Monatelang hat die Diskussion ums Klima die Schlagzeilen beherrscht. Dann kam Corona, der Umweltschutz rückte in den Hintergrund. Nur: Die eine Krise hat die andere nicht abgeschafft. Würde die Politik wie bisher weitermachen, wäre das "energiewirtschaftlich unsinnig", sagt Rainer Kleedörfer, Leiter Zentralbereich Unternehmensentwicklung beim mittelfränkischen Stromversorger N-Ergie. Kleedörfer ist Mitglied des bundesweiten "Initiativkreises NEP", dem mehrere Bürgerinitiativen aus der Region angehören und der sich gegen "überdimensionierten Netzausbau" wehrt. Im Gespräch erklärt er, warum Trassen wie SuedLink aus seiner Sicht nicht notwendig sind und die Energiewende ohne Umdenken der Politik scheitern wird.
Rainer Kleedörfer: Ich denke, dass es opportun ist. Denn die Öffentlichkeitsbeteiligung ist ein maßgeblicher Prozessschritt und in Corona-Zeiten nur eingeschränkt möglich. Deswegen ist die Forderung grundsätzlich richtig.
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Kleedörfer: Wenn man Energiewende möchte und die Klimaschutzziele erreichen will, dann ist es zu kurz gedacht, nur den Stromsektor zu betrachten. Man muss auch die anderen Sektoren, beispielsweise den Wärmemarkt oder den Mobilitätsmarkt, mitdenken.
Kleedörfer: Wenn ich den Sektor Strom isoliert denke, komme ich durchaus zu dem Ergebnis, dass wir im Norden Überschussstrom haben und diesen in den süddeutschen Raum transportieren müssen. Allerdings wird bei diesem Ansatz der Wärmemarkt, der vom Energieinhalt wesentlich größer ist, ausgeblendet. Zum Vergleich: Der Endenergieverbrauch im Wärmemarkt beträgt rund 49 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland, der Strommarkt etwa 21 Prozent. Auch die Wissenschaft sagt, dass die Herausforderung Energiewende nur dann gelingen kann, wenn wir sektorenübergreifend denken und handeln. Dann stellt sich die Frage: Braucht man den Übertragungsnetzausbau in der jetzt geplanten Dimension? Und man kommt ganz klar zu der Antwort: nein, in dieser Dimension nicht.
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Kleedörfer: Wenn man eine Rangfolge aufstellen müsste, was die dringlichsten Themen sind, um Klimaschutz nach vorne zu bringen, dann ist es zweifelsfrei der Ausbau der erneuerbaren Energien. Ohne einen massiven Ausbau, das zeigen alle Studien, funktioniert kein Ansatz zur Energiewende. Bei uns in der Region ist das vorrangig Photovoltaik, im Norden eher Windkraft.
Kleedörfer: Grundsätzlich sind in Bayern die Flächen für den Photovoltaik-Ausbau und auch Windkraftausbau vorhanden. Jedoch muss man dazu sagen, dass es nicht nur die Freifläche sein kann. Deshalb ist eine zentrale Forderung, dass Dachflächen künftig sowohl bei Neubauten als auch Sanierungen und sowohl im Wohnungs- als auch Gewerbebereich verpflichtend mit Photovoltaik belegt werden müssen. Das Potenzial auf den Dächern ist gewaltig. Man braucht aber auch den weiteren Ausbau der Windkraft. Da muss man gegen den Widerstand in Politik und Bevölkerung aufklären.
Kleedörfer: Befürworter des Übertragungsnetzausbaus argumentieren gerne, dass im Süden vor allem Photovoltaik vorhanden sei und es nachts beziehungsweise an bewölkten Tagen kaum Energieerzeugung aus diesen Anlagen gebe. Deswegen brauche es die Trassen, um Windstrom vom Norden in den Süden zu bringen. Das Argument kann man aber auch umkehren und gegen die Trassen verwenden: Das Jahr hat rund 8700 Stunden, die Windkraftanlagen im Norden produzieren nur an etwa 3500 Stunden Energie. Auch im Norden muss ich die Frage beantworten, was passiert, wenn ich zu wenig erneuerbare Energie bekomme. Für diesen Fall brauche ich in den nächsten Jahren konventionelle Kraftwerke, als eine Art Übergangstechnologie, und im Kern sind das Gaskraftwerke. Denn die Trassen helfen nachweislich für die Windflauten nicht.
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Kleedörfer: Teilweise wird man auch neue Gaskraftwerke bauen müssen. Es wird daraus trotzdem ein guter Ansatz, wenn man natürliches Erdgas sukzessive durch einen CO2-armen Stoff ersetzen kann – und das ist mit Wasserstoff möglich.
Kleedörfer: Hier kommt wieder der Wärmemarkt, die Sektorenkopplung, ins Spiel. In den vergangenen Jahren sieht man, dass immer mehr Immobilienbesitzer in Deutschland von Öl- zu Gasheizungen wechseln. Wird aber natürliches Erdgas in den Gebäuden verbrannt, wird CO2 ausgestoßen – was schlecht ist für das Erreichen der Klimaschutzziele. Also muss man überlegen: Wie kann ich dieses natürliche Erdgas künftig ersetzen? Da ist Wasserstoff der Favorit. Er muss technisch erzeugt werden, dafür brauche ich Strom. Und das kann kein Kohlestrom sein, sondern es muss Strom aus erneuerbaren Energien sein. Wenn ich dann einen Teil des von Windrädern erzeugten Stroms im Norden in Wasserstoff wandele, kann ich die vorhandene und bestens ausgebaute Erdgasleitungsstruktur für den Transport nutzen. Dann habe ich eine Lösung, die im Sinne von Klimaschutz und Energiewende viel besser ist, als nur überdimensionierte Stromtrassen zu bauen. Es wird trotzdem nötig sein, das Stromnetz punktuell auszubauen – aber nicht in der geplanten Größenordnung.
Kleedörfer: Das ist kaum zu prüfen, denn die Berechnungen der Bundesnetzagentur sind teilweise nicht öffentlich zugänglich. Es wird seit Jahren gefordert, das zu ändern. Allerdings weigert sich die Bundesnetzagentur bisher beharrlich. Hinzu kommt: Die Bundesnetzagentur und die Netzbetreiber denken nahezu ausnahmslos in ihrem Stromsystem.
Kleedörfer: Ich glaube, dass die Forderung nach Sektorenkopplung bei vielen Politikern zumindest im Hinterkopf Gehör findet. Aber wir kommen aus einer Historie, bei der Gesetze ausschließlich auf die einzelnen Sektoren abgestimmt wurden. Und es gibt vermutlich auch das starke Interesse, erst einmal das Beschlossene umzusetzen. Würde man jetzt nachjustieren, würde das Zeit kosten, aber den Verbrauchern hohe Ausgaben ersparen. Und man müsste eingestehen, dass vielleicht die bisherigen politischen Entscheidungen und Gesetzesnormen Nachbesserungen brauchen.
Kleedörfer: Die Trassen verhindern könnte nur der Bundestag, wenn er die entsprechenden Rechtsnormen ändern würde. Aus meiner Sicht wäre es wirklich bedauerlich, wenn man die Trassen bauen würde. Bedauerlich und teuer: Die mir bekannte Kostenschätzung geht von 95 Milliarden Euro für den Ausbau der Übertragungsnetze aus. Das wird aber vermutlich nicht reichen, da zum Beispiel die Kosten für den Tiefbau stark gestiegen sind. Die Refinanzierung müsste der Bürger tragen. Wenn man dann feststellt, dass trotz der Trassen die Ziele der Energiewende nicht erreicht werden können, bleibt die Frage: Warum wurden sie gebaut? Nur dann ist es leider zu spät. Zudem wird man weitere Technologien aufbauen müssen und auch diese Kosten werden die Bürger zahlen müssen. Würde man jetzt also einfach so weiter machen, wäre das volkswirtschaftlich ein Fiasko, energiewirtschaftlich unsinnig und für den Klimaschutzeine Fehlentwicklung.
In einer früheren Version dieses Artikels war von einer Kostenschätzung in Höhe von 95 Millionen Euro für den Ausbau der Übertragungsnetzwerke die Rede. Tatsächlich sind es aber 95 Milliarden Euro. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Das sollte richtiggestellt werden.