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Würzburg
Prozess zur Würzburger Messerattacke beginnt: Wie ein Mädchen, ein Notarzt und ein Augenzeuge die Tat erlebten
Eine Therapie hat ihnen geholfen, jetzt sprechen sie über die traumatischen Erlebnisse des 25. Juni 2021. Drei Betroffene der Würzburger Messerattacke berichten.
Polizeipräsenz und Blumen vor dem Kaufhaus in der Kaiserstraße in Würzburg kurz nach der Messerattacke: Am 25. Juni 2021 wurden dort drei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt.
Foto: Patty Varasano | Polizeipräsenz und Blumen vor dem Kaufhaus in der Kaiserstraße in Würzburg kurz nach der Messerattacke: Am 25. Juni 2021 wurden dort drei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:45 Uhr

Sie haben den Messerangriff am 25. Juni 2021 auf unterschiedliche Weise erlebt. Jetzt schildern sie im Gespräch mit dieser Redaktion das Unfassbare, das plötzlich in ihr Leben trat und es verändert hat. Zwei der drei Betroffenen äußern sich zum ersten Mal. Einer von ihnen, Gerhard Schwarzmann, hatte sich zuvor schon an die Öffentlichkeit gewandt.

Mit dabei bei den Gesprächen in der Praxis der Würzburger Traumatherapeutin Dr. Marion Schowalter ist Dr. Simone Schneider. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie leitet die Trauma-Ambulanz im Zentrum für Psychische Gesundheit in Würzburg.

Dr. Marion Schowalter, Psychologische Psychotherapeutin in Würzburg, bildete viele Kolleginnen und Kollegen in der EMDR-Akuttherapie weiter. Das Kürzel steht für 'Eye Movement Desensitization and Reprocessing', zu deutsch 'Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen'.
Foto: Thomas Obermeier | Dr. Marion Schowalter, Psychologische Psychotherapeutin in Würzburg, bildete viele Kolleginnen und Kollegen in der EMDR-Akuttherapie weiter.

Die beiden Frauen und ihre Kolleginnen der Trauma-Ambulanz haben in den vergangenen Monaten 20 traumatisierte Menschen zum Erstgespräch gesehen, zum Teil selbst behandelt und durch eine akute Therapie geholfen. Einige Patienten konnten sie durch das inzwischen große Netzwerk, das nach dem Messerangriff entstand, an ambulanten Traumtherapeuten in Würzburg weiterleiten, sagt Schowalter.

Dr. Simone Schneider, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet die Trauma-Ambulanz im Zentrum für Psychische Gesundheit in Würzburg. Bei Dr. Marion Schowalter bildete sie sich in der EMDR-Therapie weiter und behandelt damit traumatisierte Betroffene des Messerangriffs vom 25. Juni 2021.
Foto: Daniel Peter | Dr. Simone Schneider, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, leitet die Trauma-Ambulanz im Zentrum für Psychische Gesundheit in Würzburg. Bei Dr.

Die Zwölfjährige: Sie hat dem verletzten Kind, das die Mutter verlor, einen Brief geschrieben

Sie ist inzwischen zwölf Jahre alt. Die Redaktion kennt ihren richtigen Namen, aber sie möchte "Flora" genannt werden.

Am 25. Juni 2021 war Flora mit ihrer Freundin und deren Mutter beim Einkaufsbummel in der Kaiserstraße unterwegs. Sie hatten gerade das Bekleidungskaufhaus C&A verlassen, erzählt Flora. "Es kamen viele Leute auf uns zu gerannt." Dann sahen sie das Mädchen. Es saß weinend in einem Seiteneingang, war verletzt, mit einer Stichwunde am Rücken. "Ich habe das Blut gesehen", sagt Flora. Die Mutter ihrer Freundin leistete Erste Hilfe, bis der Krankenwagen kam.

Die Zwölfjährige hat genaue Erinnerungen an das Mädchen. "Es hatte Angst, es wusste nicht, was mit seiner Mutter passiert ist."

Später wird es zur traurigen Gewissheit: Die Mutter des Mädchens hat den Messerangriff nicht überlebt. Sie ist eine der drei Frauen, die an den Folgen der Verletzungen starben, die ihnen mutmaßlich der angeklagte Abdirahman J. zugefügt hatte.

Flora erzählt, dass sie in den Nächten danach nicht gut einschlafen konnte. "Ich hatte große Angst, dass meine Eltern sterben."

Über den Sommer sei für die Zwölfjährige alles erst einmal erträglich gewesen. Im Winter seien die Probleme dann erneut aufgeflammt und so stark geworden, dass sie Hilfe gesucht habe.

Durch die Behandlung mit EMDR ("Eye Movement Desensitization and Reprocessing") seien ihre Einschlafprobleme "immer besser" geworden, sagt Psychotherapeutin Marion Schowalter. EMDR ist eine wissenschaftliche anerkannte Methode, bei der das Gehirn das Trauma über Augenbewegungen verarbeitet.

Mittlerweile kann Flora wieder darüber reden, ohne Angst. Sie deutet im Raum auf die Stableuchte, die bei EMDR für die Lichtsignale verwendet wird - und lächelt. Ihr Geburtstag im November sei der Auslöser gewesen, dass der Schrecken wiederkam. An diesem Tag habe sie sehr an das Mädchen gedacht, das seine Mutter verloren hat. "Ich habe ihr einen Brief geschrieben, aber ich habe noch keine Antwort bekommen", sagt Flora. Sie will warten.

Der Notarzt: Als Ersthelfer hatte er plötzlich ein schockierendes Bild vor Augen

Notarzt Dr. Gerhard Schwarzmann:  Er war auf dem Nachhauseweg und als Ersthelfer beim Messerangriff in Würzburg dabei.
Foto: Margot Rössler, UKW | Notarzt Dr. Gerhard Schwarzmann:  Er war auf dem Nachhauseweg und als Ersthelfer beim Messerangriff in Würzburg dabei.

Dr. Gerhard Schwarzmann arbeitet an der Uniklinik Würzburg, als Referent des Ärztlichen Direktors.  Er ist Notarzt und seit 40 Jahren im Rettungsdienst tätig. Die Situation, in die der 60-Jährige am 25. Juni 2021 auf dem Nachhauseweg mit der Straßenbahn hineingeriet, wird zu einer Zäsur in seinem Leben.

Die Straßenbahn habe in der Kaiserstraße mehrmals die Fahrt unterbrochen, berichtet Schwarzmann. "Dann sah ich zwei Personen am Boden, eine verletzte Frau, einen Mann über ihr und das Blut. Ich habe den Verbandkasten genommen und den Fahrer gebeten sofort anzuhalten."

Der Mann am Boden sagte zu ihm, er sei selbst Notarzt und habe die Blutung im Griff. "Ich solle lieber schauen, ob es noch woanders Verletzte gibt." Im Kaufhaus Woolworth sah Schwarzmann drei Menschen am Boden liegen. "Die erste Person war tot, die zweite hat noch auf Ansprache reagiert, konnte sich aber nicht mehr bewegen, die dritte Person war ebenfalls tot." Er bat Umstehende nachzusehen, ob es noch weitere Verletzte gibt: im Treppenhaus, in der Umkleide, auf der Toilette.

Sein Zeitgefühl sei gedehnt, sagt Schwarzmann: "In meiner Erinnerung kommt mir das alles ewig vor, viel länger." Eine weitere tote Person wird gefunden, Schwarzmann wählt die 110 und setzt einen Notruf ab. Später macht er noch mit der Polizei die Leichenschauen. Noch später am Abend wird er als Zeuge vernommen. Die Nacht verbringt der Mediziner unruhig in einer Art Wachschlaf.

"Es war für mich eine völlig andere Situation als sonst", sagt Schwarzmann. Wird der Notarzt zu Einsätzen gerufen, kann er sich nach dem Alarm gedanklich vorbereiten, seine persönliche Schutzausrüstung anziehen. Und er hat ein Team an seiner Seite, einen strukturellen Ablauf. Nicht so an diesem Freitagnachmittag.

Gerhard Schwarzmann reagiert professionell und schnell. Aber er hat ein Schockerlebnis. "Ich sah meine Töchter für ein paar Sekunden an Stelle der drei Frauen am Boden liegen. Das hatte ich noch nie bei einem Einsatz."

Das sei auch der Grund gewesen, warum er kurz nach dem schrecklichen Ereignis einen Psychiater angerufen habe: "Ich wollte das Bild aus dem Kopf bekommen." Weil sie sich kannten, empfahl der Psychiater ihm gleich, sich anderswo Hilfe zu holen. "Das habe ich dann erst mal verdrängt", sagt Schwarzmann. Er entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung und merkt gegen Jahresende: "Ich bin immer wieder im Einsatz drin, so kann es nicht weitergehen."

Schließlich vereinbart der Notarzt einen Termin mit Marion Schowalter. Seine Botschaft an alle Zeugen, die noch keine Hilfe in Anspruch genommen haben: "Nehmt das Therapieangebot wahr und wartet vor allem nicht noch länger damit. Das erschwert sonst bloß die Aufarbeitung."

Der Augenzeuge: Er hatte Panikattacken und das Schuldgefühl, geflohen zu sein

Er wirkt wie einer, den so schnell nichts umwirft. Aber er scheint aufgeregt und nervös im Gespräch, streicht sich oft über das Gesicht. Fast atemlos beginnt der Mann, der anonym bleiben möchte, zu erzählen. Dass er die Kaiserstraße entlanggelaufen sei, telefoniert habe und dann den Mann mit dem Messer sah "wie er vom Woolworth zum Barbarossaplatz gerannt ist". Dort habe der Mann einem Jungen vier Mal in den Nacken gestochen. "Der hat gar nicht mitbekommen, saß auf der Bank und hat auf sein Handy geschaut." Viele Menschen hätten geschrien und seien in die Straßenbahn geflüchtet.

Alles sei schnell gegangen, erinnert sich der Augenzeuge. Der Mann mit dem Messer sei dann vor der Sparkasse stehen geblieben. "Er hat sich umgeschaut, in unsere Richtung geblickt und wollte zielstrebig zu uns rüberkommen." Er selbst habe einen Gegenstand gesucht, mit dem er sich hätte wehren können. Als er nichts fand, "bin ich losgerannt in Richtung Innenstadt".

Er registrierte Frauen mit Kinderwagen auf der Juliuspromenade und schrie ihnen zu: "Haut ab! Haut ab!" Er lief planlos durch Würzburg, begegnete zwei Sanitätern, die am Markt Pause machten. Er habe sie angeschrien, dass sie zum Barbarossaplatz gehen sollen. "Hinterher dachte ich mir: Du haust ab und sagst anderen, sie sollen hingehen." Am nächsten Tag rief er bei der Polizei an, um seine Aussage zu machen: "Ich wollte aber auch unbedingt mit jemanden reden."

Er kämpft mit Schuldgefühlen. "Ich wollte eigentlich zurückkehren, wollte helfen, war aber total überfordert." Und er hat Panikattacken. Die erste eine Woche nach der Tat während einer Fahrt auf der Autobahn. Die Polizei, die sich in den Tagen nach dem Ereignis öfter bei ihm meldet, vermittelt  einen Termin mit Simone Schneider. "Das war meine Rettung", sagt der Augenzeuge heute.

Er habe die EMDR-Methode und ihre Zusammenhänge zwar nicht ganz verstanden -"aber es hat sofort etwas gebracht, es fiel mir danach schwerer, mich an die Bilder zu erinnern". Zwar habe er immer noch Panikattacken und "Angst vor der Angst" in Situationen, die er nicht überblicken könne. Und er sei vorsichtiger geworden, laufe aufmerksamer durch die Stadt und vermeide noch heute Menschenansammlungen, schildert der Augenzeuge. Aber er könne jetzt besser damit umgehen. "Es passt."

Hilfe für Betroffene des Messerangriffs

Hilfe finden Betroffene in der Trauma-Ambulanz im Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) der Universität und des Uniklinikums Würzburg, Klinikstraße 3, Tel. (0931) 31-80917 (wochentags, 9 bis 12 Uhr). E-Mail: psychotherapie@uni-wuerzburg.de
Info und Hilfe gibt es auch in der Praxis von Dr. Marion Schowalter: Dominikanerplatz 4, in  Würzburg, Tel. (0157) 529 53 894. Per E-Mail: info@drschowalter.de
cj
 
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  • M. S.
    Vielerorts bleiben bei Gewalttaten, selbst wenn diese weniger "schlimm" sind, unbeteiligte Opfer zurück die ebenso traumatisiert sind! In diesem prominenten Fall scheint man sich um sie zu kümmern. Ob das überall mit dem gleichen Maß geschieht wenn der Fall nicht so prominent ist wage ich zu bezweifeln.Vor allem dann nicht wenn Opfer die ähnliches erlebt haben sich nicht von sich aus melden weil sie es seelisch nicht schaffen oder aktiv keine Hilfe erfahren. Die inhaftieren Schuldigen können sich allerdings gewiss sein, dass man sich ihrer therapeutisch annimmt (was zweifelsohne auch gut ist).
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  • A. H.
    Ich hoffe, dass dieser Somalier - aufgrund seines Tates - die für alle Furchtbar sind und langwierige Folgen mit sich haben, dass er abgeschoben wird. Es kann nicht sein, dass das Gericht ihn milde bestrafen wird. 3 Menschen sind gestorben, viele verletzt und sehr viele haben Traumas.
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  • H. S.
    @sanduhr...was empfinden Menschen wenn sie an diesen Täter denken? Was wäre die gerechte Strafe für solche Taten?
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