allein von 2012 bis 2021 um rund ein Drittel von 828.900 auf etwa 1,1 Millionen, wie der Rettungsdienstbericht Bayern belegt. Die Zahl der Rettungswagen-Einsätze nahm um 24 Prozent zu.
Plötzlich vibriert es in der Tasche, der Funkmelder. Nächster Einsatz. Bug und Claßen drehen auf dem Absatz um. Schnell, aber ruhig. Keine Hektik, keine rennenden Retter wie im Film. "Ein gestürzter Sanitäter hilft keinem", sagt Claßen und steigt in den Rettungswagen.
Mit Blaulicht und Sirene durch den Berufsverkehr in Würzburg
Ein Patient soll von der Zahn- zur Uniklinik transportiert werden. Nach wenigen Hundert Metern aber endet die Fahrt, Bug bremst abrupt ab. Auf dem Gehsteig liegt ein Mann, er zuckt und schlägt seinen Kopf auf den Asphalt. Passanten stehen unsicher daneben. Claßen und Bug steigen aus, sie kennen den Mann, wissen, dass er in seinem Geldbeutel ein Medikament für die epileptischen Anfälle hat. Der Einsatz ist schnell beendet, der nächste folgt sofort.
Den Transport zur Uniklinik hat inzwischen ein anderes Team übernommen, die Leitstelle schickt die beiden Notfallsanitäter stattdessen zu einem Patienten mit plötzlichem Schwächeanfall in der Altstadt. Bug schaltet das Martinshorn ein. Die Straßen sind vom Berufsverkehr verstopft. Der 27-Jährige lenkt das Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn. Herzklopfen habe er dabei nicht, sagt er. Nicht mehr.
Das Navi lotst ihn in eine schmale Gasse, eine Haustür steht offen. Im Wohnzimmer sitzt ein älterer Mann mit freiem Oberkörper. Er sei umgefallen, erzählt seine Frau. Einfach zusammengesackt. Sie knetet nervös ihre Finger, lässt ihren Mann nicht aus den Augen. Bug und Claßen checken den Blutdruck, schließen die Elektroden des tragbaren EKG-Geräts an. Claßen liest den Arztbrief des letzten Klinikaufenthalts.
Der Patient hat bereits eine Herzoperation hinter sich. Das EKG summt, die Kurve ist unauffällig, der Blutdruck zu hoch. Claßen bespricht alle Optionen mit dem Ehepaar. Am Ende lehnen sie einen Transport ins Krankenhaus ab. "Das ist nicht ungewöhnlich, dass wir ohne Patienten fahren", sagt Claßen.
Bug lenkt den Wagen zurück Richtung Wache, vorbei an den Diskotheken "Zauberberg" und "Boot". Beide Clubs seien "Hotspots in Wochenendnächten", erzählt der 27-Jährige. Oft sei bei solchen Einsätzen Alkohol im Spiel, nicht selten müssten sie sich beschimpfen oder anpöbeln lassen.
Generell habe die Gewalt gegen Rettungskräfte in den letzten Jahren zugenommen. Verbal und körperlich. "Erst gestern hat mich jemand als Arschloch bezeichnet", sagt Bug. Ein alkoholisierter Patient, der "seine Hilfsbedürftigkeit nicht wahrhaben wollte". Auch Tritte und Schläge kämen vor. "Sobald eine Situation eskaliert, gilt für uns: Selbstschutz geht vor – dann ziehen wir uns zurück", betont Claßen. "Notfalls schließt man sich im Wagen ein und wartet, bis die Polizei kommt."
Nach nur sechs Minuten erreichen die Retter ihr Ziel
Um 18.30 Uhr rollt der Rettungswagen wieder auf den Innenhof der Malteser-Wache. Kurz durchatmen. Patrick Claßen beißt in sein Brot, grüßt zwei Kollegen. Der Funkmelder beendet die Pause.
Ein Verkehrsunfall in Veitshöchheim, drei Verletzte. Erstmals wirken Claßen und Bug gehetzt, das Tor öffnet sich plötzlich zu langsam. Was sie gleich erwartet, wissen sie nicht. Der Tacho schnellt nach oben. Sechs Minuten später erreichen die Notfallsanitäter den Unfallort.
Am Unfallort arbeiten alle Einsatzkräfte synchron
Blaulichter zucken. Die Feuerwehr sichert die Kreuzung, ein zweiter Rettungswagen kommt gerade an. Die Zeit bleibt scheinbar stehen, alles passiert gleichzeitig. Am Straßenrand kauert eine Frau und zittert am ganzen Körper. Eine Notärztin kniet neben ihr, Claßen und Bug ziehen eine Trage aus dem Rettungswagen und heben die Frau vorsichtig darauf. Ihre Stimme bricht, als sie auf die Fragen der Helfer antworten will. Sie hat Schmerzen an der Halswirbelsäule.
Vorsichtig schieben Claßen und Bug die Patientin in den Rettungswagen, legen die Elektroden an und drehen die Heizung auf. Das Zittern hört nicht auf. "Wir fahren Sie jetzt in die Notaufnahme", sagt Claßen. Mittlerweile ist es tropisch warm im Inneren, der Wagen rumpelt. "Die Straße zur Uniklinik ist die schlechteste in ganz Würzburg", sagt Claßen. Seine Hand streicht beruhigend über die Schulter der Verletzten.
In der Notaufnahme übergeben die Rettungskräfte ihre Patientin an die Pfleger, schildern ihren Zustand. Dann schieben Bug und Claßen die leere Trage zurück zum Wagen. Was aus der Frau wird, wissen sie nicht. "Es ist nicht vorgesehen, dass wir das erfahren", sagt Bug. Zu viel Nähe ginge zu nahe.
Genau dieses Paradoxon macht den Beruf aus. Notfallsanitäter helfen Menschen in Not – ohne Empathie, ohne Menschlichkeit ist das nicht möglich. Zugleich brauchen sie Distanz, um frei von Emotionen handeln zu können. "Manchmal kann ich meiner Verlobten abends gar nicht sagen, welche Einsätze wir hatten", gibt Claßen zu. Ist ein Fall vorbei, folgt der nächste. Während der Schicht funktioniere man, sagt Claßen. Und nach Feierabend? "Lässt man das Erlebte auf der Wache." So gut es geht.
Auf dem Weg zurück zur Wache stoppt Bug den Wagen an der Tankstelle. Kaum ist der Zapfhahn abgezogen, vibriert der Funkmelder erneut. Ein Pflegedienst hat den Notruf abgesetzt, ein 88-jähriger Mann verweigert seit Tagen das Essen und Trinken und droht zu dehydrieren.
Als die Notfallsanitäter ankommen, liegt der Senior abwesend im Bett, eine rote Decke ist über den Körper gebreitet. Seine Frau steht daneben, Verzweiflung im Blick. Mehr als 60 Jahre seien sie verheiratet, sagt sie. Aber jetzt wolle er nicht mehr. "Er lässt niemanden an sich ran", bestätigt die Pflegerin. Die Demenz mache ihn aggressiv. Bug und Claßen versuchen, zu dem Mann durchzudringen, ihn mit ruhiger Stimme zum Trinken zu überreden. Minutenlang. Vergeblich.
Manchmal gibt es für Patienten keine richtige Lösung
Claßen ruft den Sohn des Paares an, er hat die Vorsorgevollmacht. Lebensverlängernde Maßnahmen sind ausgeschlossen, ein Transport in die Notaufnahme ließe sich nur mit Zwang durchsetzen. Eine richtige Lösung gibt es nicht. Schließlich fällt die Entscheidung, den 88-Jährigen über Nacht zuhause zu lassen und mit dem Hausarzt am nächsten Tag eine Klinik zu suchen. Die Ehefrau wirkt erleichtert und ängstlich zugleich. Claßen betont, sie könne jederzeit wieder Hilfe rufen. Sie nickt, entschuldigt sich für die Umstände, bietet den beiden Männern zum Dank Bonbons an.
"Das sind Einsätze, die einen doch beschäftigen, nach denen man sich fragt, wie es bei den eigenen Eltern wird", sagt Claßen. Das Gehen-lassen falle nie leicht. Die Luft draußen ist kühl, der Mond leuchtet. Kurz nach neun fahren Claßen und Bug zurück Richtung Rettungswache. Feierabend?
Notfall kurz vor Feierabend: ein Kind mit Fieberkrampf und Eltern in Angst
Noch nicht. Um 21.33 Uhr meldet die Leitstelle einen Notfall in einem Würzburger Vorort, ein Kind mit Fieberkrampf. Das Blaulicht spiegelt sich in den Fensterscheiben, das Martinshorn klingt nachts noch lauter. Der Vater des Kindes wartet bereits auf der Straße vor dem Haus auf den Rettungswagen.
Die beiden Sanitäter folgen ihm hinein. In den Augen des Mannes glitzern Tränen, der Sohn liegt auf dem Bett, die Mutter streichelt seine Schulter. Zerwühlte Decken, dazwischen eine Packung Medikamente und das Fieberthermometer. Die Angst der Eltern ist greifbar.
Sekunden später kommt die Notärztin dazu, übernimmt, hört den Jungen ab. Da wacht der Bub auf, erschrickt, weint. Das Fieber aber ist mittlerweile gesunken, der Junge muss nicht in die Notaufnahme. Claßen und Bug ziehen sich zurück, verstauen die Geräte im Fahrzeug.
Erst wenn der Rettungswagen bei der Leitstelle abgemeldet ist, löst sich die Anspannung
Auf der Wache hat die Nachtschicht offiziell den Dienst übernommen. "Wenn allerdings auf dem Rückweg ein Unfall in der Nähe passiert, fahren wir hin", sagt Claßen. Vorhersehbar ist nichts, Überstunden sind die Regel. Zwischen fünf und zehn pro Monat kämen leicht zusammen, sagt Bug.
22.18 Uhr. Der Rettungswagen rollt in die Fahrzeughalle, das Funkgerät blieb still. Geschafft. Claßen meldet sich bei der Leitstelle ab: "Wir schalten ab, ruhigen Dienst, Tschüss und Ade". Erst jetzt löst sich die Anspannung. Bug steigt aus, deponiert Funkmelder und Schlüssel im Büro, schließt das Einsatzbuch. Fertig. Feierabend. Für heute.