Die Palliativmedizin soll schwerstkranken Patientinnen und Patienten das Leiden lindern. Das Helfen steht im Vordergrund, nicht das Heilen. Zu den deutschlandweiten Palliativ-Pionieren zählt Dr. Rainer Schäfer. Der 66-jährige Mediziner hat vor über 20 Jahren am Würzburger Juliusspital die Palliativabteilung aufgebaut.
Seit 2018 ist Schäfer auch Vorsitzender des Stiftungsrates der Bayerischen Stiftung Hospiz, zur Palliativmedizin hat er unzählige Beiträge veröffentlicht. Nun wurde er als Chefarzt am Würzburger Juliusspital verabschiedet. Ein Gespräch über Leiden, Sterben und wie Angehörige gut damit umgehen.
Rainer Schäfer: Das Interesse war zunächst nicht groß, im Gegenteil – es gab teils heftige Widerstände.
Schäfer: Vor allem aus medizinischer Hinsicht. Etliche Ärzte-Kollegen konnten den Schritt nicht verstehen, sprachen von einem "Sterbe-Ghetto", das man doch in einem Krankenhaus nicht brauche.
Schäfer: Leider haben – im Zuge der fortschreitenden Technisierung – Ärzte in Deutschland über Jahrzehnte einen Bogen um das Sterben gemacht und der Pflege überantwortet nach dem Motto "Hier gibt es ja nichts mehr zu tun" – was ein völliger Irrtum ist. Es gibt bis zum letzten Atemzug etwas zu machen.
Schäfer: Es geht um drei wesentliche Dinge. Erstens schwere Symptome wie Schmerz, Erbrechen oder Atemnot zu lindern. Das zweite Anliegen ist eine intensive Kommunikation: Wir wollen mit dem Menschen reden, wofür ansonsten in der Medizin häufig die Zeit fehlt. Und drittens wollen wir die ganze Familie, das Umfeld des Patienten, in das Betreuungskonzept einbeziehen.
Schäfer: Eine große. Und zwar deshalb, weil alle starken Schmerzmittel eine sedierende Nebenwirkung haben. Mit dieser Nebenwirkung muss man zurechtkommen. Wir versuchen, durch die Kombination von Medikamenten den sedierenden Effekt zu mindern – wenn er für den Patienten überhaupt störend ist. Manche fühlen sich dadurch entspannter.
Schäfer: Den gibt es, und das hat sich verstärkt seit 2015, als der Gesetzgeber den Paragrafen 217 Strafgesetzbuch zur unterstützten Selbsttötung neu gefasst hat. Da kamen Patienten gezielt mit dem Wunsch zu uns: Ich möchte meine Leiden "verschlafen".
Schäfer: Wir versuchen natürlich, erst alles andere anzubieten, was therapeutisch möglich ist. Die Sedierung ist die letzte Option, wenn alles andere ausgeschöpft ist.
Schäfer: Immer wieder mal – aber meist nur vorübergehend. Dass Menschen sich wünschen, schnell sterben zu können, erleben wir bei existenziell bedrohlichen Krankheiten, vor allem mit schweren Symptomen. Wenn Sie es aber schaffen, das aktuell schlimme Symptom für den Patienten zu bessern, dann lässt der Wunsch zu sterben schnell wieder nach. Dass jemand über lange Zeit einen Sterbewunsch äußert, ist bei unseren Palliativpatienten eher selten. Daneben gibt es eine zweite Gruppe, die ist viel schwieriger: Menschen, die keinen Lebenssinn mehr sehen, die einen so genannten Bilanzsuizid suchen. Aber diese Gruppe kommt in der Regel nicht in die Palliativmedizin. Die dritte Gruppe sind psychisch kranke Menschen. Ihnen muss man helfen. Das ist für mich eine wichtige Unterscheidung, wenn wir über Suizidassistenz reden. Wir sprechen von drei völlig unterschiedlichen Gruppen.
Schäfer: Es gibt kein richtig und falsch. Man sollte auf den Menschen eingehen, versuchen zu erspüren, was für ihn wichtig ist. Es kann sein, dass er über seine Krankheit überhaupt nicht mehr reden will. Dann muss man das akzeptieren. Oder dass er sie völlig verdrängt. Wenn etwa ein Mensch mit einem Tumorleiden immer von etwas anderem spricht.
Schäfer: Und Zeit! Das können Sie nicht in einem Sieben-Minuten-Gespräch machen. Das dauert länger. Man muss sich vielleicht auch mal der Biografie des Menschen widmen. Als ich hier mit der Palliativmedizin angefangen und die Patienten nach ihren Hobbys gefragt habe, haben sie mich manchmal entgeistert angeschaut: Was will der jetzt? Sie kannten es nicht, dass sich jemand für Dinge außerhalb ihrer Krankheit interessiert.
Schäfer: Ich weiß es nicht. Aber ich würde folgenden Fehler nicht mehr machen: Früher hätte ich in schwierigen Gesprächssituationen auf den Klinikseelsorger verwiesen oder auf den Psychologen, der nachmittags vorbeikommt. Das würde ich nicht mehr tun. Wenn der Mensch das Bedürfnis hat, über das Existenzielle zu sprechen, dann sollte man ihm diesen Raum unmittelbar geben. Das muss nicht der Arzt sein, das sind häufig auch die Pflegekräfte, die länger am Bett sind. Und das kann auch die Putzfrau sein – vorausgesetzt, sie spricht die gleiche Sprache.
Schäfer: Völlig unterschiedlich. Es gibt Menschen, die bis zum Schluss hadern und gegen das Schicksal ankämpfen. Es gibt welche, die ihre Ruhe haben wollen – was für Angehörige manchmal extrem schwierig ist. Und dann gibt es Patienten, die in der letzten Phase sehr unruhig und verwirrt sind.
Schäfer: Waren Sie mal bei uns auf Station? Humor ist ein Teil davon! Natürlich gibt es Phasen, in denen man berührt ist. Aber es wird auch gescherzt und gelacht.
Schäfer: Auch mit ihnen! Oder wenn die Musiktherapeutin kommt. Eine Szene, die ich nie vergessen werde: Unsere Musiktherapeutin hat einem Patienten – typischer Unterfranke, nicht unfreundlich, aber wortkarg – am Keyboard den "Alten Kameraden" vorgespielt. Und er ist weich geworden wie Butter. Davor hatte er alles abgelehnt und wollte niemanden sehen.
Schäfer: Natürlich. Musik ist für manche Menschen was unheimlich Wichtiges, und bei einigen Kranken sparen Sie an Schmerzmitteln ein. Entscheidend ist: Der Musiktherapeut muss einen Zugang finden.
Schäfer: Ja und nein. Nicht jeder Mensch mag Berührung. Die Pflege hat da spezielle Techniken. Dazu muss man wissen, ob der Patient berührungsaffin ist. Und wenn ja: Wo darf ich ihn berühren?
Schäfer: Da gibt es alle Spielarten des menschlichen Lebens. Angehörige, die vor allem darauf achten, dass der Mensch nicht mehr leidet. Dann gibt es welche, die eine Sedierung ablehnen und uns vorwerfen, wir würden ihre Menschen nur niederbügeln und sie könnten mit ihnen nicht mehr kommunizieren. Wieder andere lehnen die symptomlindernde Palliativmedizin komplett ab und verlangen nur nach kurativer Medizin. Und dann gibt es noch aggressive Komponenten bis hin zur körperlichen Gewalt gegenüber Pflegepersonal und Ärzten, auch das haben wir erlebt.
Schäfer: Die Verzweiflung, dass dieser Mensch stirbt, überträgt sich nach außen. Man wird nicht fertig mit der Situation, kann sie nicht akzeptieren. Meistens kriegt man die Aggression eingefangen. Dass man einmal Polizei oder einen Sicherheitsdienst braucht, ist sehr selten.
Schäfer: Es gibt auch da nicht richtig und falsch. Entscheidend ist, was der Mensch aktuell will. Darüber sollten die Wünsche der Angehörigen zurücktreten. Damit ist schon viel gewonnen.
Schäfer: Konflikte am Sterbebett sind nichts Ungewöhnliches. Meine Wahrnehmung ist: Viele Familien haben unterm Teppich im Keller etwas liegen. Das kann ein kleines Häufchen sein, aber auch Riesenprobleme. Je näher es an den Tod geht, umso stärker treten die Dinge oft zutage. Das können Konflikte sein, die jahrelang geschwelt haben und dann an Virulenz gewinnen. Man merkt, dass die Zeit davonrennt. Und dann will man noch etwas Ungelöstes angesprochen haben.
Schäfer: Das hängt vom Problem ab. Anfangs hatten wir Patienten, die mit dem Koffer in der Hand zur Schmerzeinstellung kamen. Solche Kranke werden heute zu Hause betreut. Wir haben eine deutlich verbesserte Schmerztherapie und Strukturen wie den ambulanten Palliativdienst. Das heißt: Die Patienten, die jetzt noch stationär kommen, haben eine Vielzahl verschiedener Symptome.
Schäfer: Die durchschnittliche Verweildauer hat sich auf gut sieben Tage etwa halbiert.
Schäfer: Die Unterscheidung ist sprachlich etwas typisch Deutsches. Ein Hospiz soll bei einem schwerstkranken Menschen über eine längere Lebensphase vor allem eine Pflege gewährleisten, die zu Hause nicht möglich ist. Das können Wochen und manchmal Monate sein. Die Palliativstation ist gedacht als Krisenintervention für Schwerstkranke. Man versucht, die Symptome einzustellen und sie dann nach Hause oder in eine Einrichtung zu entlassen. Dieses ursprüngliche Konzept ist etwas durchlöchert. Anders als Hospize sind Palliativstationen immer Teil eines Akutkrankenhauses mit all seiner Infrastruktur.
Schäfer: Natürlich. Wenn es biografische Überschneidungen zwischen dem Patienten und der eigenen Person gab. Oder wenn frühere Arbeitskollegen, Freunde oder Schulkameraden plötzlich auf der Station lagen. Und dann gab es diesen speziellen Fall eines krebskranken Mannes, dessen letzter Wunsch es war, sein neugeborenes Kind noch zu sehen. Wir haben bei seiner Frau dann die Geburt eingeleitet, aber der Vater ist zwei Stunden davor gestorben.
Schäfer: Ich zitiere hier gern britische Ärzte und was sie sich für einen würdevollen Tod wünschen: Erstens möglichst wenig Beschwerden, zweitens Aufklärung – sie wollen wissen, was los ist. Und drittens so weit wie möglich selbst bestimmen zu können, was mit einem passiert.