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Würzburg
Wieder Medikamentenmangel im Winter: Was tun gegen die Lieferengpässe in Deutschland, Frau Prof. Holzgrabe?
Arzneimittel werden knapp, warnt die Würzburger Professorin Ulrike Holzgrabe. Die Pharmazeutin sagt: Die Politik macht zu wenig – und das falsche. Was jetzt zu tun wäre.
Im Winter drohen erneut Lieferengpässe bei Medikamenten. Dagegen anzugehen funktioniere nicht so schnell, wie es die Politik verspricht, warnt die Würzburger Pharma-Professorin Ulrike Holzgrabe.
Foto: Benjamin Brückner | Im Winter drohen erneut Lieferengpässe bei Medikamenten. Dagegen anzugehen funktioniere nicht so schnell, wie es die Politik verspricht, warnt die Würzburger Pharma-Professorin Ulrike Holzgrabe.
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 15.07.2024 12:53 Uhr

In Deutschland fehlen auch in diesem Winter wieder Arzneimittel. Schon vor einem Jahr sorgten Lieferengpässe für massive Probleme, die Politik versprach Abhilfe. Jetzt warnt Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin am Lehrstuhl für Pharmazie und Medizinische Chemie der Uni Würzburg: "Ich glaube nicht, dass es so einfach wird, das zu ändern."

Holzgrabe analysiert in einem aktuellen Forschungsprojekt mit Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften globale Lieferketten und Abhängigkeiten in der Medikamenten-Produktion – und sucht nach Wegen, um Engpässe künftig zu verhindern. Im Gespräch erklärt die Pharmazeutin, wie das funktioniert, warum die Ideen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unrealistisch sind und was sie vom Medikamenten-Horten hält.

Frage: Frau Holzgrabe, im letzten Winter sorgten Lieferengpässe für Lücken in der Arzneimittelversorgung. Ist Deutschland heute besser gerüstet?

Prof. Ulrike Holzgrabe: Wir stehen genauso da wie letztes Jahr und ich glaube nicht, dass es so einfach wird, das zu ändern. Selbst in der Pharmastrategie von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach steht wortwörtlich, dass wir diesen Winter wieder ein Problem haben werden.

Nach dem Willen der Politik sollen Engpässe durch Lagerhaltung verhindert und langfristig die Medikamenten-Produktion zurück nach Europa geholt werden. Das klingt …

Holzgrabe: … gut, wird aber kaum gelingen. Die von Herrn Lauterbach angekündigte Lagerhaltung wird nicht funktionieren, weil wir nichts haben, was wir ins Lager legen könnten. In diesem Winter werden wir damit leben müssen, uns in Europa gegenseitig auszuhelfen und Medikamente umzuverteilen.

Warum ist es bisher nicht gelungen, gegen die Engpässe anzugehen? Ist die Abhängigkeit von China noch immer das Hauptproblem?

Holzgrabe: Das ist ein Problem, weil wir keine Kontrolle über die Produktion in China haben. Wenn die Chinesen sich entscheiden, ein Medikament nicht zu liefern, haben wir das nicht. Und wenn man die weltpolitische Lage sieht, ist das sicher heute gefährlicher als vor ein paar Jahren. Entscheidend ist, dass es in Europa zu wenig Produktionsstätten für Medikamente gibt. Wir kaufen die Wirkstoffe in China und machen daraus Tabletten oder die Chinesen verkaufen die Wirkstoffe an Indien und wir kaufen die dort produzierten Medikamente. So sehen die Lieferwege heute aus.

Wie viel wird in Europa selbst denn produziert?

Holzgrabe: Wir stellen in Europa nur etwa 30 Prozent der Arzneiprodukte her. Aber um wieder mehr bei uns produzieren zu können, fehlen allein schon die Grundstoffe. Auch hier greifen wir auf Produkte aus China zurück. Herr Lauterbach hat kürzlich im Fernsehen gesagt, er wolle auch die Feinchemikalien-Produktion zurückholen. Das halte ich jedoch für unrealistisch. In China sind die Umweltauflagen wesentlich niedriger und die Produktionskosten deutlich geringer.

Wie lässt sich die Situation verbessern?

Holzgrabe: Die absolute Unabhängigkeit sehe ich ehrlich gesagt nicht. Aber es gibt Möglichkeiten. Bis vor einigen Jahren gab es in Frankfurt zum Beispiel eine Anlage, in der Cephalosporine, das ist eine wichtige Gruppe von Antibiotika, hergestellt wurden. Die Produktion wurde aus Kostengründen stillgelegt. Wenn diese Anlage reaktiviert würde, könnten wir bei diesen Antibiotika relativ schnell unabhängig werden. Solche Beispiele gibt es bundesweit einige. Genau hier muss man ansetzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass nicht noch mehr Industrie abwandert.

Am 2. November in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz: Die Würzburger Pharmazie-Professorin Ulrike Holzgrabe in der Diskussion mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
Foto: ZDF/Markus Hertrich | Am 2. November in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz: Die Würzburger Pharmazie-Professorin Ulrike Holzgrabe in der Diskussion mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
Mit Kollegen aus den Wirtschaftswissenschaften der Uni Würzburg suchen Sie jetzt quasi nach einer Anleitung für die Politik, um die Medikamentenengpässe in den Griff zu bekommen?

Holzgrabe: Das ist genau das, was wir wollen. Im ersten Schritt untersuchen wir dazu die Lieferwege, von der Synthese bis zur fertigen Tablette in der Pappschachtel. Nach dieser Analyse wird berechnet, wie teuer die Produktion in China ist und wie viel sie in Deutschland kosten würde. So sieht man zum Beispiel bei Penicillin: Die Behandlung über einen Zyklus, also zehn Tage, kostet etwa 20 Cent mehr bei Produktion in Deutschland als in China. Bei anderen Medikamenten, die länger oder lebenslang eingenommen werden, kann das natürlich mehr werden. Diese Grunddaten sammeln wir.

Und dann?

Holzgrabe: Nach der Analyse wollen wir in einem Stresstest untersuchen, was passiert, wenn nicht mehr genug von einem Ausgangsstoff oder Medikament vorhanden ist. Wir wollen herausfinden, wann wir den Lieferengpass merken und ab wann eine Therapie nicht mehr möglich ist. Es geht also darum, eine Strategie zu entwickeln, um Engpässe frühzeitig zu erkennen und zu verhindern oder gegenzusteuern. 

Wie lange wird es dauern, bis es keine Lieferengpässe mehr gibt – oder werden wir das nie wieder erreichen?

Holzgrabe: Wichtig wäre, dass wir die Ursache der Engpässe bekämpfen – und da sehe ich nicht, dass Herr Lauterbach das tut. Letztlich hat das System der Krankenkassen mit Rabattverträgen und Festbeträgen dazu geführt, dass wir nicht mehr genug Produktionsstätten haben. Anfang des Jahrtausends wurden damit wirkungsvoll die Preise gedrückt. Damals haben sich auf Ausschreibungen der Kassen für Belieferungsverträge mehrere Pharmafirmen beworben, die günstigste bekam den Zuschlag. Wer leer ausging, musste sich überlegen, ob er überhaupt weitermacht. Die Folge: Heute gibt es nur noch wenige Produzenten in Deutschland. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir das Rad überdreht haben. Deshalb muss auch das Preissystem der Krankenkassen überarbeitet werden – sonst wird niemand in Europa eine neue Produktion aufbauen.

Was heißt das für Patienten? Sollte man Medikamente sparen oder sich einen Vorrat anlegen?

Holzgrabe: Horten sollten wir nicht, das ist ganz falsch. Umgekehrt ist klar: Wenn ich eine Infektion habe und der Arzt verschreibt mir ein Antibiotikum, dann brauche ich das und daran kann man auch nicht sparen. Jeder Einzelne sollte schlicht verantwortungsvoll mit Medikamenten umgehen.

Das heißt, Angst vor dem Winter muss niemand haben?

Holzgrabe: Nein, man muss aus Angst vor fehlenden Medikamenten keine Panik verbreiten. Aber wenn sich jeder gegen Grippe, Corona und andere Infektionskrankheiten impfen lassen würde, und man auf diese Weise Superinfektionen verhindern könnte, wäre schon viel gewonnen.

Forschungsprojekt EThICS: Stresstest für Medikamente

Wie die Produktion von Arzneimitteln in die EU zurückgeholt werden kann und was dies kostet untersuchen Wissenschaftler der Uni Würzburg jetzt im Forschungsprojekt EThICS (Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union).
Ziel ist es, stabile Lieferketten für die Medikamentenversorgung zu finden. Dazu analysiert die interdisziplinäre Forschungsgruppe ausgewählte Lieferketten von Rohstoffgewinnung über Produktion bis zum Vertrieb. Sie entwickelt Alternativen mit höherer Versorgungssicherheit und bewertet die wirtschaftlichen Folgen für das Gesundheitssystem. Am Ende soll es Handlungsempfehlungen für die Politik geben. 
Zum Forschungsteam gehören Leiter Prof. Richard Pibernik vom Lehrstuhl für Logistik und quantitative Methoden in der BWL, Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für Pharmazeutische und medizinische Chemie, sowie Prof. Andrea Szczesny vom Lehrstuhl für Controlling und Interne Unternehmensrechnung.
Quelle: Uni Würzburg/sp
 
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  • Georg Wohlfart-Mitznegg
    Solange die Verlagerung von Produktion,
    und damit auch die Auslagerung von umweltschädlichen Prozessen, ins Ausland, bei Medikamenten speziell nach China und Indien, für deutsche und europäische Pharmafirmen ein Gewinn war, und alles schon billig, solange war Globalisierung gewünscht und alternativlos.

    Jetzt merkt man langsam die Schattenseiten derartiger Politik und schon ist der Sündenbock ausgedeutet: der derzeitige Bundesgesundheitsminister!

    Die Leute, die so eine Sch.... -Politik zu verantworten haben,und diejenigen, die sich damit schamlos bereichert haben, die konnten ja die Folgen ihres Treibens nicht absehen!

    Herzlichen Glückwunsch!
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  • Silke Müller
    Ich finde es auch schäbig, alles was im Gesundheitswesen schief läuft, einem Minister in die Schuhe zu schieben, der gerade mal 2 Jahre im Amt ist.
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