
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten hat sich der Künstler Gunter Demnig (74) zur Lebensaufgabe gemacht. Zu diesem Zweck verlegt er seit fast drei Jahrzehnten sogenannte Stolpersteine, die an das Schicksal der Betroffenen erinnern. Mit den rund 80 000 Stolpersteinen, die Demnig mittlerweile in 27 europäischen Ländern verlegt hat, dürfte er das wohl größte dezentrale Mahnmal der Welt geschaffen haben.
In Gemünden erinnern auf Initiative von Ulf Fischer bereits seit dem Jahr 2009 sechs Stolpersteine an ehemalige jüdische Mitbürger, die von den nationalsozialistischen Machthabern in der Zeit des Dritten Reiches ermordet worden waren.
Stolpersteine erinnern an die Opfer
Eines dieser Opfer ist Fanny Weinberg, geborene Kahn, deren Stolperstein vor ihrem ehemaligen Haus an der Obertorstraße 26 zu finden ist. Am Mittwoch setzte Gunter Demnig dort zwei weitere Stolpersteine ins Straßenpflaster ein: je einen für Fanny Weinbergs Sohn Nathan und dessen Onkel Arthur Kahn.
Dass es dazu kam, ist der Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern des Gemündener Friedrich-List-Gymnasiums zu verdanken. Als diese sich in einem Seminar unter Leitung ihres Latein- und Französischlehrers Jürgen Endres mit Gemündener Opfern der Nationalsozialisten befassten, fiel ihnen auf, dass am ehemaligen Haus der Familie Kahn/Weinberg nur ein Stolperstein für Fanny Weinberg zu finden ist, jedoch keiner für ihren Sohn Nathan.
Intensive Recherchen der Schülerinnen und Schülern
Durch intensive Recherchen fanden die Schülerinnen und Schüler heraus, dass Nathan am 3. Dezember 1935 in Würzburg als Sohn der Eheleute Fanny und Harry Weinberg zur Welt gekommen war. Als Nathan ein knappes Jahr alt war, zog die Familie von Gemünden nach Thüngen, wo der Vater eine private Volksschule leitete. Im April 1938 zog die Familie nach Frankfurt. Während der Vater wohl das Land verlassen hat, waren Mutter und Sohn bis 1941 in der hessischen Großstadt gemeldet. Nach ihrer Deportation in das Ghetto von Minsk wurden beide am 12. November 1941 in einem Konzentrationslager ermordet.

Nicht weit von dem Stolperstein für Nathan Weinberg entfernt erinnert auf Initiative des "Klubs Rassismus ablehnender Schülerschaft" des Friedrich-List-Gymnasiums seit einiger Zeit an ihn noch ein Kinderrucksack aus Beton. Dieser ist dort zu finden, wo einst die Synagoge stand. Auch ein Bild von Nathan ist dort zu sehen.
Schwere Schicksale wurden aufgearbeitet
Intensiv auseinandergesetzt haben sich die Schülerinnen und Schüler auch mit dem Schicksal von Arthur Kahn, einem Onkel Nathan Weinbergs. Kahn wurde am 15. Dezember 1911 in Mittelsinn geboren. Seine Eltern Levi und Marta Kahn betrieben 1933 in der Gemündener Hauptstraße (im heutigen Anwesen Obertorstraße 26) ein Einzelhandelsgeschäft. Sohn Arthur Kahn studierte ab dem Sommersemester 1932 in Würzburg Medizin. Den Recherchen der Schülerinnen und Schüler zufolge wurde Arthur Kahn am 12. April 1933 erschossen. Offiziell hieß es, bei der Flucht aus dem Konzentrationslager Dachau.
Das Einsetzen der Stolpersteine für Arthur Kahn und Nathan Weinberg – die Patenschaft hat in beiden Fällen das Gemündener Friedrich-List-Gymnasium übernommen – ging einher mit einer feierlichen Gedenkveranstaltung, an der rund 70 Personen teilnahmen.
Vorbildliches Engagement der Schülerinnen und Schüler
Neben Vertretern der Stadt Gemünden und des Friedrich-List-Gymnasiums waren auch 16 Nachkommen der Familie Kahn/Weinberg mit dabei, die aus den USA und Israel angereist waren, sowie Timothy W. Ryback, Mitbegründer des Instituts für historische Gerechtigkeit und Versöhnung in Den Haag und Autor des Werkes "Hitler's first Victims" (Hitlers erste Opfer). Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier von einem Schülerinnenchor unter Leitung von Michael Albert.
Gemündens Bürgermeister Jürgen Lippert hob "das vorbildliche Engagement" der Schülerinnen und Schüler des Friedrich-List-Gymnasiums bei diesem Projekt hervor. Schnell sei klar geworden, dass die Stolpersteinverlegung der Familie viel bedeute. Mattie Kahn, die Großnichte Arthur Kahns, habe alle Hebel in Bewegung gesetzt und es tatsächlich geschafft, "dass zur heutigen Verlegung 16 Familienmitglieder aus den USA und zum Teil aus Israel nach Gemünden angereist sind". Dafür, so Lippert, sei er dankbar.
Jüdisches Leben in Deutschland hat eine lange Geschichte
Das jüdische Leben in Deutschland könne auf eine 1700-jährige Geschichte zurückblicken, so der Bürgermeister. Es sei eine Geschichte der Blüte, aber auch der Demütigung und Verfolgung. Die Stolpersteine sollen laut Lippert "wachhalten" und – auch in Bezug auf die Probleme unserer Zeit – an die menschenverachtenden und grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern. Der zunehmende Antisemitismus sei erschreckend.
Die Stolpersteinverlegung sei "mit Würde und Verantwortung" erfolgt, lobte Timothy W. Ryback die Gemündener Akteure. Er gab zu bedenken, dass Geschehnisse wie damals sich in ähnlicher Form wiederholen könnten und forderte gleichzeitig dazu auf, aufzupassen, dass dies nicht geschieht. Auch mehrere Familienmitglieder ergriffen kurz das Wort.