
Am Samstag soll in Würzburg unter dem Motto "Diplomatie statt Waffen" der zweite Ostermarsch im Zeichen des russischen Angriffskriegs stattfinden. Wegen ihrer Ablehnung von militärischer Hilfe für die Ukraine und einseitiger Schuldzuweisungen an den Westen wurden die Märsche der Friedensbewegung im vergangenen Jahr stark kritisiert. Wie hat sich das Selbstverständnis der Beteiligten seitdem verändert? Und wie blicken ehemalige Beteiligte auf eine politische Bewegung, der sie sich nun nicht mehr zurechnen?
Ehemaliger Linken-Stadtrat Sebastian Roth: "Putin-Versteher" hat mich getroffen

Das Jahr, das seit Putins Angriff gegen die Ukraine vergangen ist, war für mich extrem unschön. Ich war nicht davon ausgegangen, dass er tatsächlich angreift, denn ich habe Putin für einen klug berechnenden Machtpolitiker gehalten. Wegen meiner Falschannahme wurde ich als "Putin-Versteher" verunglimpft, das hat mich getroffen, aber an meiner Position zur Notwendigkeit von Verhandlungen hat es nichts geändert. Ich bin weiterhin überzeugt, dass man mit Waffenlieferungen nicht für echten Frieden in der Ukraine sorgen kann. Im öffentlichen Diskurs muss man sich inzwischen geradezu rechtfertigen, wenn man für Verhandlungen ist. Das befremdet mich, denn jeder Tag, an dem nicht verhandelt wird, ist ein Tag, an dem Menschen sterben.
Gesprächen mit meinem Umfeld, zu dem auch Menschen außerhalb der Friedensbewegung gehören, entnehme ich generell den Wunsch nach Frieden. Die Gründe – nämlich die Rettung von Menschenleben – sind dieselben, nur die Vorstellung vom richtigen Weg unterscheidet sich. Aufgrund ihrer konsequenten Ablehnung von Waffenlieferungen wurde der Friedensbewegung Nähe zur AfD unterstellt, dem widerspreche ich jedoch: Wir wollen Frieden für die Betroffenen, die AfD hingegen hat Verständnis für Putins Beweggründe und stört sich an Geflüchteten in Deutschland. Ich denke daher nicht, dass die Friedensbewegung, die aktuell kein Sprachrohr in der Gesellschaft hat, ihre Positionen ändern muss: Zum ersten Mal sieht die Gesellschaft, wie widerwärtig jeder Krieg ist. Davon spricht die Friedensbewegung seit Langem, die Gesellschaft hat davor jedoch die Augen verschlossen.
Politikerin Simone Barrientos aus Ochsenfurt: Forderungen der Linken ähneln denen der AfD

Als Kind sang ich Lieder über den Frieden, die kleine weiße Friedenstaube war mir mehr als ein Symbol. Ich wuchs in der DDR auf. Als Jugendliche trug ich den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" und wurde dafür einst auf dem Alexanderplatz verhaftet. Auch in der DDR gab es eine Friedensbewegung. Und auch die war nicht nur pazifistisch. Sie war im Kern antimilitaristisch. Es gehörte Mut dazu, sich der atomaren Aufrüstung entgegenzustellen. Die Friedensbewegung aus dem Westen erlebte ich als überheblich uns gegenüber. Man erklärte uns die Welt. Diese Arroganz kennen auch die progressiven Bewegungen in Osteuropa und auch im globalen Süden. Auf die Frage, was tun, wenn der Krieg zu uns kommt, hatten der propagierte Pazifismus nie eine Antwort, die mich überzeugt hätte.
Pazifist zu sein, ist eine persönliche Entscheidung. Man kann sie nicht für andere treffen. Und man muss sich ehrlich machen. Wer Hilfe verweigert, fordert Unterwerfung, so wie der Aggressor. Wer der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zugesteht, der ist kein Kriegstreiber. Wer meint, dass Unterwerfung den Krieg beendet, der verkennt, dass Menschen, die in einer Diktatur leben, eben nicht in Frieden leben. Es ist verheerend, dass die Forderungen von Teilen der Linken sich nicht unterscheiden von AfD-Forderungen. Die gesellschaftliche Linke und die Friedensbewegung täten gut daran, jetzt Debattenräume zu bieten für all die, denen die alten Antworten nicht genug sind, für all die, denen es wirklich um Frieden geht, nicht um Unterwerfung.
Ökopax-Gründerin Katharina Schmelter: Gegen militärische öffentliche Diskursverengung

Ich hatte einen Vater, der beide Kriege bewusst miterlebt und auch darüber gesprochen hat. Der Krieg und seine Verheerungen waren ein Thema bei uns zu Hause. Das hat sich während des Studiums fortgesetzt, als mit der Stationierung der SS-20 und dem Nato-Doppelbeschluss die Sorge vor einer militärischen Auseinandersetzung und der atomaren Bedrohung wuchs. Es gab damals große Demonstrationen in Bonn und auch Blockadeaktionen in Würzburg. Bei einer war ich beteiligt und wurde dafür auch verurteilt. In der Friedensgruppe Ökopax, in der ich mich seit fast 40 Jahren engagiere, geht es uns darum, sichtbar zu machen, dass es Zusammenhänge gibt zwischen den verschiedenen Herausforderungen unserer Zeit: zwischen Armut und Verschwendung, Ressourcenknappheit, Klimakatastrophe, ungerechten Wirtschaftsbeziehungen, Flucht und Krieg.
Alle diese Themen sind wichtig – unser Schwerpunkt liegt auf gewaltfreier Konfliktbearbeitung und darauf, eine Gegenstimme zur Forderung nach immer mehr Waffen zu sein. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und das damit verbundene Leid der Bevölkerung hat uns erschüttert und uns in unseren Positionen zunächst verunsichert. Unsere Frage ist, wie dem Töten am wirkungsvollsten Einhalt geboten werden kann. Während wir eine öffentliche Diskursverengung auf scheinbar alternativlose militärische Antworten erleben, ist es uns wichtig, in der Diskussion auch andere Stimmen zu Gehör zu bringen, die eine Chance für Frieden durch Waffenstillstand und Verhandlungen fordern.
Grünen-Bürgermeister Martin Heilig: Würzburger Ostermarsch sollte Appell an Putin sein

Ich bin seit 30 Jahren bei den Grünen und habe zur Zeit der Jugoslawienkriege die Grüne Jugend in Würzburg mitbegründet. Ein Schlüsselmoment zum Thema Friedenspolitik war für mich eine Podiumsdiskussion auf dem Katholikentag 1995 in Dresden mit dem damaligen Bischof der Stadt Banja Luka, die damals unter Beschuss stand, und Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde. Der Bischof schilderte die Kriegsgräuel und Bubis sagte mir danach in einem Gespräch, dass er es für eine Schande für Europa halte, dass wir die Gräuel nicht mit Waffengewalt unterbunden hätten. Das Gespräch hat mich sehr bewegt und im Nachgang habe ich mit der Grünen Jugend mehrmals Hilfstransporte nach Jugoslawien organisiert.
Aber ehrlich gesagt, war ich nie ein reiner Pazifist, obwohl mir alles Militärische immer sehr fremd war. Mir ging es immer um Menschenrechte und mir war bereits früh klar: Im schlimmsten Fall müssen Menschenrechte auch mit Waffengewalt verteidigt werden, das hat etwa das Massaker von Butscha im vergangenen Jahr gezeigt. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ich fürchte, der generalpazifistischen Friedensbewegung fehlt die Vorstellung für das Böse. Putin ist der Aggressor und könnte den Krieg jederzeit beenden, deswegen verstehe ich den unbedingten Ruf nach einseitigen Verhandlungen nicht. Die Friedensbewegung hat dennoch eine wichtige Rolle für unsere Gesellschaft. Sie sollte Diskursräume für friedliche Lösungen aufmachen, ohne sich der Realität zu verschließen. In diesem Sinne sollte der diesjährige Ostermarsch ein Appell an Putin sein, den Krieg zu beenden.
Aktivistin Eva Peteler vom Florakreis Würzburg: Kompromisse statt "totaler Sieg"

Ich empfinde es durchaus als Privileg, biografisch beide politischen Systeme kennengelernt zu haben, das ehemalige kommunistische und das westliche, mit ihrem jeweils kultivierten Gut-Böse-Weltbild. Mein politischer Weckruf war der völkerrechtswidrige Jugoslawienkrieg, im Nachkriegsdeutschland der erste militärische Tabubruch. Vielseitige Informationsquellen haben meinen Blick für die Heuchelei und Hybris des US-dominierten Westens geschärft; dessen eigene Angriffskriege entziehen sich der Schuldfrage, mit der man den Aggressor im Ukrainekrieg konfrontiert. Unabhängig davon: Jedes Menschenleben in jedem Kriegsland ist ein umgehendes Ringen um Waffenstillstand und Kompromisse bei Friedensverhandlungen wert, anstatt auf den totalen Sieg zu setzen.
Trotz allen Gegenwinds und aller Diffamierungen sehe ich – gerade jetzt – die Aufgabe der Friedensbewegung darin, sich gegen den als alternativlos propagierten Militarismus zu stellen. Doch wieviel Aufmerksamkeit wird in Medien und Politik den vielerorts bewährten Formen ziviler Konfliktprävention und gewaltfreier Friedenssicherung geschenkt, auch dem zivilen Widerstand in der Ukraine? Wieviel Raum nimmt die Frage ein, wie wir Sicherheitsbedürfnisse anderer Staaten beachten, wie wir uns eine friedliche gemeinsame Zukunft vorstellen und was wir bereit sind, dafür zu tun und zu lassen? Die Positionen und die Expertise der Friedensbewegung mit ihren Gegenentwürfen zur militärischen Eskalation sollten endlich ernst genommen und gehört werden.
Freischaffender Journalist Wolfgang Jung: Keinen Frieden mit Faschisten!

Die Szene, die sich heute Friedensbewegung nennt, hat mit der alten Friedensbewegung aus der Zeit des Kalten Krieges kaum noch etwas gemein. Anfang der 1980er Jahre war sie in Würzburg eine große heterogene, auch intern sehr streitbare Mischung aus christlichen, kommunistischen, pazifistischen, anarchistischen und feministischen Gruppen, Initiativen und Parteien, dazu der DGB und einige Gewerkschaften. Ich war mittendrin und habe mitgestritten. Anderswo hat das nicht anders ausgesehen. Leute, die von Rechtsradikalen verehrt und umworben werden, wie Sahra Wagenknecht heute, hätten wir nicht unter uns geduldet.
Die Lehre aus Nazi-Herrschaft und Weltkrieg lautete: "Nie wieder Faschismus!" als Voraussetzung für "Nie wieder Krieg!". Was heute als Friedensbewegung firmiert, ist viel kleiner als vor 40 Jahren, viel homogener und – was damals absolut undenkbar war – offen nach rechtsaußen. Diese heutige – vermeintliche – Friedensbewegung hat den Teil mit dem Faschismus vergessen. Die ließe Putins Soldateska marschieren, wohin und wie weit auch immer. Aber mit Faschisten und sonstigen Menschenrechtsfeinden gibt es keinen Frieden. So widerwärtig mir Militarismus und Soldatentum sind, so sehr meine ich, dass Putins Killer aufgehalten werden müssen. Wenn die Menschen in der Ukraine militärische Unterstützung einfordern, müssen sie militärische Unterstützung bekommen.
Ich finde es seltsam, wie sich die "Laßt-mich-in-Frieden (meinen Sonntagsbraten essen und meinen Sekt trinken)-Fraktion" ihre Selbstbezogenheit schönredet und zum Unterwerfungspazifizmus im Dienste der eigenen Bequemlichkeit auffordert.
Nach Ihrer Logik wäre dann wohl auch Khashoggi nicht zerstückelt worden, wenn er nur besser verhandelt hätte. ((So wie unser Verhandlungsweltmeister Schröder???)).
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"Was machen Sie denn wenn einer Ihren Garten besetzt (falls Sie keinen haben stellen es sich einfach or) oder ihr Auto blockiert. Verhandeln Sie dann ergebnisoffen und machen Angebote?"
In so einem Fall würde ich keinesfalls zur Keule greifen, mir ein paar Kumpels als Unterstützer holen und in "Selbstjustiz" munter drauflosschlagen, sondern die Ordnungskräfte ihren Dienst tun lassen.
Allerdings keine selbsternannten eingenmächtige Ordnungskräfte sondern die dazu legitimierten.
Im Falle des Ukrainekrieges wäre die UN am Zuge. Aber derzeit gibt es da noch keine geschlossene Meinung, weil einige sehr wichtige Staat sich noch nicht eindeutig hinter die Ukraine und den Westen gestellt haben. Um überhaupt das zustande Kommen einer eher vage formulierten UN-Resolution zu ermöglichen, mußte die Ukraine zwei sehr bedeutende Text-Forderungen aufgeben.
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/un-vollversammlung-forderung-rueckzug-russland-ukraine-krieg-100.html
Grübeln über Vergangenes oder Ablehnen von Verantwortung hindert uns, unser Potenzial zu entfalten. "Was-wäre-wenn" Szenarien sind Fluchtmechanismen. Vergangenes kann nicht geändert werden. Veränderung und Verantwortung sind wichtig für persönliches Wachstum. "Lieber raushalten als Verantwortung übernehmen" zeigt Unsicherheit und Bequemlichkeit. Verantwortung erfordert Entscheidungen und Konsequenzen. Besser ist es, aus der Vergangenheit zu lernen, Verantwortung zu übernehmen und Herausforderungen anzunehmen.
Wie andere Kriegsunwillige vor mir auch bin ich lieber Sand im Getriebe als gut funktionierendes Rädchen in der altgewohnten Kriegsmaschinerie. Die politisch Verantwortlichen oder auch Unverantwortlichen sollen machen, was sie wollen - aber ohne mich und nicht in meinem Namen.
Es gibt nicht die einfachen Lösungen, wie sie von manchen Diskutanten hier beschworen werden. Wenn es so einfach wäre mit den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, hätten sie bereits stattgefunden.
großen gemeinsamen Partei vereinigen. Einen passenden Namen wird man schon finden.
Dann wüsste man als Wähler auch gleich, was man zu erwarten hat.
Die dauernden mehr oder weniger subtilen Appelle nun endlich meine vaterländische und gesamteuropäische Pflicht zu tun sind vergeblich.
In den ersten Nachkriegsjahrzehnten gab es natürlich noch eine Menge Revanchismus und starke reaktionäre und nationale Bestrebungen . Aber heute sind wir darüber schon lange hinweg.
https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/die-geschichte-der-doppelten-kolonialisierung-6185/
https://www.oaklandinstitute.org/ukraine-die-%C3%BCbernahme-der-landwirtschaft-durch-westliche-unternehmen
Die Ukrainer haben die Wahl zwischen dem blutigen russischen Neo-Imperialismus und dem westlichen als reinen Altruismus getarnten Neo-Liberalismus der auch leicht in Wirtschaftskolonialismus umschlagen kann, wenn immer mehr Kapital in Krieg und Wiederaufbau investiert werden musss.
Wir und die EU werden wohl weiter Zahler bleiben, aber die US-Konzerne richten ihre Strategie nicht ausschließlich an Humanismus und selbstloser Menschenliebe aus.
Selbst wenn der Krieg mit einem triumphalen Sieg der Ukraine enden sollte, beginnen die Probleme dann erst richtig.
"Wer den Krieg verloren hat wie Deutschland hat nix zu fordern."
... und sollte eigentlich ein für alle mal genug vom Krieg haben und sich aus kriegerischen Auseinandersetzungen raushalten.
Es bedurfte generationenlanger Erinnerungs- und Aufarbeitungsanstrengung um den deutschen Militarismus aus den Köpfen der Menschen herauszubekommen und wenigstens ansatzweise eine Zivilgesellschaft zu erreichen, die über das primitive Haudrauf-Denken hinaus ist.
Das will ich nicht wieder durch aufkeimende Kriegbegeisterung und eine Rückkehr zur Devise "Krieg ist Politik mit anderen Mitteln" gefährdet sehen.