"Einmal Lewandowski, bitte", sagt Vincent, wenn er die Tür zum Friseursalon aufmacht - und alle wissen: Vincent Nieswandt hätte gerne diesen seitlich kurzen Schnitt mit der angedeuteten Tolle. Der 14-Jährige aus Eibelstadt (Lkr. Würzburg) will Fußball-Profi werden. Mittelstürmer beim FC Bayern München, so wie Robert Lewandowski vor seinem Wechsel zum FC Barcelona. Dass er nie so erfolgreich sein wird wie sei Idol, weiß Vincent nicht. Er lebt mit einem genetischen Defekt, der zu intellektueller Behinderung führt: Trisomie 21, Down-Syndrom.
Vincent spielt Fußball beim FC Eibelstadt. Und er spielt gut Tennis. Beim Bundesentscheid der Special Olympics hat er eine Goldmedaille gewonnen.
Vincent liebt Fußball, seine Familie mag lieber Tennis
Fußball ist Vincents große Leidenschaft. An seinen bisher einzigen Besuch in der Münchner Allianz Arena kann er sich gut erinnern. "In der dritten Reihe" sei die Familie gesessen, erzählt der 14-Jährige. "Das wird er nie vergessen", sagt sein Vater Bernhard Nieswandt. In Regensburg, wo die Familie, die seit 2005 in Eibelstadt lebt, herkommt, waren die Nieswandts mal beim Jahn. "Das waren Geschenke, bei uns geht keiner freiwillig zum Fußball", sagt seine Mutter Susanne. Doch das könnte sich ändern: Am 26. August war Vincent Einlaufkind bei den Würzburger Kickers im Regionalliga-Spitzenspiel gegen Unterhaching. "Ein Erlebnis, an das sich die ganze Familie noch lange erinnern wird", sagt Susanne Nieswandt. Doch Tennis bleibt der Familien-Sport - auch für Vincent.
Für "Downies", wie Vincents Eltern Menschen mit Down-Syndrom nennen, gibt es in der Gegend keine Fußball-Mannschaft. Doch Vincent will Wettkämpfe bestreiten. Auch beim Tennis reicht es ihm nicht, nur mit der Familie auf dem Platz zu stehen. Deswegen tritt er bei den Special Olympics an. Das sind quasi die Olympischen Spiele für Menschen mit geistiger Behinderung, nicht zu verwechseln mit den Paralympics für Menschen mit körperlichen Behinderungen. Letztere üben ihren Sport überwiegend professionell aus, Special Olympics sind purer Breitensport.
Bei den Special Olympics gewinnt Vincent Gold im Tennis-Einzel
Ende Juni gewinnt Vincent in Berlin Gold beim nationalen Entscheid im Tennis-Einzel. Und Silber zusammen mit seiner 16-jährigen Schwester Finja im Unified-Wettbewerb, in dem gehandicapte Athletinnen und Athleten an ihrer Seite nicht-gehandicapte Partnerinnen und Partner haben. Doch Vincent spielt lieber Einzel: "Da bin ich der Chef. Da spiele ich die Rückhand beidhändig. Im Doppel macht mir meine Schwester Vorschriften", sagt er. Die er nicht befolgt? "Doch, doch. Sie ist nicht so streng zu mir."
Für so lange Sätze braucht Vincent eine Weile. Er stottert. Das war nicht immer so: Als Fünfjähriger hat er fließend gesprochen, das Stottern begann nach der Einschulung. "Ein normales Alter für diese Entwicklung", sagt seine Mutter Susanne Nieswandt. Die 51-jährige Architektin erklärt die Varianten des Down-Syndroms. Am verbreitetsten sei die freie Trisomie, "Vincent hat Translokations-Trisomie, die haben nicht mal fünf Prozent", sagt sie. Bei dieser Form liege kein freies drittes Chromosom vor, "aber es hat sich Genmaterial vom Chromosom 21 an ein anderes Chromosom angeheftet". Ist diese Translokation "balanciert", fehlt das Genmaterial an anderer Stelle, und es wirkt sich kaum auf den Menschen aus.
Vincent ist im mittleren Bereich der kognitiven Beeinträchtigung angesiedelt. Er hat starke Konzentrationsschwächen. Seine Familie spricht nicht von Krankheit: "Das ist eine Besonderheit, eine genetische Verschiedenheit. Eine Krankheit hätte einen Verlauf, wäre etwas, woran man leidet. Mit Down-Syndrom lebt man. Nur, dass man es nicht so einfach im Leben hat, wenn man nicht ist wie die Mehrheit", sagt seine Mutter.
Formalien verhindern eine Teilnahme am Tennis-Rundenspielbetrieb
Familie Nieswandt war immer schon tennisverrückt. In Eibelstadt wohnen sie 200 Meter von der Tennis-Anlage entfernt. Vincent hat motorisch vergleichsweise wenig Probleme. Kinder ohne genetische Besonderheit laufen mit zwölf Monaten, Kinder mit Down-Syndrom wegen ihres schwächeren Stützapparats oft erst mit 24 Monaten. Vincent ist mit 18 Monaten auf den Beinen "und hat gleich auf alles, was nach Ball ausgeschaut hat, gedroschen", erzählt Susanne Nieswandt.
Mit sieben Jahren fängt Vincent mit Tennis an. Und er spielt leidenschaftlich gerne Fußball. Durch eine Ausnahmegenehmigung kickt er in der U-13-Reserve des FC Eibelstadt. "Die Trainer vermitteln ein glänzendes Beispiel an Inklusion, Vincent ist integriert, findet ein Stück vom Glück vor der Haustür", sagt seine Mutter. Sein Vater Bernhard Nieswandt, Professor für experimentelle Biomedizin in der Thromboseforschung an der Uni Würzburg, fürchtet aber, dass es in der U15 komplizierter wird: "Vincent ist nicht so schnell wie andere Kinder und Fußball wird in dem Alter kompetitiver."
Das Tennisspielen funktioniert in der Familie, aber als Teamsport für Vincent nicht so gut: Mit neun spielt er in der U10 des TC Blau-Weiß Eibelstadt auf Kleinfeld, mit zehn hätte er in die U12 aufs Großfeld gemusst. So weit war er aber in seiner Entwicklung nicht. "Er hat oft die bessere Technik als Nichtgehandicapte in dem Alter, aber er reagiert nicht schnell genug, läuft zu spät los. Und er weiß nicht, wie man gewinnt", sagt seine Mutter. Wo andere Jungs den Punkt machen, spielt Vincent schön. "Er kann nicht taktieren, keinen Punktgewinn planen."
Die Eltern wenden sich an den Bayerischen Tennisverband, wollen ihn, ähnlich wie in der Schule, zurückstellen lassen. Doch seine Daten lassen sich wegen des "falschen" Alters nicht für den Wettspielbetrieb in den Computer eingeben. Vincent dürfte antreten, aber seine Spiele würden als verloren gewertet, erklärt man ihnen. "Das bring mal den Kindern und deren Eltern bei", sagt Bernhard Nieswandt. "Das ist Exklusion, nicht Inklusion."
Ein bisschen Wettkampf-Gefühl beim Tenniscamp mit anderen Kindern
Wie erklären Eltern ihrem Kind, dass es nicht überall mitmachen darf? Die Nieswandts verschweigen Vincent, dass Spieltag ist. Oder melden ihn für ein Tennis-Trainingscamp an. Wie im August. Vier Trainer kümmern sich beim TC Gerbrunn um 16 Kinder, darunter Bayern-Auswahl-Talente. Es ist ein Platz frei im Camp von Trainer Danail Zhekov. Der Bulgare und seine Assistenten integrieren Vincent in alle Spielformen, die Kinder akzeptieren ihn weitgehend. "Das ist nicht selbstverständlich", sagt Susanne Nieswandt. "Wer hat im Alltag schon Kontakt zu behinderten Kindern." Der 14-Jährige spielt mit und gegen andere - ein bisschen Wettkampf.
Es entsteht ein Wir-Gefühl, das Vincent nur vom Fußball kennt: "Wenn dort die Mannschaft führt, wird Vincent in Szene gesetzt", sagt sein Vater. "Er hat schon Tore gemacht." Aber auch schmerzhaft erlebt, was es heißt, im Abseits zu stehen - als er bei einem Hallenturnier im Finale nicht eingewechselt wurde. "Ist der Trainer deswegen ein schlechter Mensch? Nein. Er muss ja auch den anderen Kindern gerecht werden."
Das große Ziel: später in einer Männer-Mannschaft mitspielen zu dürfen
Weil solche Erfahrungen nicht ausbleiben werden, suchten die Nieswandts Alternativen zu den Tennis-Turnieren. Vor drei Jahren sind sie auf die Special Olympics aufmerksam geworden. Da die Wettkämpfe auf Chancengleichheit angelegt sind, finden zunächst drei, vier Qualifikationsspiele statt, um die Stärke der Startenden zu ermitteln. Erst dann erfolgt die Eingruppierung in Leistungsklassen.
So trifft Vincent, im mittleren Leistungsniveau angesiedelt, nicht gleich auf 25-Jährige, die eine geistige Beeinträchtigung haben, aber keine körperliche, und die normal in ihren Vereinen spielen. "Vielleicht kann sich Vincent ähnlich entwickeln", sagt sein Vater. "Es ist realistisch, dass er mal in einer Männer-Mannschaft in einer unteren Klasse mitspielt." Bis dahin hofft Mutter Susanne Nieswandt auf eine inklusive Tennisgemeinschaft in der Region - "wegen Freundschaften. So richtig viele Freunde hat Vincent nicht".
Seine sportlichen Fähigkeiten sollen Vincent im Leben Türen öffnen helfen
Sport ist wichtig. "Lesen mag er nicht so gerne", sagt seine Mutter. In die Schule ist Vincent mit sieben gekommen, die ersten beiden Jahrgangsstufen mit Schulbegleitung. "Das ist für alle Beteiligten sehr anstrengend", erzählt Susanne Nieswandt. "Wenn die Begleitung krank war, hat die Lehrerin angerufen, ich solle Vincent abholen. Das war verwirrend für das Kind."
Vincent ist verliebt in ein Mädchen, das er aus dem Kindergarten kennt. "Wir müssen ihn darauf vorbereiten, dass sie nicht zusammen sind. Er lebt noch auf einer Wolke der Glückseeligen", sagen seine Eltern.
Was Vincent indes spürt: Die Anderen kriegen Noten in der Schule, er nicht. "Ich will auch Noten haben", sagt er. "Man muss sich bewusst werden, dass es für ihn beruflich anders laufen wird. Wir vermitteln ihm, dass er etwas Besonderes ist. So wie einer dick ist oder ein Hinkebein hat. Er hat Down-Syndrom", erzählt Bernhard Nieswandt. Irgendwann wird Vincent merken, dass er keinen Führerschein machen darf. Dass es nicht mehr reicht, der niedliche Sonnenschein zu sein, der jeden umarmt. "Vielleicht können ihm seine sportlichen Fähigkeiten Türen öffnen", sagt die Mutter.
Trainings-Tipps des FC Bayern München als Vorbild
Dass Vincent nicht, wie viele Menschen mit Down-Syndrom, stark zugenommen hat, verdankt er dem Sport. Gesund ernähren mag er sich nicht, Vincent zieht Fleisch und Wurst "allem was grün oder rot ist" vor. Ein paar Gewohnheiten seiner Schwester, die vegetarische Kost bevorzugt, übernimmt er aber langsam. "In allen Lebensbereichen kommt es darauf an, dass er sich Vorbilder nimmt", sagen seine Eltern. Auch wenn es deswegen im Hause Nieswandt Sonntags um 6 Uhr morgens auch mal laut werden kann: Da hat Vincent auf der Homepage des FC Bayern ein Video mit Sportübungen entdeckt - und macht alles nach.
Dass Vincent sein Leben mal alleine führt, ist unwahrscheinlich. Realistisch ist eine betreute Wohngemeinschaft. "Ich versuche, das auf die lange Bank zu schieben, aber der Moment wird und muss kommen", sagt Bernhard Nieswandt. Dosierte Unterstützung kennt Vincent aus dem Sport: im Unified-Wettbewerb. Wenn seine Schwester Finja hie und da bewusst schwächer spielen muss als sie kann, damit es harmoniert. "Ich muss sein Tempo annehmen und darf keine Bälle erlaufen, an die er nicht hinkommen würde", erklärt die 16-Jährige. Punkten dürfen die Partner gegen die Athleten nicht. Kampfrichter beobachten das.
Vincent will zu den Special-Olympics-Weltspielen
Vincent will gewinnen - immer. In Berlin hat sein Qualifikationsgegner Timo nach einer Doppel-Niederlage herzzerreißend geweint, "da habe ich mir fast gewünscht, dass die beiden gegen uns gewinnen", erinnert sich Finja. Für Vincent war das keine Option. "Er fängt das Schimpfen an, wenn es nicht läuft", sagt seine Schwester. Für seine Mutter ist Vincents Ehrgeiz essentiell: "Dass er aus Erfolgen Entwicklung ziehen kann, wäre für sein Leben wünschenswert."
Über 4000 Athletinnen und Athleten in der Hauptstadt, eine bunte Eröffnungsfeier in der Alten Försterei, dem Bundesliga-Stadion von Union Berlin. Ein Hauch Olympia. So was beeindruckt. Vincent will 2023 wieder nach Berlin zu den Special-Olympics-Weltspielen. Voraussichtlich 14 Deutsche dürfen im Tennis starten. Qualifiziert wäre der dann 15-Jährige, "aber vielleicht ist es zu früh, er wäre der Jüngste", sagt seine Mutter. Schließlich soll man, damit möglichst viele in den Genuss kommen, nur einmal teilnehmen. "Taktisch klüger wäre 2027" - in Australien. Entscheiden wird das Vincent, der Junge mit dem starken Willen.
Ich wünsche Vincent, dass er noch vieles anderes kennen und lieben lernt, damit dann die Enttäuschung nicht zu groß ist, wenn er sich der Tatsache stellen muss, dass ihm nicht alles möglich ist.
Für meinen Sohn brach eine Welt zusammen, als klar war, dass er mit seiner progressiven Sehbehinderung nicht einmal den T-Führerschein machen könnte. Von klein auf hing sein Herz daran, Bauer zu werden. Aber ohne Traktorführerschein läuft da leider nichts. Das hat ihn tief getroffen, seitdem merkt man ihm die Bitterkeit über seine Behinderung an.
Hoffentlich findet Vincent dann etwas anderes.