Gemünden im Landkreis Main-Spessart ist – mit Verlaub – keine Stadt von Weltrang. 10 000 Einwohner, drei Flüsse, eine Burg. Doch seit 27. Oktober 2021 liegt dort in der Obertorstraße 26 vor einem Optikergeschäft in der Altstadt ein Stein, der die Welt angeht. Es ist der Stolperstein, der an Arthur Kahn erinnert.
Der Gemündener wurde als 21-Jähriger am 12. April 1933 von den Nazis in Dachau umgebracht. Der Historiker Timothy Ryback schrieb über Kahn in seinem Buch "Hitler's First Victims" (Hitlers erste Opfer), und der Amerikaner war auch im Herbst bei der Stolperstein-Verlegung in Gemünden dabei. Im Anschluss an die Feierstunde im Oktober wurde ihm klar: "Dieser Stein versinnbildlicht wie kein anderer der rund 80 000 Stolpersteine in der Welt den Beginn des Holocausts."
Die Geschichte von Arthur Kahn und seinem Stolperstein ist es wert, erzählt zu werden. Sie könnte beginnen in Nürnberg oder in Dachau, in Mittelhessen, in Berlin oder New York, aber immer würden die Stränge gebündelt werden in Gemünden. Für das Städtchen könnte dieser besondere, mattgoldene Stein im Straßenpflaster, global gesehen, zu einem größeren Alleinstellungsmerkmal werden als der Zusammenfluss von Sinn, Saale und Main: Er markiert den Beginn der Judenvernichtung durch das Naziregime.
Kahns Brüder flohen vor den Nazis nach Chicago und New York
Arthur Kahn wuchs mit zwei Brüdern und einer Schwester im Haus seiner Eltern Levi und Martha in der Gemündener Obertorstraße 6 auf. Seine Brüder Herbert und Lothar entkamen den Nazis und flohen nach Chicago und New York. Herbert Kahn starb 2015, Lothar Kahn ist heute 97 Jahre alt. Lothars Enkelin Mattie, eine 29-jährige Kultur- und Gesellschaftsjournalistin des "Glamour Magazine" in New York, sagt: "In unserer Familie wurde immer wieder von Gemünden erzählt. Das war die Heimat meines Großvaters und seiner Geschwister, da liegen die Wurzeln unserer Familie."
Sie selbst kam 2018 zum ersten Mal nach Deutschland, um in Berlin über die Zustände in europäischen Gefängnissen zu recherchieren. "Ich musste dabei viel an meinen Großonkel Arthur denken. Mir wurde klar, dass auch er in Dachau ein Gefangener war." Sie stellte aber fest, dass Gemünden und Dachau zu weit für einen Tagesausflug von der Bundeshauptstadt entfernt liegen.
Also kam sie im folgenden Jahr wieder nach Europa, mit ihrem Bruder Josh. In Dachau besuchten sie das ehemalige Konzentrationslager, in Nürnberg standen sie am Grab von Großonkel Arthur und vor der Gemündener Obertorstraße 26 sahen sie den Stolperstein, der an ihre Großtante Fanny Weinberg, geborene Kahn, erinnert. Die Schwester von Herbert, Lothar und Arthur Kahn starb 1941 in Minsk.
In der Gemündener Touristinfo sahen Mattie und Josh Kahn zu ihrer großen Überraschung das Bild ihres Großonkels Arthur auf einem Flugblatt mit der Überschrift "Wir wollen erinnern – Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus". Dieser Flyer war erarbeitet worden von Schülerinnen und Schülern des örtlichen Friedrich-List-Gymnasiums in einem Praxis-Seminar mit Lehrer Jürgen Endres. Mit dem zufälligen Entdecken des Flyers begann ein reger E-Mail-Verkehr zwischen Mattie Kahn und der Stadt Gemünden sowie zwischen Stadtverwaltung und Stolperstein-Erfinder Gunther Demnig, der in der Steinverlegung in diesem Oktober kulminierte.
2009 gab es Widerstände gegen die ersten Stolpersteine in Gemünden
Bereits im Jahr 2009 hatte der 74-jährige Künstler Demnig aus Alsfeld in Mittelhessen erstmals Stolpersteine in Gemünden verlegt, sechs an der Zahl. Die Initiative war vom Gemündener Ulf Fischer ausgegangen.
Einige Jahre zuvor waren in Würzburg und Karlstadt Stolpersteine verlegt worden waren, Fischer wollte auch in Gemünden an die Gräueltaten der Nazis erinnern. "Der historische Verein war dagegen", sagt Fischer. "Das Bild der Stadt solle nicht beschmutzt werden, hieß es." Der damalige Bürgermeister Georg Ondrasch sei auch nicht begeistert gewesen. Aber Fischer blieb hartnäckig. "Ich wuchs in Uelzen in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen auf. Als Teenager sah ich in der Wochenschau im Kino einmal, wie Planierraupen die toten Juden zusammenschoben. Dieses Bild hat mich nie verlassen", erzählt er.
Unter schwierigen Bedingungen trug Fischer Informationen über sechs deportierte und getötete Gemündener Juden zusammen. "1945 brannte das Gemündener Rathaus ab, dabei wurden viele Unterlagen zerstört." Der heute 79-Jährige nahm schließlich Kontakt zu Künstler Gunther Demnig auf und fand Sponsoren für die Stolpersteine. "Als ich das alles so im Stadtrat vortrug, konnten die nicht mehr anders als zuzustimmen." Im September 2009 ließ Demnig die sechs Steine ins Gemündener Altstadtpflaster ein – auch den für Arthur Kahns Schwester Fanny Weinberg vor der Obertorstraße 26.
"Das ist eine von Demnigs Regeln: Die Steine werden immer am letzten selbst gewählten Wohnort der Opfer verlegt", sagt Fischer. Alle Steine stellt der Künstler selbst her. In der Regel verlegt er sie auch selbst, zumindest die jeweils ersten in einer Gemeinde. Seit 1996 sind es rund 80 000 in 1265 deutschen Kommunen und in 24 Staaten Europas.
Was die Gemündener Gymnasiasten herausfanden
Im Jahr 2014 setzten sich am Gemündener Gymnasium Schülerinnen und Schüler der Gruppe "KRASS" ("Klub Rassismus ablehnender Schülerschaft") zum Ziel, die verfügbaren Informationen über die in ihrer Heimatstadt mit Stolpersteinen bedachten Nazi-Opfer in einem Faltblatt zu sammeln. Aber bei ihren Forschungen entdeckten sie auch Neues, etwa dass Fanny Weinberg 1935 einen Sohn namens Nathan geboren hatte. "Während ihrem Mann Harry die Flucht ins Ausland gelang, wurden Fanny und Nathan deportiert und 1941 in Minsk umgebracht", berichtet Lehrer Jürgen Endres. Dies ergaben Recherchen im Jüdischen Museum in Frankfurt sowie auf der Website der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
"Durch einen Main-Post-Artikel wurden die Schülerinnen und Schüler zudem auf Fannys Bruder Arthur Kahn aufmerksam", erzählt Endres. "Er galt als erstes Opfer aus der Region. Weil er aus Gemünden zum Studium nach Würzburg zog, konnten sich die Jugendlichen mit ihm gut identifizieren." Zu Arthur Kahn fanden die Gymnasiasten einige Informationen und Hinweise, unter anderem in Alfred Anderschs autobiografisch geprägtem Bericht "Die Kirschen der Freiheit" sowie in Rolf Seuberts Aufsatz "Mein lumpiges Vierteljahr Haft…", der sich mit Anderschs KZ-Haft und den ersten Morden von Dachau befasst.
Arthur Kahn war in Gemünden in der Obertorstraße 6 aufgewachsen. Zum Medizinstudium zog er nach Würzburg, verbrachte aber die meisten Wochenenden in seiner Heimatstadt. Als "sehr intelligent" beschreibt der 97-jährige Lothar Kahn seinen älteren Bruder, in Debatten sei er "gewöhnlich der Gewinner gewesen".
Für die 1933 gegründete Bayerische Politische Polizei dagegen galt Kahn als Kommunist, weil er im Mai 1932 in Würzburg an einer Versammlung der "Gemeinschaft zur Wahrung wirtschaftlicher Belange" teilgenommen hatte. Was es mit dieser Gruppierung auf sich hatte, konnten weder Historiker noch die Gemündener Gymnasiasten klären.
Sein Name auf einer Liste von Kommunisten wurde Arthur Kahn jedoch am 10. März 1933, keine 100 Tage nach der Machtergreifung Adolf Hitlers, zum Verhängnis: Während er Verwandte in Nürnberg besuchte, wurde Kahn verhaftet und am folgenden Tag nach Dachau gebracht. Dort wurde er am 12. April 1933, zusammen mit drei anderen Juden, erschossen.
Hitlers erste Opfer
Für Timothy Ryback, Mitbegründer und Leiter des Instituts für Historische Gerechtigkeit und Versöhnung (IHJR) in Den Haag, sind diese vier Männer – Arthur Kahn aus Gemünden, Alfred Benario aus Nürnberg, Ernst Goldmann aus Fürth und Erwin Kahn (nicht verwandt) aus München – "Hitlers erste Opfer". "
Man kann diesen Mord an vier jüdischen Männern, allesamt per Kopfschuss, als den Beginn des Holocaust verstehen", sagt Ryback. Ihm seien keine früheren, gezielten Tötungen mehrerer Juden in einem Konzentrationslager bekannt.
Mit Familie Kahn pflegte der amerikanische Historiker, der in Berlin und Paris lebt, nach mehreren Interviews mit Arthur Kahns Brüdern und Familienmitgliedern eine freundschaftliche Verbindung. Als ihm Mattie Kahn von der Stolperstein-Verlegung für Arthur Kahn und Nathan Weinberg in Gemünden berichtete, bot sich die Gelegenheit für ein persönliches Treffen. Nur weil sich die Familie dafür stark machte, wich Demnig von seiner üblichen Maxime ab und verlegte Arthur Kahns Stolperstein in seiner Heimatstadt – nicht an seinem letzten Wohnort Würzburg. Die Domstadt stimmte dem zu.
Familie Kahn kam mit 14 Personen nach Europa
So kam es am 27. Oktober 2021 zu einer einerseits typischen Kleinstadt-Zeremonie mit Bürgermeister, örtlichen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten und einer nicht optimalen Verstärkeranlage. Andererseits brachte der Anlass Gunter Demnig, den Initiatoren des größten dezentralen Mahnmals der Welt, den international hoch angesehenen Historiker Timothy Ryback sowie Mattie Kahn und zwölf weitere Verwandte eines der ersten Nazi-Opfer hier zusammen.
"In gewisser Weise überwältigend", fand Ryback die Veranstaltung, bei der er Demnig seine Hochachtung für dessen Werk ausdrückte. Der aber macht wenig Aufhebens um sich. Demnig kam in einem Handwerker-Kleinbus aus Grünsfeld im Main-Tauber-Kreis angefahren, mauerte die Steine vor dem eigentlichen Beginn der Zeremonie ins Gemündener Altstadtpflaster und machte sich schon wieder auf den Weg nach Bad Brückenau zur dritten Stolperstein-Verlegung des Tages, während die örtlichen Schülerinnen und Schüler noch jüdische Lieder sangen.
Mattie Kahn fand es "bewegend", durch Straßen zu laufen, "in denen mein Großvater und meine Vorfahren täglich gelaufen sind", noch dazu mit so vielen Familienmitgliedern an ihrer Seite. Denn Familie sei den Kahns sehr wichtig. Die überlebenden Brüder seien sich "sehr nah" gewesen und hätten dies an ihre Kinder weitergegeben. Auch deshalb kamen zur Zeremonie in Main-Spessart so viele Angehörige – aus New York und Chicago, aus Los Angeles und Jerusalem.
Was sie in Gemünden, in Deutschland erlebten, ging den Kahns nahe. "Das Engagement der Schülerinnen und Schüler war ergreifend", sagt Mattie Kahn. Die Stadtverwaltung habe sich bestens gekümmert. "Ich hege sehr warme Gefühle für die Gemündener." Dennoch vergisst die Jüdin nicht, warum ihr Großvater und sein Bruder aus Deutschland geflohen sind. Und sie vergisst nicht, wer ihre Großtante Fanny, deren fünfjährigen Sohn Nathan und ihren Großonkel Arthur umgebracht hat. "Ich weiß, was es für Menschen gibt. Ich erlebe sie auch in den USA."
Ein Stein, der die Welt angeht
Die Erinnerungsarbeit sei nie getan. "Es ist nicht einfach, frei zu sein und in einer Demokratie zu leben. Wir müssen uns dessen bewusst sein und dafür kämpfen", sagt Mattie Kahn. Die Stolpersteine erinnerten die Menschen daran: "Jeder einzelne Stein steht für eine Person, für ein Schicksal."
Und als die Beteiligten nach der Zeremonie noch beim extra in Bad Kissingen gekauften, koscheren Kuchen beisammen sitzen – Bürgermeister Jürgen Lippert, Organisatorin Jasna Blaic, Lehrer Jürgen Endres und seine Schülerinnen und Schüler, Ulf Fischer, Familie Kahn und Timothy Ryback –, da kommt dem Historiker ein Gedanke: "Für keinen der vier Männer, die am 12. April 1933 ermordet wurden, gab es bisher einen Stolperstein." Für Alfred Benario aus Nürnberg und Ernst Goldmann aus Fürth seien Birken gepflanzt worden, in München erinnert eine Tafel an Erwin Kahn. "Deshalb", so Ryback, "ist Arthur Kahns Stein in der Gemündener Obertorstraße ein Stein wie kein anderer." Ein Stein, der die Welt angeht.
Diese schlimmen Tatsachen waren so sicher vielen Menschen in der Region nicht (mehr) bekannt.