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Karlstadt
"Ich habe getrunken, geschlafen und weiter getrunken": Zu Besuch bei der Selbsthilfegruppe für Suchtkranke in Karlstadt
Für Menschen, die sich von einer Alkoholsucht erholen, ist der Austausch mit Betroffenen wichtig. Die Karlstadter Gruppe gibt Einblicke und erzählt, warum schon der Geruch von Alkohol sie vor eine harte Probe stellen kann.
In der Selbsthilfegruppe Phoenix treffen sich vor allem (ehemals) Alkoholkranke, die nicht rückfällig werden wollen. Willkommen sind aber auch Personen, die süchtig nach anderen Drogen waren oder sind.
Foto: Alexander Heinl, dpa (Symbolbild) | In der Selbsthilfegruppe Phoenix treffen sich vor allem (ehemals) Alkoholkranke, die nicht rückfällig werden wollen. Willkommen sind aber auch Personen, die süchtig nach anderen Drogen waren oder sind.
Felix Hüsch
 |  aktualisiert: 01.04.2024 04:00 Uhr

Der Neue erzählt, Anfang Januar zum letzten Mal Alkohol getrunken zu haben. Vorher waren "Bier ohne Ende und eine Flasche Hochprozentiges dazu" an der Tagesordnung, seinen Führerschein ist er seit dreieinhalb Jahren los. "Früher hatte ich einen riesigen Freundeskreis, heute sind es nur noch wenige. Ich hatte einen kalten Entzug zu Hause und war dreimal am Tag mit der Hausärztin in Kontakt", erzählt er. Der Neue heißt Mario und sein Ziel ist die Abstinenz. Das hat er mit allen anderen Personen im Stuhlkreis des vhs-Raums in Karlstadt gemeinsam.

Acht Personen sind an diesem Dienstagabend beim Treffen der Selbsthilfegruppe Phoenix zusammengekommen. Zwei davon, Susanne und Georg, sind nicht nur als ehemals Alkoholkranke, sondern auch in ihrer Rolle als Gruppenleiter anwesend. Georg Reck leitet bereits eine der Phönix-Gruppen in Würzburg und hat im Oktober 2023 die neue Gruppe in Karlstadt gestartet.

"Den Geruch fand ich brutal ekelhaft. Ich musste raus, mir hat es alle Härchen aufgestellt."
Gruppenmitglied Volker über den Geruch von Alkohol im Alltag

Das Motto des dialogorientierten Angebots für Betroffene mit den verschiedensten Suchtverläufen lautet "Phoenix aus der Flasche". Die Mitglieder sind größtenteils ehemals Alkoholkranke, die sich nach ihrer Therapie darüber austauschen, wie sie ihren Alltag heute meistern. Unser Autor durfte als Gast an einer Sitzung teilnehmen. Auf Wunsch der Teilnehmer des Treffens werden in diesem Artikel nur deren Vornamen genannt.

Geschärfte Sinne für jegliche Form von Alkohol im Alltag

"Ich hätte ein aktuelles Thema", kündigt Volker bei der Begrüßungsrunde an. "Ich war kürzlich in einem privaten Zuhause, in dem Alkohol für den Verkauf produziert wird. Den Geruch fand ich brutal ekelhaft. Ich musste raus, mir hat es alle Härchen aufgestellt", sagt er. Volker selbst ist schon länger trocken. Sabine pflichtet ihm bei und meint, dass sie sofort riecht, wenn irgendwo Alkohol drin ist. "Einmal war ich in der Kirche und vor mir saß ein Mann, dessen Bartöl nach Whiskey roch. Das hat mich enorm getriggert", erzählt sie. Reck erklärt der Gruppe, dass diese geschärften Sinne für Alkohol nach einer Sucht typisch sind. 

Um die Gefahr eines Rückfalls möglichst gering zu halten, ging Sabine nach ihrer erfolgreichen Therapie drei Jahre lang kaum noch vor die Tür. "Früher hab ich in den Kneipen gelebt. Die Stammkneipe war mein zweites Wohnzimmer", sagt sie und überlegt kurz. "Obwohl, eigentlich war sie mein erstes Wohnzimmer." Alle lachen. Volker fragt, ob sie sich damals nicht drei Jahre Lebenszeit genommen habe. "Nein, ich hab mich einfach nur mit mir beschäftigt und mir einen anderen Lebensrhythmus angewöhnt", entgegnet Sabine.

Zum Trinken ins Hotel gefahren

Jutta wollte an ihrem persönlichen Tiefpunkt – anders als Sabine – beim Trinken nie unter Leuten sein. "Ich hab immer daheim getrunken oder bin mit dem Zug nach Frankfurt ins Hotel, nur um dort zu trinken", so Jutta. Sie erinnert sich, dass man mit ihr zu diesem Zeitpunkt nirgends mehr hingehen konnte. "Ich habe getrunken, geschlafen und weiter getrunken. Ich wäre nicht einmal alleine die Treppe vom Schlafzimmer runtergekommen".

"Ich habe heute in mein Tagebuch geschrieben, wie dankbar ich bin, dass ich heute nicht trinken muss."
Gruppenmitglied Jutta

Nachdem Jutta zwischendurch fast zwanzig Jahre trocken war, konnte sich nicht davor retten, rückfällig zu werden. Sie dachte damals, sie könne nach der langen Zeit mal wieder ein Radler trinken – was ihr schließlich zum Verhängnis wurde. Inzwischen ist sie, die in einer Alkoholiker-Familie aufgewachsen ist, seit vier Monaten erneut trocken, hat aber Angst, dass ihre Geschichte sich wiederholt. "Ich habe heute in mein Tagebuch geschrieben, wie dankbar ich bin, dass ich heute nicht trinken muss", betont sie. Reck: "Das 'muss' ist ein wichtiges Wort. Mit trinken 'wollen' hat das oft gar nichts mehr zu tun."

Alkohol von klein auf häufiges Problem

Was Sabine und Jutta verbindet: Beide sind mit Alkohol groß geworden. Das Thema trifft vor allem bei Volker einen Nerv. "Es ist schlimm, wie viele den Alkohol einfach von Anfang an vorgesetzt bekommen", meint er. Ihn stört auch, dass viele Veranstaltungen und Bräuche ohne Alkohol gar nicht mehr funktionieren. "Fasching zum Beispiel, was wäre Fasching heute ohne Alkohol, den gäb es gar nicht mehr", stellt er fest. 

Dass die Omnipräsenz des Alkohols in der Gesellschaft gerade ehemals Alkoholkranke beschäftigt, ist logisch. Gruppenleiterin Susanne allerdings blickt hoffnungsvoll auf die Jugend. "Ich glaube, dass sich gerade viele Menschen der jüngeren Generation langsam fragen, ob abends immer ein Bier dabei sein muss. Das Essen schmeckt doch auch mit einem Glas Wasser", sagt sie. Stefan plädiert auch dafür, weniger Alkohol zu verschenken. "Wenn du jemanden gerne hast, bringst du doch was Anderes mit als Alkohol, das ist doch kein Geschenk", stellt er fest.

"Ich habe gemerkt, dass ich euch vermisst habe und bin gut drauf, wenn ich jetzt da raus gehe."
Gruppenmitglied Sabine nach der Sitzung

Achtsamkeit oder Spiel mit dem Feuer

Der Blick auf die Uhr verrät Georg Reck, dass 90 Minuten vorbei sind und die Sitzung langsam zum Ende kommen sollte. Spätestens in der Abschlussrunde wird klar, wie viel die Teilnehmenden aus jeder einzelnen Einheit mitnehmen. "Ich habe letzte Nacht sogar schlecht geschlafen, weil ich so viel über unser Treffen nachdenken musste", erzählt Rita. Stefan betont nochmal, wie wichtig er die Gruppe findet, um nach der Therapie "aufgefangen" zu werden. Auch Sabine scheint innerlich gestärkt. "Ich habe gemerkt, dass ich euch vermisst habe und bin gut drauf, wenn ich jetzt da raus gehe", merkt sie.

Neuzugang Mario bedauert, die Gruppe für seine anstehende Therapie in Bad Neustadt vorerst wieder verlassen zu müssen. "Ich glaube schon nach ein paar Minuten, dass ich hier richtig bin und werde danach hoffentlich wiederkommen", kündigt er an. Von einer Idee raten ihm Georg Reck, Susanne und der Rest der Gruppe jedoch ab. "Vielleicht werde ich in Kneipen oder beim Fußball bewusst die Nähe zum Alkohol suchen, damit ich stolz sein kann, wenn ich nüchtern heimkomme", überlegt er. "Das ist ein Spiel mit dem Feuer", warnt ihn Reck. "Achtsamkeit ist gerade im ersten Jahr das Allerwichtigste". 

Die Selbsthilfegruppe Phoenix

Die Selbsthilfegruppe Phoenix für alkohol- und suchtkranke Menschen kommt zu den folgenden Terminen zusammen. 
Karlstadt: dienstags, 18.30 bis 20 Uhr; Volkshochschule Karlstadt (Langgasse 17).
Würzburg Alkoholgruppe: montags, 19 bis 20.30 Uhr (online); dienstags, 19 bis 20.30 Uhr (Kapuzinerstraße 19); mittwochs, 19 bis 20.30 Uhr (Kapuzinerstraße 19); donnerstags, 18 bis 19.30 Uhr (Kapuzinerstraße 19); Drogengruppe: donnerstags, 18 bis 19.30 Uhr.
Ochsenfurt: donnerstags, 19 bis 20.30 Uhr.
Betroffene und Angehörige sind zu allen Sitzungen willkommen.
Weitere Informationen: Tel.: (0931) 20713960 oder (0157) 77065624, E-Mail: phoenix-shg-wuerzburg@gmx.de.
Quelle: Phoenix
 
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