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Schweinfurt
"Habe die 25 Jahre nicht geschenkt bekommen": Wie ein 56-Jähriger den Kampf gegen die Alkoholabhängigkeit gewonnen hat
Peter R. war am Tiefpunkt, doch mithilfe seiner Familie, einer Therapie und niederschwelligen Angeboten ist er seit 25 Jahren trocken. Heute hilft er anderen, mit der Sucht umzugehen.
Peter R. aus dem Landkreis Bad Kissingen ist seit 25 Jahren trockener Alkoholiker. Der 56-Jährige engagiert sich mittlerweile in seinem Betrieb für suchtkranke Kolleginnen und Kollegen.
Foto: Lisa Marie Waschbusch | Peter R. aus dem Landkreis Bad Kissingen ist seit 25 Jahren trockener Alkoholiker. Der 56-Jährige engagiert sich mittlerweile in seinem Betrieb für suchtkranke Kolleginnen und Kollegen.
Lisa Marie Waschbusch
 |  aktualisiert: 19.10.2024 02:33 Uhr

Es ist der Tiefpunkt im Leben von Peter R. (Name geändert). Seine Frau ist weg, und weil sein Bruder nicht mehr weiter weiß, bringt er R. nach Würzburg und setzt ihn unter der Brücke aus. 50 Mark, ein Rucksack, ein Schlafsack. "Das ist dein zukünftiger Lebensmittelpunkt. Komm nicht mehr heim", habe sein Bruder gesagt. R., seit Jahren Alkoholiker, und immer wieder ohne Job, ist ganz unten angekommen, verliert nun auch seine Familie. Er sagt: "Da wollte ich dann auch sterben, das war Endstation."

Doch R. hat Glück, seine Familie will ihn zurückholen, sein Bruder macht ihn wieder ausfindig, obwohl R. "auch aus Trotz" nicht heim will. Die Finger kann er dennoch nicht vom Alkohol lassen. Es dauert nicht lange, da trinkt er genauso weiter wie vorher, auch wenn er zwischenzeitlich schon zu einer Beratung geht. Er habe selbst gemerkt, dass er ein "massives Problem" habe, sagt der Mann aus dem Landkreis Bad Kissingen heute. "Aber ich bin nicht mehr herausgekommen."

Schließlich ist es sein Arbeitgeber, der ihm eines Tages die Pistole auf die Brust setzt: "Die haben gesagt: Entweder du gehst zur Therapie oder hier ist der Aufhebungsvertrag", erzählt R. Am 23. Februar 1999 trinkt Peter R. das letzte Mal Alkohol.

Peter R. berät suchtkranke Kolleginnen und Kollegen

Inzwischen ist Peter R., wuschelige dunkle Haare, Pulli mit Wolfs-Aufdruck, 56 Jahre alt, Familienvater, und arbeitet in der Schweinfurter Großindustrie. In seinem Betrieb ist er seit Jahren schon Ansprechpartner für suchtkranke Kolleginnen und Kollegen. Und auch im privaten Umfeld werde er immer mal nach Rat gefragt. "Das ist vielleicht der Weg, den ich bestreite, um mit dem Thema umzugehen", sagt er. 

Unterstützung bekommt Peter R. nicht nur von seiner Familie, sondern auch von der Suchtberatung der Diakonie Schweinfurt. Die niederschwellige Anlaufstelle betreut jährlich etwa 900 bis 1000 Hilfesuchende (auch Angehörige), bei gut der Hälfte davon steht eine Alkoholproblematik im Vordergrund. "Bei uns kann man anrufen, einen Termin vereinbaren und herkommen", sagt Felicitas Sauer, die dort arbeitet. "Wir sind dann erst mal da, hören zu, und sehen, was Sache ist und wie wir helfen können."

Eine Diagnose stellen können die Mitarbeitenden der Suchtberatung zwar nicht, doch sie schauen unter anderem darauf, wann und wie häufig die Klientinnen und Klienten Suchtmittel konsumieren und welche Funktion der Konsum im Einzelnen erfüllt. Und ob ihnen brauchbare Alternativen zur Verfügung stehen, um schwierige Situationen suchtmittelfrei zu bewältigen. "Wenn nicht, ist das oft schon ein Hinweis auf eine Abhängigkeit", sagt Sauer.

Die meisten Klienten haben Familie, einen Job

Die Klientinnen und Klienten, die zu ihnen kommen, seien selten diejenigen, "die wirklich jeden Halt verloren haben", sagt Sauers Kollege Christian Hartmann. Die wenigsten entsprechen dem in der Gesellschaft gängigen Bild eines Alkoholikers, der mit der Bierflasche auf der Parkbank sitzt. Die meisten, die zur Suchtberatung kommen, haben Familie, gehen einem Beruf nach. Menschen, denen man ihr Problem nicht ansieht, die eigentlich nicht auffallen.

Beraten Suchtkranke in Schweinfurt (von links): Christian Hartmann und Felicitas Sauer. 
Foto: Anand Anders | Beraten Suchtkranke in Schweinfurt (von links): Christian Hartmann und Felicitas Sauer. 

Die Auslöser einer Suchterkrankung seien vielfältig und es müsse nicht immer ein Schicksalsschlag dahinterstehen. Bei manchen Menschen fehle es an Selbstfürsorge, sie schauen, dass alle in ihrem Umfeld zufrieden sind und verlieren sich selbst aus den Augen, schildert Hartmann. Andere haben etwa eine übertriebene Leistungserwartung an sich selbst.

Sauer und Hartmann erzählen auch von Klientinnen und Klienten, die Schwierigkeiten haben, mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes Schritt zu halten. Oder die mit einer Umbruchsituation in die Überforderung geraten: eine Beziehungskrise, der Verlust eines geliebten Menschen, der Renteneintritt. Sauer sagt: "Das kann auch oft mal so ein Auslöser sein, dass es zu einem Kontrollverlust kommt."

Bei Peter R. habe es keinen konkreten Auslöser gegeben, sagt er. Das "Saufen" habe er schon früh begonnen, mit etwa 15. "Wir haben gefeiert und ich war immer vorne dabei." Während seine Kumpels "zwei Wochen lang krank" gewesen seien, habe R. am nächsten Tag wieder trinken können. "Da hätte man schon Alarm schlagen müssen", sagt der 56-Jährige und erinnert sich an seinen Opa: "Bei ihm würde man heute sagen, der war Alkoholiker, früher hat man gesagt, der war Musikant und lustig."

Peter R. verliert immer wieder Jobs und findet keinen Halt

So richtig losgegangen sei es aber, als er seinen ersten Arbeitsplatz verloren habe, sagt der 56-Jährige. R. kompensiert das mit Alkohol. Es dauert nicht lange, da hat R. einen neuen Job, trinkt weiter, und verliert auch diesen. Irgendwann fliegt er aus dem Elternhaus, lebt eine Zeit lang in seinem Auto. Als er einen neuen Job findet, aber keinen Wohnsitz nennen kann, ist auch der Job weg.

Es ist ein Kreislauf, der ihn jahrelang begleiten wird und an dem auch seine Frau, die er 1990 kennenlernt, nichts ändern kann. "Es gab nächtelange Diskussionen, ich habe ihr das Blaue vom Himmel versprochen, drei Tage später wieder derselbe Zirkus", erzählt R. 

Im März 1999 geht Peter R. zur Therapie in eine Klinik. Er muss nüchtern sein. Er beschließt, sich im Keller einzusperren, kalter Entzug, er hat Muskelkrämpfe am ganzen Körper. Dass eine Entgiftung so nicht ablaufen soll und dass das lebensgefährlich ist, weiß R. heute. Vier Monate wird er stationär behandelt, verschiedene Therapieformen, die ersten vier Wochen Kontaktsperre nach Hause. R., damals gerade Anfang 30, sei prophezeit worden: "Zwei Jahre und du kommst zurück." Doch R. kommt nicht zurück.

Suchtberatung: Betroffene sollten sich selbst melden

Oft müsse man erst einmal ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Person ein Problem habe, sagt Felicitas Sauer von der Suchtberatung. Nicht selten fragten sich die Klientinnen und Klienten, was sie hier sollen. Ja gewiss, sie mögen hin und wieder zu viel trinken, aber deswegen seien sie doch nicht gleich Alkoholiker.

"Wenn ich heute trinken würde, wäre ich sofort innerhalb kürzester Zeit wieder drin."
Peter R.

"Es kommt immer wieder vor, dass Angehörige für einen Betroffenen anrufen", sagt ihr Kollege Christian Hartmann. "Aber eigentlich versuchen wir zu animieren, dass sich die Person selbst meldet." Diese Motivationsarbeit zu leisten, sei auch in der Beratung Tagesgeschäft. Die Menschen von einem "Ich muss hierher" zu einem "Ich will hierherkommen" zu bekommen. "Wenn einem das gelungen ist, ist das schon die halbe Miete, würde ich sagen", erklärt Hartmann.

Peter R. geht heute noch regelmäßig zur Suchtberatung. "Irgendwann holen einen die Geschichten ein, die Einschläge kommen näher", sagt er. Sein Leben sei nach der Therapie erst richtig losgegangen. Noch immer gehe er gerne feiern, stehe jedes Jahr an Fasching auf der Bühne, "wo es nur ums Saufen geht", sagt er. Doch wenn er heute auf einer Party sei und merke, die Gemeinschaft habe ein bestimmtes Level erreicht, dann gehe er nach Hause. Auch seinen Kindern habe er nichts verboten, sagt er. 

"Ich habe die 25 Jahre nicht geschenkt bekommen, man muss dran arbeiten", sagt R. Und er weiß auch: "Ich kann nie mehr in meinem Leben Alkohol trinken. Wenn ich heute trinken würde, wäre ich sofort innerhalb kürzester Zeit wieder drin."

 
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Kommentare
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  • Manfred Englert
    Habe während meines Berufslebens selbst in der Suchthilfe mitgearbeitet.
    Schlimme Krankheit und ich zolle Herrn Peter großen Respekt für diese Energieleistung!
    Bleiben Sie so konsequent, das sicher nicht leicht ist und geben Sie Ihre positiven Erfahrungen an die Ihnen bekannten Kranken weiter! Danke
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  • Rita Orf
    Eine beachtliche Leistung. Als Nichtsüchtige kann ich mir kaum vorstellen, was Einem die Abstinenz abverlangt.

    Herrn R. wünsche ich noch viele trockene Jahre.
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