Arthur Kahn liegt auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Nürnberg begraben. Er war 21 Jahre alt, Medizinstudent an der Universität Würzburg, als die SS ihn und drei weitere Juden am 12. April 1933 im KZ Dachau umbrachte. Kahn ist das erste Würzburger Todesopfer nationalsozialistischer Gewalt. In einem Meinungsbeitrag vom 3. Januar 2012 beschreibt die New York Times diese vier Morde als konstituierend für den Holocaust.
Kahn ist in Würzburg vergessen, in Nürnberg nicht. Im Sommer 2010 besuchte die israelische Tageszeitung Haaretz („Das Land“) Kahns Grab. Über dem Namen – weiß auf schwarzem Stein – sind zwei segnende Hände zu sehen, darüber steht: „Das erste Opfer der I(sraelitischen) K(ultusgemeinde)- Nürnberg nach der Machtübernahme durch die Nazi 1933“. Haaretz beschreibt es als „besonders auffällig“. „In der Nähe stehen Gräber, in denen immer noch die Einschläge von Kugeln zu sehen sind.“
Kahn, ein gebürtiger Gemündener, ist am 10. März 1933 zu Besuch bei Verwandten in Nürnberg, als ihn die Polizei verhaftet. Obwohl er in der Studentenkartei der Uni als wohnhaft in Würzburg, Semmelstraße 50, ausgewiesen ist, wird er künftig als Nürnberger geführt. Die KZ-Gedenkstätte Dachau listet 240 Häftlinge auf, die zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme in Würzburg gemeldet waren. Kahn ist nicht darunter.
„Politisch eher harmlos“
Der Siegener Erziehungswissenschaftler Rolf Seubert stieß auf Kahns Schicksal, als er Aussagen des Publizisten Alfred Andersch prüfte. Andersch hatte in seiner Autobiografie „Die Kirschen der Freiheit“ behauptet, ein Vierteljahr lang im KZ Dachau inhaftiert gewesen zu sein. Seubert schätzt Kahn als einen „politisch eher harmlosen Studenten“ ein, „der dem Verfolgungseifer der Würzburger Polizei wohl zufällig zum Opfer fiel“. Die wird im Mai 1932 auf den Studenten aufmerksam, als er an einer Versammlung der „Gemeinschaft zur Wahrung wirtschaftlicher Belange“ teilnimmt. Was es mit dieser Gruppierung auf sich hatte, konnte Seubert nicht klären. Bekannt sind die Folgen: Die Bayrische Politische Polizei (BPB) setzt den 20-Jährigen auf die Liste kommunistischer Studenten.
Fortan ist Arthur Kahn, der Jude und mutmaßliche Kommunist, in größter Gefahr. Am 30. Januar 1933 vereidigt Reichspräsident Paul Hindenburg Adolf Hitler als Reichskanzler. Am 9. März übernehmen die Nationalsozialisten in Bayern im Handstreich die Macht. Am selben Tag erzwingen Würzburgs zukünftiger OB Theo Memmel und NS-Gauleiter Otto Hellmuth das Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Würzburger Rathaus. Am 10. März besetzen SA-Einheiten Festung, Residenz und Faulenberg-Kaserne, stürmen Zeitungsverlage, Parteizentralen und das Gewerkschaftshaus, verhaften Kommunisten und Mitglieder des sozialdemokratischen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Kahn ist nicht in der Stadt, er verbringt seine Osterferien in Nürnberg. Aber das rettet ihn nicht. Die Nürnberger Polizei verhaftet ihn. Am 16. März 1933 exmatrikuliert ihn die Uni.
Nicht weit von München, auf dem Gelände der stillgelegten Königlichen Pulver- und Munitionsfabrik Dachau, lässt der Reichsführer–SS Heinrich Himmler ein Konzentrationslager für politische Häftlinge einrichten. Am 22. März kommen die ersten Häftlinge an. Am 11. April ist Kahn einer der Häftlinge, die von der Landespolizei Nürnberg auf einem Lkw ins KZ Dachau gebracht werden. Am selben Tag übernimmt die SS das Lagerregime.
KPD–Funktionär aus Nürnberg?
Auf der Transportliste der Politischen Polizei Nürnberg steht, Kahn sei ein kommunistischer Funktionär. Der Forscher Seubert widerspricht. Er habe in den Archiven von Universität und Stadt Würzburg keine Hinweise auf eine politische Betätigung Kahns gefunden. Er glaubt, Kahn sei „das Opfer der Hetzjagd gegen jüdische Studenten, die die Würzburger NS-Studentenschaft schon vor der Machtergreifung betrieb“. Im Aufsatz „Mein lumpiges Vierteljahr Haft“ veröffentlicht er aber auch, was Herbert N. Kahn 1993 über seinen Bruder schrieb: Er sei „sehr tätig in der Antinazi-Studentenbewegung in Würzburg gewesen“. Herbert N. Kahn beschreibt Arthur als „sehr intelligent“, in Debatten sei er „gewöhnlich der Gewinner gewesen“.
Der kommunistische Reichstagsabgeordnete Hans Beimler aus München, der Ende April 1933 ins KZ Dachau gebracht wird und nach knapp zwei Wochen flieht, nennt Kahn einen KPD-Funktionär aus Nürnberg. Von Kahn als Jung-Kommunisten aus Nürnberg spricht auch der Nürnberger KPD-Mann Willi Gesell, der im KZ Dachau gefangen war. In „Das andere Nürnberg“ berichtet er über Kahns letzte Stunden.
Demnach schaufelten er, Arthur Kahn und die jüdischen Häftlinge Alfred Benario aus Nürnberg, Ernst Goldmann aus Fürth und Erwin Kahn aus München (Gesell nennt den Münchner fälschlicherweise Strauß) von früh um sieben bis mittags um zwölf Unrat, angetrieben von den Schlägen der SS-Aufseher. Dann habe der SS-Sturmführer „Erbsmeier“ (richtig: Erspenmüller) Arthur Kahn und die anderen drei abführen lassen. „Kurz darauf heulten die Sirenen und wir mussten in die Baracken flüchten. Da hörten wir Gewehrschüsse – die Kameraden kamen nicht wieder. Am anderen Morgen sagte Scharführer Vogel, sie seien ,auf der Flucht erschossen worden‘.“
„Auf der Flucht erschossen“
Der Staatsanwalt Josef Hartinger untersuchte die Morde. Er notierte, Benario, Goldmann und Erwin Kahn lagen „tot beziehungsweise schwer verletzt in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes, Arthur Kahn lag etwa 80 Meter von der Arbeitsstelle entfernt im Gehölz. Die drei SS-Leute gaben an, deshalb gefeuert zu haben, weil Arthur Kahn, Benario und Goldmann geflüchtet seien. Erwin Kahn sei ihnen in das Feuer gelaufen.“ Kahns Bruder schrieb dazu in einem Brief an das Stadtmuseum Erlagen: „Es wurde meiner Mutter mitgeteilt, dass Arthur auf der Flucht erschossen wurde. Das ist eine Lüge, zumal alle vier Personen Schüsse in der Stirn hatten.“
Ein Münchner Gerichtsarzt trug als Todesursache „Kopfschuss, Gehirnlähmung“ in den Totenschein ein. Todeszeitpunkt: „nachmittags 17 Uhr“. Am 15. April habe die Stadt Dachau die Überführung des Leichnams nach Nürnberg, Neuer israelitischer Friedhof, angeordnet, auf Kosten der Familie.
Staatsanwalt Hartinger stellte die Ermittlungen auf Druck der SS ein. Die Mörder wurden nie zur Rechenschaft gezogen.