Es muss Liebe sein. Spitzensport, das ist auch die Liebe zum eigenen Körper. Ihn kennen, ihn fordern, ihn ausreizen. Auf ihn hören, reagieren, ihn respektieren. Franziska Liebhardt ist Spitzensportlerin. Doch Franziska Liebhardt, die Paralympics-Goldmedaillengewinnerin von Rio, ist auch behindert. Eine Autoimmunkrankheit und weitere niederschmetternde Diagnosen haben den Tod zum Begleiter gemacht. Kann die 35-Jährige ihren Körper wirklich lieben, nach allem, was er ihr angetan hat? Woher nahm die Würzburgerin die Kraft, sich Wochen nach einer lebensrettenden Lungentransplantation in den Leistungssport zu stürzen und sieben Jahre später, 2016 in Brasilien Gold im Kugelstoßen und Silber im Weitsprung zu gewinnen? Ihre Antwort hört sich so einfach an: „Ich empfand meinen Körper nie als Feind. Ich habe gar nicht den Sport im Vordergrund gesehen. Ich wollte meinen Körper nur auf einen vernünftigen Level für den Alltag bekommen. Also habe ich mit Freizeitsport angefangen. Der Rest war ein Selbstläufer.“
Da sitzt diese zierliche Frau in einer Diskussionsrunde mit Schülern des Schweinfurter Bayernkollegs, referiert, diskutiert – und sagt diese Sätze mit einer solchen Lebensfreude, dass ihre Augen leuchten unter dem dunkelblonden, strähnigen Seitenscheitel. Augen, die voller Entsetzen waren, als 2005 die Diagnose kam: Kollagenose – eine heimtückische Erkrankung, die gesunde Zellen in nutzloses Bindegewebe umwandelt. Die Ärzte gaben ihr maximal zehn Jahre – das ist knapp zwölf Jahre her. Eine fremde Lunge funktioniert gewöhnlich fünf Jahre – die Transplantation war vor fast acht Jahren. Franziska Liebhardt weiß, dass sie sich in der Verlängerung ihres ganz persönlichen Endspiels befindet. Aber sie lebt und hat sich ihren sportlichen Traum erfüllt, als sie längst tot hätte sein können.
Weltrekord beim ersten Versuch
Stattdessen fühlte sich Liebhardt wohl selten in ihrem jungen Leben so lebendig wie am 13. September 2016. Der Wettbewerb in der Klasse F37 in Rio de Janeiro hat gerade erst begonnen, da haut sie gleich im ersten Versuch die Kugel auf 13,96 Meter raus – Weltrekord. Und letztlich, trotz einer deutlich schwächeren Folgeserie, auch Gold. Da konnte sich die chinesische Dauer-Rivalin Na Mi (13,73) abstrampeln wie sie wollte, es reichte nicht, um die für den TSV Bayer 04 Leverkusen startende Würzburgerin zu überflügeln.
Die sogar noch was zu schimpfen hatte: „Ich hatte mir die 14 vor dem Komma vorgenommen.“ Glücksgefühle durften freilich auch raus: „Das hat mir das Gefühl gegeben, alles richtig gemacht zu haben. Ich empfand im Moment des Sieges eine große Dankbarkeit für alle, die mir das ermöglicht haben.“ Sie meint ihre Trainingsgruppe um Speer-Weltmeisterin Steffi Nerius und Paralympics-Goldhamster Markus Rehm, vor allem aber ihre Organspender – nach dem Ersatz der bis zur Unkenntlichkeit verschrumpelten Lunge 2009 rettete ihr 2012 nach einem Nierenversagen der Vater mit einer Lebendspende das Leben ein zweites Mal.
Ethnische Bedenken
Dabei schien sie sich mit dem Tod abgefunden zu haben, hatte sich erst in letzter Sekunde für die Lungentransplantation entschieden: „Ich wollte das nicht. Die ganze Tortur, nur um vielleicht fünf Jahre länger leben zu können. Später kamen ethische Bedenken: Ein anderer muss sterben, nur damit ich lebe.“ Diese Zeit der Entscheidung war die schwerste ihre Lebens: „Es ging nur darum: Operation oder sterben. Und ich habe bereits mit dem Hausarzt palliativ-medizinische Wege besprochen. Jedoch kam mir nie der Gedanke, dass ich es selbst beende.“
Der Eingriff verlief in einem sechsstündigen OP-Marathon erfolgreich. Der erste Atemzug ohne Maschine nach drei Wochen künstlicher Beatmung – ein erhabener Moment. Den Liebhardt aber der Goldmedaille unterordnet: „Klar vergisst man diesen Atemzug nicht, gefühlsmäßig ist sportlicher Erfolg aber was anderes. Die Medaille war das Ergebnis großen Ehrgeizes, von Fleiß und Disziplin, eine Belohnung. Die funktionierende Spenderlunge war das Ergebnis ärztlicher Arbeit und der Nächstenliebe eines Organspenders, den ich immer in meinem Herzen trage. Da habe ich wenig beigetragen.“
Kurze und intensive Sport-Karriere
So erfolgreich die OP war, so erfolgreich war ihre kurze und intensive Sport-Karriere, die sie ganz bewusst sofort nach den Paralympics beenden wollte und auch beendet hat. Diese Entscheidung, gerade für gesunde Leistungssportler oft so schwer, ist Liebhardt deutlich leichter gefallen: „Man sollte aufhören, wenn man gut ist. Ich finde es schlimm, mit ansehen zu müssen, wenn Sportler aufhören müssen, weil sie es leistungsmäßig oder gesundheitlich nicht mehr hinbekommen.
“ Liebhardts Entschluss fiel auch im Einklang mit ihrer Erkrankung: „Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ich werde sicher keine 100 Jahre. Wenn ich sterbe, selbst, wenn es in einem Jahr sein sollte, will ich sagen können, dass ich noch eine gute Zeit hatte. Ich möchte diese nutzen, noch andere Dinge zu machen, ob beruflich oder privat.“ Dinge, die dem Leistungssport untergeordnet waren.
Untergeordnet, weil sie sich – über kleine Umwege – für eine professionelle Laufbahn entschieden hatte. Kaum das erste Mal vom OP-Tisch geklettert, begann die ehemalige Regionalliga-Volleyballerin das Sporteln – in der Freizeit-Gruppe der TG Würzburg. Die war ein Anhängsel der Leichtathletik-Abteilung, Liebhardt kam in Kontakt mit Kugelstoßer Harald Büttner, der ihr Talent entdeckte und förderte. Es folgte der „Selbstläufer“, das Training wurde intensiver und auch der Schlaganfall 2010, die bleibenden halbseitigen Spastiken konnten sie nicht bremsen. Ein Jahr später war Liebhardt, durch die Lähmungserscheinungen nun kategorisierte Behinderten-Sportlerin, 100-Meter-Weltmeisterin. 2013 wusste sie: Ich will paralympisches Gold! Und zog wenig später nach Leverkusen, absolvierte im Leistungszentrum acht bis zehn Einheiten pro Woche.
Bezugsperson Steffi Nerius
Ihre wichtigste Bezugsperson wurde Steffi Nerius. „Ohne sie wäre ich nie gelandet, wo ich gelandet bin. Da haben sich zwei gesucht und gefunden“, sagt Liebhardt heute. „Wir sind extrem ehrgeizig.“ Ein paar Extraschichten später stand sie 2016 zweimal auf dem Treppchen, als Leichtathletin – sie, die Volleyballerin. Die kaum verbergen kann, dass sie einen Tick lieber Sitzvolleyball bei den Paralympics gespielt hätte, doch das verbietet ihre nicht synchrone Motorik.
Mit sich im Reinen ist Franziska Liebhardt allemal. „Der Wechsel nach Leverkusen war die beste Entscheidung, die ich in meinem Sportlerleben getroffen habe. Dieses Paket wie in Leverkusen hat man im Behindertensport sonst nirgends in Deutschland. Man kann sich auf den Sport konzentrieren.“ Eine bedingungslose Fokussierung, die so künftig nicht mehr existiert. Nach drei Monaten Abtrainieren kehrte die gebürtige Berlinerin, die 2003 aus beruflichen Gründen ins Frankenland („inzwischen meine Heimat“) gezogen war, zurück nach Würzburg. Zwei-, dreimal die Woche wird gesportelt: Handbike-Fahren, Wandern – demnächst auch Rollstuhl-Rugby. „Ich will ganz viel ausprobieren.
Auch Grenzen austesten, aber persönlich“ – funktioniert diese Frau denn ohne Ehrgeiz? „Nicht ohne Ehrgeiz, aber ohne Wettkampf. Das ist für mich vorbei. Wer bei den Paralympics Gold gewonnen hat, kann das nicht toppen. Weniger will ich nicht haben. Lieber speichere ich das ab und genieße die Erinnerung.“
Dass ein schwer kranker Mensch mit viel Zeit und ohne das eine große Ziel, dem er alles unterzuordnen bereit ist, sich zwangsläufig intensiver seiner Lebenssituation stellt, das ist Franziska Liebhardt bewusst. Zeitmanagement wird ihre nächste Aufgabe sein. Am leichtesten würde sie es sich machen, ihrem Sport treu zu bleiben – als Trainerin. Doch sie schüttelt energisch den Kopf: „Wenn man als Aktiver aufhört, ist man nicht automatisch ein guter Trainer. Ich bin aufgrund meines Naturells völlig ungeeignet, ich bin ja schon mit mir selber super ungeduldig.“
Berufliche Ziele
Stattdessen will sich die alleine lebende Ex-Athletin Familie und Freunden widmen. Und: „Rotwein trinken, Essen oder einkaufen gehen können, ohne dem Dopingkontrolleur zu sagen, wo ich bin. Undiszipliniert sein, ohne dass es jemanden stört.“ Berufliche Ziele sollen an Stelle der sportlichen treten, seit die gelernte Kinder-Physiotherapeutin in ihrem Job nicht mehr richtig arbeiten kann, weil die Gehirnschädigung motorische Einschränkungen mit sich bringt. Auf der Agenda stehen Motivationsseminare für Firmen oder ein ausgedehntes Engagement im Verein Sportler für Organspende: „Meine Geschichte hat viele Facetten, deswegen gibt es auch viele Anfragen. Man muss genau auswählen. Ich will nicht nur Botschafter machen, damit ich auf einem Papier stehe. Am wichtigsten ist mir das Thema Organspende.“
Privat steht bei Franziska Liebhardt etwas anderes ganz oben: die Lebensqualität, die sie sich auch nicht von unzähligen Tabletten vermiesen lässt. Sie will reisen, Eindrücke aufsaugen, positiv denken. „Mir geht's ganz gut. Ich versuche mir nicht so viele Gedanken zu machen, was morgen ist. Ich denke nicht täglich, ,oh shit', hoffentlich lebe ich nächste Woche noch.
Das würde mir die Lebensqualität nehmen. Die Lunge wird halbjährlich kontrolliert, aber das kann sich auch innerhalb weniger Stunden ändern und ganz schnell zu Ende gehen.“ Ein Bewusstsein, das sich in den stillen Momenten ihres Lebens meldet.
Warum ich? „Das habe ich mich nie wirklich gefragt. Ein Anderer hat es ja auch nicht mehr verdient. Natürlich ist es Frust, wenn fast jedes Jahr eine neue Diagnose kommt. Das haut einen um, auch wenn ich das nach außen nie sage. Aber es gibt sie, die dunklen Stunden.“ Die kleinen Verluste des Alltags sind da zu verschmerzen. Früher hat Liebhardt Klarinette gespielt. Das geht nicht mehr, wegen der Lunge: Wird ein Holzblasinstrument im Inneren feucht, könnten sich Schimmelsporen breitmachen. Facetten über Facetten, die ein Buch füllen könnten. Das es nicht geben wird. Sie will nicht, Überredungsversuche sind zwecklos. Denn diese zierliche Frau mit dem dunkelblonden, strähnigen Seitenscheitel ist eigensinnig – und bescheiden: „Meine Geschichte ist schön für einen Artikel. Aber ob sie für ein Buch reicht? Mein Leben ist ansonsten ja nicht so spektakulär.“