
Acht Jahre war Hannelore Wisshofer abhängig von Oxycodon. Ausgerechnet von dem Mittel, das
in den frühen 90er Jahren eine Opioid-Krise in den USA ausgelöst hatte. Sie hatte immer wieder über starke Schmerzen geklagt. Deshalb habe sie das Medikament von ihrer Hausärztin verschrieben bekommen, sagt die 71-jährige Würzburgerin: "Ich hatte damals schon viele Schmerzmittel ausprobiert: Ibuprofen, Paracetamol und auch Tilidin."
Geholfen hätten diese immer nur kurzfristig. Nach wenigen Wochen seien die Schmerzen wieder stärker geworden. 2016 habe sich ihre Hausärztin dann nicht mehr anders zu helfen gewusst und ihr als letzten Ausweg Oxycodon verschrieben, erzählt Hannelore Wisshofer: "Ich wusste damals nicht, was Opioide anrichten und dachte, es ist das einzige, was hilft."
Facharzt Bönsch: Opioide lösen ein positives Gefühl aus, an das man sich schnell gewöhnt
In Deutschland werden Opioide häufig bei schweren Krebserkrankungen und starken Schmerzen am Lebensende eingesetzt. In den vergangenen Jahren aber seien die Medikamente immer häufiger auch bei anderen chronischen Schmerzen verschrieben worden, berichtet Prof. Dominikus Bönsch, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses in Lohr (Lkr. Main-Spessart).
Der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie betont, wie gefährlich Opioide seien. Denn neben der Schmerzlinderung würden viele Patientinnen und Patienten von einem entspannten Gefühl berichten. Probleme seien plötzlich nicht mehr wichtig. "Wenn dieses Gefühl regelmäßig empfunden wird, ist es schwierig, das wieder loszulassen", erklärt Bönsch.

Expertinnen und Experten gingen davon aus, dass sich innerhalb von zwei bis vier Wochen eine Abhängigkeit entwickle. Wenn gleich nicht alle Patientinnen und Patienten eine Sucht entwickeln, sind es nach aktuellen Studien circa 30 Prozent der Patienten, die eine Abhängigkeit entwickeln.
Körperliche Abhängigkeit von Oxycodon hat sich stark bemerkbar gemacht
Hannelore Wisshofer leidet seit vielen Jahren unter der chronischen Erkrankung "Fibromyalgie", einer Störung der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung. Das Oxycodon habe bei ihr schnell Wirkung gezeigt, berichtet die 71-Jährige. Sie konnte "endlich wieder gut leben", die Schmerzen waren erträglicher und nachts konnte sie wieder durchschlafen.
"Aber wehe, ich habe die Tabletten einmal vergessen, dann ging es richtig los." Sie bekam Schweißausbrüche, Übelkeit, Unruhe, Kopfschmerzen, Schüttelfrost – die typischen Entzugserscheinungen von Opioiden. Über die Jahre hatte sich ihr Körper immer mehr an die Einnahme des Medikaments gewöhnt. Und weil ihre Schmerzen irgendwann wieder spürbar stärker wurden, habe ihre Hausärztin immer wieder die Dosis der Schmerzmittel erhöht, sagt die Würzburgerin: "Am Ende habe ich 40 Milligramm täglich genommen."
Leben mit Opiaten hat sich angefühlt wie das Leben "in einer Wolke"
Was Wisshofer damals noch nicht wusste: Oxycodon ist bei ihrer Krankheit gar nicht das richtige Medikament. "Opioide sind bei der Fibromyalgie nach Leitlinien nicht empfohlen", bestätigt Prof. Heike Rittner, Oberärztin an der Uniklinik Würzburg und Leiterin des interdisziplinären Schmerzzentrums (ZiS). Im Gegenteil, sagt Ritter. Der Einsatz von Opioiden könne die gesundheitliche Situation sogar verschlimmern.
Anders als von Bönsch beschrieben, hatte sich Wisshofer nie so ganz wohl mit der Einnahme von Oxycodon gefühlt: "Wenn man ein Opiat nimmt, dann ist man die ganze Zeit wie in einer Wolke und dämmert nur so vor sich hin", schildert die Seniorin. Sie habe häufig das Gefühl gehabt, neben sich zu stehen und nicht mehr an der realen Welt teilzuhaben. Dazu seien die dauerhafte Müdigkeit und Konzentrationsprobleme gekommen.

Auch ihre sozialen Kontakte habe sie immer weiter zurückgefahren. Vor den Opioiden sei sie oft mit ihrem Mann im Würzburger Internetcafé "Von und für Senioren" gewesen, erzählt die 71-Jährige. Peter Wisshofer leitet das Café und früher habe sie ihn regelmäßig unterstützt. "Irgendwann bin ich nicht mehr hingegangen, weil ich ständig müde, antriebslos und in meiner eigenen Welt war", sagt sie. Auch gemeinsame Aktivitäten mit ihrem Mann oder Urlaube seien immer seltener geworden.
Wie sehr die Opiate ab einem bestimmten Punkt das Leben der Rentnerin bestimmt haben, macht ein Erlebnis aus 2023 deutlich. Es war Freitag, das Wochenende stand vor der Tür und Wisshofer hatte nur noch drei Tabletten zu Hause. Ihr Hausarzt habe Urlaub gehabt, die Vertretung habe ihr kein Oxycodon-Rezept ausstellen können, erinnert sich die Rentnerin. Sie sei in Panik geraten: "Wir sind dann in der ganzen Stadt rumgefahren, nur um einen Arzt zu finden, der mir ein Rezept ausstellen kann."
Ein anderes Mal sei sie mitten in der Nacht hochgeschreckt, weil sie geträumt hatte, dass sie keine Tabletten mehr habe. Panisch habe sie dann ihren Mann geweckt und hektisch die Wohnung nach dem Medikament abgesucht. "Am Ende habe ich die Packung gefunden und da waren noch genug Tabletten drin. Das war überhaupt nicht mehr rational."
Rückblickend sagt Wisshofer: "Ich habe eigentlich nur für meine Tabletten gelebt." Doch bis sie zu dieser Erkenntnis kam, habe es lang gedauert. Sechs Jahre lang, bis 2022, habe sie sich wenig Sorgen um ihre Oxycodon-Einnahme gemacht. Erst ein Fernsehbeitrag über die Opiatwelle in den USA habe ihr die Augen geöffnet und Parallelen aufgezeigt. Dann sei sie zur Behandlung in die Schmerztagesklinik an der Uniklinik Würzburg gegangen.
Entzug in der Schmerzklinik war für Wisshofer "die Hölle"
Heute ist sich die Rentnerin sicher: "Allein wäre ich da nicht mehr rausgekommen." Denn sie hätte zuvor bereits versucht, nach Rücksprache mit ihrer Hausärztin, die Tabletten eigenständig abzusetzen. Doch die körperliche Reaktion auf die Entwöhnung habe sie allein nicht ausgehalten, meint Hannelore Wisshofer. Sie entschloss sich, zweimal wöchentlich in die ambulante Behandlung in die Schmerztagesklinik zu gehen. Um die starken körperlichen Auswirkungen auf das Absetzen des Oxycodons zu lindern, habe sie dort "Hydromorphon" bekommen und dieses dann Stück für Stück reduziert.
"Ich bin damals wirklich durch die Hölle gegangen." Auch ihr Körper habe sehr gelitten. Teilweise habe sie nachts Wahnvorstellungen bekommen und ständig das Gefühl gehabt, "als seien viele kleine Ameisen überall unter meiner Haut".
Doch die 71-Jährige hielt die schwere Zeit durch und kämpfte sich Stück für Stück zurück in den Alltag.
Schmerzexpertin Heike Rittner sagt, dass sich eine Entwöhnung von Opioiden in Fällen wie diesem als richtiger Weg erweisen könne: "Die Erfolge beim Entzug sind gut, wenn es dafür ein Gesamtkonzept gibt." In der Schmerzambulanz der Uniklinik Würzburg werden solche Konzepte seit Jahren aufgestellt und an die Patientinnen und Patienten weitergegeben. "Das hängt natürlich davon ab, inwieweit die Patientinnen und Patienten noch weitere psychische Erkrankungen haben und wie die soziale Situation ist", erklärt die Ärztin.
Wisshofer will wieder mehr am Leben teilhaben und öfter in den Urlaub fahren
Hannelore Wisshofer ist inzwischen frei von Opioiden, hat in der Schmerzambulanz gelernt, durch Entspannungsübungen und gezielte Bewegung mit ihrer Fibromyalgie umzugehen und auch die passenden Medikamente verschrieben bekommen. "Ich bin so froh, dass ich davon weg bin und jetzt wieder viel unternehmen kann." In Zukunft wolle sie wieder häufiger mit ihrem Mann in den Urlaub fahren - und einfach wieder am Leben teilnehmen.
Wie die Redakteurin die Recherche erlebte
